Verbrannte Erde

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»Ja … und nein. Schau, die Crew des Aufklärungshubschraubers hat vor fünf Minuten das Brandgebiet auf dieser Karte rot eingezeichnet. Danach liegt unser Haus haargenau auf der roten Linie, es könnte theoretisch also mit abgebrannt sein. Genaueres konnten wir leider nicht herausfinden, weil diese Straße mit als erstes evakuiert wurde und seither niemand mehr vor Ort gewesen ist. Außerdem ist das Feuer bislang nicht unter Kontrolle, wird sich voraussichtlich noch ausbreiten. Glücklicherweise sind für heute Nacht Gewitter mit starken Regengüssen vorhergesagt und die könnten bei der Brandbekämpfung helfen. Hoffen wir also das Beste.«

»Immer optimistisch bleiben, ja? Ihr beide fahrt jetzt bitte zur Wohnung, während ich hier weiter die Stellung halte. Ruht euch aus, bedient euch nach Belieben am Kühlschrank. Sobald ich was Neues erfahre, rufe ich euch auf meiner eigenen FestnetzNummer an. Ihr könnt also ruhig ans Telefon gehen.

Und Bernd, du darfst mich gerne heute Nacht hier ablösen. Remmler hatte eh schon angeregt, dich aus dem Urlaub zurückzupfeifen«, meinte Marit gähnend.

»Als ob ihr nicht gewusst hättet, dass ich mit neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit ohnehin im Revier aufkreuzen werde«, brummte der Kommissar augenrollend.

»Genau das habe ich dem Alten prophezeit. Sogar mit denselben Worten«, grinste die junge Polizistin verschmitzt.

Julia spürte einen weiteren schmerzhaften Stich der Eifersucht in ihrer Herzgegend. Die harmonische Übereinstimmung in der geistigen Wellenlänge dieser beiden fand sie schlicht und einfach zum Kotzen.

In Marits Wohnung angekommen, nahm der Kater sogleich sein neues Revier in Augenschein. Julia klappte die Couch aus, verstaute die Koffer im Flur und brachte Waschzeug ins winzige Badezimmer.

Bernd saß derweil auf einem Stuhl und stierte mit leerem Blick vor sich hin. Nach wenigen Minuten erhob er sich abrupt.

»Ich weiß nicht, wie es dir damit geht, aber ich kann jetzt keinesfalls tatenlos rumsitzen und entspannen. Mach’s dir bequem mit Felix, ich fahre jedenfalls zurück ins Revierkommissariat.«

Julia seufzte resigniert.

»Dann iss wenigstens was, bevor du gehst.« Er drückte ihr einen eiligen Kuss auf.

»Ich nehme mir an der Döner-Bude was mit, ich werde schon nicht verhungern.«

Und schon war er aus der Tür. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass sie heute Nacht alleine hier übernachten durfte.

Die innere Unruhe ließ sie nicht stillsitzen. Schließlich griff sie nach der Fernbedienung und schaltete auf Marits Fernseher den gewohnten Nachrichtensender ein.

Rote Breaking News Schlagzeilen zogen sich am unteren Bildrand entlang. Es lief gerade ein News Spezial zum Harz-Inferno, wie sich die Brandkatastrophe inzwischen wohl offiziell nannte. Atemlos starrte Julia auf den Bildschirm, sah, wie sich grell lodernde Flammenwalzen über das bergige Gelände schoben, wie Feuerwehrleute bis zur totalen Erschöpfung dagegen ankämpften, hektisch Feuerschneisen schlugen und Glutnester bekämpften. Starker Wind ließ die Flammen rasant von Baum zu Baum überspringen. Der Brand schien außer Kontrolle zu sein.

An den ortsnahen Waldrändern schickten sich etliche Bauern an, mit wassergefüllten Güllewagen bei den Löschbemühungen zu helfen, um wenigstens ihre Kornfelder und Höfe zu retten. Die teils verwackelten Live-Videos stammten offensichtlich von Handykameras, sie wurden in Endlosschleifen gezeigt und fortlaufend neu kommentiert.

Nach einer Viertelstunde hilflosen Gaffens drückte Julia den Ausschalter des Fernsehers. Sie konnte einfach nicht mehr.

*

Juli 2018, Wernigerode

Stundenlang hatte Julia kein Auge zugetan, obwohl sie fix und fertig gewesen war. Eine nervenzerreißende Mischung aus Eifersucht, Sorge um das Wohnhaus und Ärger wegen des versauten Urlaubs zeichnete hierfür verantwortlich. Irgendwann war orkanartiger Wind aufgekommen und sie hatte in ihrem unruhigen Halbschlaf befürchtet, dass er die Feuersbrunst noch weiter anfachen und womöglich in Richtung von Wernigerode treiben könnte. Es blitzte und grollte zwar unablässig am Horizont, aber es schien sich nur um ein Wolkengewitter zu handeln. Regenfälle blieben vorläufig aus. Die Luft war mitten in der Nacht noch unerträglich schwülwarm.

Bei Marit Schmidbauers Ein-Zimmer-Apartment handelte es sich um eine Dachwohnung. Dementsprechend fielen die Temperaturen aus. Das Wandthermometer neben dem Küchentisch zeigte schweißtreibende neunundzwanzig Grad an. Durchlüften war leider unmöglich, die Dachgauben gingen allesamt zur selben Seite hinaus und die Fenster ließen sich nicht kippen.

Julia verdampfte, jedenfalls gefühlt, unter dem Baumwollbettlaken, das sie wie eine hauchdünne Decke benutzte. Dass Kater Felix schnurrend auf ihrem Unterleib lag, machte die Sache kein bisschen besser.

So gegen sieben Uhr erwachte die Polizistengattin desorientiert, stellte verblüfft fest, dass sie irgendwann offenbar doch eingeschlafen sein musste. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Felix saß auf der Fensterbank einer Dachgaube und versuchte eifrig, die außen an der Scheibe herunterlaufenden Tropfen mit seinen Vorderpfoten einzufangen.

An regnerischen Tagen war dies auch zu Hause seine erklärte Lieblingsbeschäftigung, schon weil der pelzige Geselle äußerst wasserscheu war und nicht einmal unter Gewaltanwendung zu bewegen gewesen wäre, nach draußen zu gehen.

Endlich ließ das müde, von der Hitze weichgekochte Gehirn etwas immens Wichtiges in Julias Bewusstsein durchsickern.

Regen! Ich muss im Revier anrufen und fragen, ob der Brand gelöscht ist! Sie kramte in der Handtasche, stellte jedoch schnell fest, dass sie ihr Mobiltelefon vergessen hatte, vermutlich im Wagen. Im selben Moment sperrte jemand die Wohnungstür auf. Sie fuhr sich hektisch mit einer Hand durch die verschwitzten Haare und steuerte den Flur an. Erst im Vorübergehen gewahrte sie, dass Marit einen riesigen Standventilator besaß. Das Gerät hatte die ganze Zeit über in einer Ecke gestanden und auf seinen Einsatz gewartet. Sie musste es in ihrem Frust übersehen haben. Bernd betrat die Wohnung, er wirkte geradezu euphorisch.

»Ich bringe gute Nachrichten, auch wenn es für Entwarnung noch viel zu früh wäre. Der Waldbrand ist mancherorts eingedämmt. An etlichen Stellen brennt es allerdings weiter. Die Feuerwehr meint aber, dass die ausgiebigen Regenfälle ein Wiederaufflammen der bereits gelöschten Stellen verhindern, weil Wasser die Hitze im Boden eindämmt und unterirdische Glutnester eliminiert. So weit, so gut.

Trotzdem der Hammer, was für eine ausgedehnte Fläche den Flammen zum Opfer gefallen ist, und dies innerhalb einer derart kurzen Zeitspanne! Man geht in Feuerwehrkreisen nach vorläufigen Erkenntnissen davon aus, dass es sich höchstwahrscheinlich um Brandstiftung gehandelt hat. Dieses Phänomen ist nämlich nur zu erklären, wenn an mehreren Stellen gleichzeitig, oder zumindest kurz hintereinander, Feuer gelegt wurde. Ein sachkundiger Brandermittler ist schon vor Ort.«

»Unfassbar, dass in unserer ruhigen Ecke ein Feuerteufel umgehen soll. Und unser Haus?«

»Das steht noch, wir haben unglaubliches Schwein gehabt! Ein Feuerwehrmann, der im Gebiet rund um Elend zur Brandwache abkommandiert ist, hat auf Marits Drängen extra nachgesehen. Er gab vorhin durch, dass der Wind gestern gerade noch rechtzeitig auf Nordwest gedreht haben muss. Die Flammenwand ist zirka bis auf hundertfünfzig, zweihundert Meter ans Wohnhaus herangerückt, inzwischen in diesem Bereich jedoch vollständig gelöscht.

Schon möglich, dass die brachiale Hitzeeinwirkung auf unserem Grundstück dennoch so einiges in Mitleidenschaft gezogen hat, aber wir müssen künftig wenigstens auf keiner Brandruine leben«, grinste Bernd schwarzhumorig.

»Hurra! Das hatte ich kaum mehr zu hoffen gewagt.«

Ihr kamen vor Erleichterung unwillkürlich Tränen. Erst jetzt bemerkte sie seine dunklen Augenringe. Die vergangene Nacht musste ihm einiges an Kraft abverlangt haben. Und sie grämte sich hier, nur wegen ein bisschen Schweiß und ein paar Stunden Schlafdefizit. Auf einmal fühlte sie sich irgendwie schuldig.

»Mensch, ist das eine Bruthitze hier drin! Wieso hast du denn die Fenster nicht aufgemacht?«, wunderte sich Bernd und holte das Versäumte nach. Frische, feuchte Luft strömte ins Zimmer. Der charakteristische Geruch nach Regenwasser, das auf heißem Asphalt verdampft, erfüllte den Raum.

Die wochenlange Hitzewelle im Harz war scheinbar vorüber.

»Weil … ach, das ist jetzt auch schon egal. Wann kommt denn Marit, wird sie im Revier bald abgelöst?«

»Die besorgt uns gerade beim Bäcker frische Brötchen, müsste jeden Moment eintreffen. Und sie besteht darauf, dass wir unsere Flitterwochen heute Abend planmäßig antreten.«

In Julia keimte ein kleines Fitzelchen Hoffnung auf. Sie wusste aus leidvoller Erfahrung, wie suggestiv Bernds Lieblingskollegin sein konnte. In diesem Fall wäre das allerdings sogar hilfreich.

»Dann schlage ich vor, dass wir deine Kollegin nicht verärgern und der Aufforderung besser Folge leisten. Vorher sollten wir aber noch mal schnell daheim nach dem Rechten sehen und die Gartenmöbel in den Schuppen räumen. Wir haben ja alles liegen und stehen lassen«, schlug Julia vor.

»Das geht leider nicht. Die Brandwache dauert drei Tage. Das ist anscheinend eine strikte Vorschrift bei der Feuerwehr, Regenguss hin oder her. Solange darf leider keiner der Bewohner in sein angestammtes Zuhause zurückkehren. Die Straße bleibt einstweilen abgesperrt, nicht zuletzt wegen möglicher Plünderer. Marit hat mir versprochen nach dem Rechten zu sehen, sobald es wieder möglich ist. Sie wird deine heißgeliebten Gartensachen schon in den Schuppen räumen, wenn du sie darum bittest. Was man mit Geld kaufen kann, ist ohnehin ersetzbar.«

 

»Apropos … sind alle anderen Bewohner ebenfalls rechtzeitig weggekommen, gab es Tote oder Verletzte?«

»Das ist noch nicht sicher. Vor bösen Überraschungen ist man bei Waldbränden eines solchen Ausmaßes leider nie gefeit. Verletzte gab es zwar zu beklagen, aber weit überwiegend handelt es sich dabei um mehr oder minder ausgeprägte Rauchvergiftungen. Die kann man relativ schnell behandeln.

Vermisst wird, bislang jedenfalls, offenbar niemand. Am oberen Ende des Elendstals, an den bis auf die Grundmauern niedergebrannten Brockenstieg-Apartments, wurden Touristen und Personal rechtzeitig über Schierke in Sicherheit gebracht.

Hoffen wir also, dass es bei diesen Infos bleibt, und, dass die letzten Brandnester schnell in den Griff zu kriegen sind. Falls es den mutmaßlichen Brandstifter wirklich gibt, besteht zumindest die abstrakte Gefahr, dass dieser gewissenlose Widerling weiterzündelt. Das käme ganz darauf an, ob er sein anvisiertes Ziel bis dato schon erreichen hat können. Man weiß schließlich nie, was in den kranken Gehirnen solcher Unholde vorgeht. Aber denken wir vorerst positiv, betrachten wir die Katastrophe als nahezu überstanden. Für uns persönlich ist sie es jedenfalls.«

»Dann ist das Naturschutzgebiet, abgesehen von den begrenzten Schäden an Teilen des Baumbestandes, vermutlich nochmal mit einem dunkelblauen Auge davongekommen, wenn auch die schwarzen Brandnarben im Wald noch lange zu sehen sein werden«, meinte Julia erleichtert.

»Jein. Während die Brände an den Waldrändern im Griff sind, lodern die Flammen an den schlechter zugänglichen Berghängen weiter. Es wird bestimmt noch einige Tage dauern, bis die Feuerwehren an sämtliche Brandherde vorgedrungen sind«, dämpfte Bernd ihren Optimismus.

Marit schaffte es zu Julias Freude tatsächlich beim gemeinsamen Frühstück, ihren sturen Chef zum Urlaubsantritt zu bewegen.

»Sehr gut, dass du dein Smartphone daheim hast liegenlassen, Bernd. So kannst du uns wenigstens nicht dauernd mit dienstlichen Fragen auf den Wecker gehen, stattdessen deine Frau und den Urlaub genießen. Der verrückte Polizeialltag wird dich noch früh genug wieder einholen, verlass dich drauf.

Ich kümmere mich derweil zuverlässig um alles Notwendige, versprochen. Euer Tiger scheint bereits dabei zu sein, sich einzugewöhnen. Der kann gerne bis zum Schluss hier in der Wohnung bleiben. Und sollte ich eines Tages wegfliegen wollen, passt im Gegenzug dann ihr auf meine Bude auf«, verfügte die junge Beamtin selbstbewusst.

Julias grüne Augen strahlten, jegliche Erschöpfung schien auf wundersame Weise von ihr abgefallen zu sein. Bernd wiederum gab sich murrend geschlagen. Wie hätte er gegen zwei selbstbewusste Amazonen ankommen sollen? Dazu fühlte er sich viel zu geschlaucht.

*

Rund zweieinhalb Stunden vor Abflug der ausgebuchten Ryan Air Maschine checkten Bernd und Marit ihre Koffer am Terminal des Flughafens Berlin Tegel ein, quälten sich durch die unvermeidliche Sicherheitskontrolle und saßen erwartungsvoll vor dem Gate. Erst jetzt fiel die Anspannung ein wenig ab; müde aber glücklich, sahen sich die Flitterwöchner in die Augen.

»Ich bin dermaßen erledigt … ich glaube, den Start werde ich gar nicht mehr in wachem Zustand mitbekommen«, prophezeite Bernd, gähnend wie ein Höhlenbär vor dem Winterschlaf.

Er sollte Recht behalten. Was immer die engagierten Flugbegleiterinnen der irischen Billigairline an Bordverkäufen durchzogen, es ging völlig an den Maders in der dritten Sitzreihe vorbei. Erst während des Landeanflugs kamen beide allmählich wieder zu sich, weil das Flugzeug in den Turbulenzen über einem kahlen Gebirgszug ein bisschen ruckelte.

Julia sah neugierig aus dem kleinen Fenster zu ihrer Rechten. Sie flog zum ersten Mal nach Spanien, hatte ihre Urlaube vorher ausschließlich in der Türkei und in Kroatien verbracht, bevor sie Bernd kennengelernt hatte.

»Man könnte beinahe annehmen, da unten hätte ebenfalls ein Waldbrand gewütet. Spärlicher Bewuchs auf den Hügeln, kaum bebaute Felder … die Landschaft wirkt so … gelblich. Sieh mal, diese riesigen türkisfarbenen Wasserspeicher. Dies ist scheinbar eine extrem trockene Gegend hier«, murmelte sie schlaftrunken.

»Hm«, brummte ihr Gatte. Zu mehr war er noch nicht fähig.

Ein paar Minuten später setzte die Boeing 737-800 überpünktlich am Flughafen Alicante-Elche auf. Einige der älteren Passagiere klatschten höflich, während die Maschine auf ihre Parkposition am Terminal zurollte und die Fanfare der Airline ertönte.

Die Abendsonne schickte sich gerade an, mit einem leuchtenden Farbenspiel in Rosa, Gelb und Orange hinter dem Horizont zu versinken. Was für eine verschwenderische Pracht.

Julia Mader beobachtete das Naturschauspiel fasziniert, freute sich erwartungsvoll auf ein paar unbeschwerte Tage am Mittelmeer. Voller Optimismus betrat sie die Gangway.

*

09. Juli 2018, Revierkommissariat Wernigerode

Der Großbrand im Harz war seit dem Mordfall Waldlichtung das erste Ereignis gewesen, welches dazu geeignet war, das Revierkommissariat Wernigerode in den Ausnahmezustand zu versetzen. Bis dahin war der Dienst gemächlich vonstattengegangen, fast so etwas wie Langeweile aufgekommen. Einige Ladendiebstähle, gelegentliche Anrufe wegen Ruhestörung oder häuslicher Gewalt, ein paar Körperverletzungsdelikte, jugendliche Kiffer, Trunkenheitsfahrten – das übliche Alltagsgeschäft eben, womit man sich bei der Polizei ständig zu plagen hatte.

Revierleiter Remmlers geplanter Weggang im November war schon eher dazu prädestiniert, die Gemüter zu erhitzen. Anstatt erst 2019 von der Bildfläche zu verschwinden, so wie es angekündigt gewesen war, hatte er Knall auf Fall beschlossen, seinen Dienst ein ganzes Jahr früher zu quittieren. Mit der Begründung, dass er den Rest seines Lebens zukünftig ohne Mord und Totschlag genießen wolle. Dafür nähme er einige Einbußen bei der Beamtenpension gern in Kauf, hatte er behauptet. Ein seltsames Statement, das ihm gar nicht ähnlich sah. Charaktertypen wie er klebten gemeinhin an ihren exponierten Posten.

Seine Ankündigung war sehr überraschend gekommen, selbst für seine Sekretärin Christa, aber böse war ihm niemand gewesen. Bis die Belegschaft feststellen musste, dass er es vor seiner anstehenden Pensionierung noch einmal richtig krachen lassen wollte, vermutlich um sich abschließend ein Denkmal zu setzen. Mit blindem Aktionismus und überheblicher Besserwisserei ging er den Kollegen und Kolleginnen mächtig auf die Nerven, und zwar schlimmer als jemals zuvor.

Sein Nachfolger aus dem Revier Naumburg stand schon parat, kam mehrere Stunden pro Woche vorbei, um sich langsam einzuarbeiten. Schließlich musste er, neben örtlichen Gegebenheiten, die Strukturen und Mitarbeiter seiner neuen Wirkungsstätte kennenlernen, um von der ersten Sekunde an voll einsteigen zu können. Ein sympathischer Typ, dieser Thomas Wolters, wenn auch extrem ehrgeizig. Das war jedenfalls der Eindruck, der bei Marit Schmidbauer hängengeblieben war.

Je mehr sich Remmler zum großen Zampano aufspielte und versuchte, dem Neuen seinen fragwürdigen Führungsstil aufzudrängen, desto intensiver fielen die Bestrebungen seiner Untergebenen aus, ihm tunlichst aus dem Weg zu gehen. Einige hatten Maßbänder in den Schubladen ihrer Schreibtische liegen, an denen sie an jedem überstandenen Tag feierlich einen Zentimeter abschnitten.

Noch waren die Überreste mehr als einen Meter lang.

An diesem Morgen ertappte Marit ihre Kollegin Verena Kant beim Abschneiden. Das gestutzte Maßband verschwand blitzartig in deren Jackentasche.

»Mensch, hast du mich erschreckt! Nicht auszudenken, wenn der Alte ins Zimmer gekommen wäre und mich erwischt hätte. Da wäre ich ganz schön in Erklärungsnöte gekommen«, stöhnte die Beamtin erleichtert.

Marit zuckte grinsend mit den Schultern.

»Der ist doch selber schuld. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück. Mir ist inzwischen scheißegal, wie er über mich denkt. Der Wolters ist aus einem anderen Holz geschnitzt

obwohl auch der seine Macken hat. Aber wahrscheinlich muss man rücksichtslos beide Ellbogen benutzen, wenn man auf der Karriereleiter ganz nach oben klettern will.«

»Das stimmt. Und bedauerlicherweise ist er ein Mann, wenn auch ein ansehnlicher. Man könnte denken, Testosteron verneble die Denkprozesse. Eigentlich sollte keiner von denen aufsteigen dürfen, in welche Führungsposition auch immer. Männer sind für die schlimmsten Erfindungen und Ereignisse der Weltgeschichte verantwortlich, hast du darüber schon einmal nachgedacht? Die römischen Eroberungsfeldzüge, die Erfindung der Atombombe, der Zweite Weltkrieg, Giftgasangriffe in Syrien – und so weiter und so fort. Wann und wo immer du in der Weltgeschichte nachforschst, stets waren Männer für die allergrößten Katastrophen verantwortlich.

Gut, wir Frauen können natürlich auch fies werden, aber auf völlig andere Weise und nicht in diesem desaströsen Ausmaß für ganze Volksgruppen«, philosophierte Verena grimmig.

Marit fand es insgeheim frappierend, dass eine, die mit ihrem kantigen Körperbau und dem Herrenkurzhaarschnitt selber fast wie ein Mann aussah, diskriminierende Sprüche über die Herren der Schöpfung von sich gab. Nicht zum ersten Mal hatte Verena heute dieses Thema angeschnitten. Sie musste wohl schon einige negative Erfahrungen mit dem stärkeren Geschlecht hinter sich haben. Oder es lag daran, dass auch sie zum Opfer von Remmlers ekelhaften Grabsch-Attacken geworden war. Vielleicht hatte sie deswegen die Nase von Männern gestrichen voll.

Noch immer ahnte niemand im Revier, dass Verena Kant eine Lesbe war. Als solche verspürte sie das Bedürfnis, der hübschen Marit ein wenig näher zu kommen, ach was, sehr viel näher. Sie hatte mitgekriegt, dass die schlanke Brünette seit längerer Zeit keinen festen Freund an ihrer Seite hatte und gedachte ein paar Testballons zu starten.

Fürs Erste rückte sie ihr auf die Pelle, indem sie sich neben ihr vor einer monströsen Landkarte an der Wand postierte, die die Harzregion zeigte. Mithilfe von Stecknadeln und roten Wollfäden war ein Gebiet eingegrenzt. Es handelte sich um die abgebrannte Fläche. Sie reichte von der Ortschaft Torfhaus, gelegen im Vogelschutzgebiet und westlich der Landesgrenze zu Niedersachsen, bis zur Straße L 100 im Osten, wo es den Feuerwehren zumindest im nördlichen Teil gelungen war, eine Feuerschneise zu schlagen und die Flammen zurückzudrängen.

Bedauerlicherweise hatte es das idyllisch gelegene Hotel Der Kräuterhof noch mit erwischt, es war dem Feuer zum Opfer gefallen. Die Brockenstieg-Apartments waren Geschichte, genauso wie der bei Touristen wie Einheimischen beliebte Campingplatz am Schierker Stern. Wie durch ein Wunder waren die Ortschaften Elend und Schierke knapp verschont geblieben.

»Ist das jetzt der endgültige Stand?«

»Ja. Ein riesengroßes Waldstück, nicht wahr? Keine Ahnung, wie viele Hektar es sind. Ich könnte heulen, wenn ich das sehe. Noch jetzt hängt eine graue Rauchglocke über Wernigerode, es stinkt zum Himmel. Ich bin wirklich gespannt, was der Brandermittler herausfindet.«

Verena rückte, wie zufällig, auf Tuchfühlung heran und zeigte gezielt auf einen Punkt in der Karte.

»Sieh mal einer an, die kleine Waldlichtung hinter dem Schierker Bahnhof, auf der letztes Jahr Rüdiger Müller ermordet wurde, ist mit abgefackelt. Weiß man mittlerweile eigentlich schon, ob bei dem Brand die Gleisanlagen der Brockenbahn in Mitleidenschaft gezogen wurden? Vorhin hat mich eine aufgebrachte Anruferin danach gefragt.«

Marit trat einen halben Schritt zur Seite. Zu viel Nähe war ihr unangenehm, egal ob sie nun von Männlein oder Weiblein hergestellt wurde. Sie brauchte ihren Dunstkreis für sich alleine.

»Nein, das muss zuerst alles sorgfältig durchgecheckt werden. Der Bahnbetrieb dieses Streckenabschnitts bleibt bis auf weiteres eingestellt. Die Harzer Schmalspurbahnen gehen kein Risiko ein. Das Brockenplateau ist am Freitag sowieso prophylaktisch mit evakuiert worden, damit niemand vom Feuer eingeschlossen wird. Wer, außer ein paar gestörten Katastrophentouristen vielleicht, sollte momentan schon freiwillig da hochfahren wollen«, merkte sie sarkastisch an.

»Auch wieder wahr«, nickte die Kant. »Wobei man genau hieraus wahrscheinlich richtig viel Profit generieren könnte. Mancherorts ist Ähnliches zum Geschäftsmodell geworden. Hast du gewusst, dass auf dem Gelände des havarierten Atomreaktors in Tschernobyl inzwischen Führungen stattfinden? Die Touris aus aller Welt rennen dort mit Geigerzählern herum und freuen sich über jeden Ausschlag der Nadel. Meines Erachtens könnte man diese Idioten hinterher geschlossen in die Psychiatrie einweisen, es würde bestimmt keinen Verkehrten treffen.«

 

»Wohl wahr, geistig normal können solche Leute kaum sein. Aber zurück zu unserer heimischen Feuersbrunst. Wie du mitbekommen hast, besteht der dringende Verdacht auf Brandstiftung. Ein einziger Brandherd hätte eine so schnelle Verbreitung der Flammen nie zugelassen, so viel steht schon zum jetzigen Zeitpunkt fest. Es sieht also eher nach einer konzertierten Aktion von einem oder mehreren Feuerteufeln aus.

Sämtliche niedergebrannten Gebiete werden in den nächsten Tagen so gründlich wie möglich nach eventuellen Brandopfern durchforstet. Sollten sich hierbei Tote finden und sich der Verdacht der Feuerwehren somit bestätigen, müsste man von Mord, mindestens jedoch von fahrlässiger Tötung ausgehen. Der oder die Brandstifter hätten ja zumindest billigend in Kauf genommen, dass aufgrund dieser Aktion irgendwer zu Tode kommen könnte. Und damit hätten wir, die Mordkommission, wieder mal den Schwarzen Peter in Händen und müssten gegen Unbekannt ermitteln.

Ganz ehrlich, Verena … ich hoffe, dass sich doch noch eine andere Brandursache findet und keine Opfer zu beklagen sind. Der Bürgermeister ist schon jetzt auf hundertachtzig, weil er um seinen heiligen Tourismus fürchtet. Schwarze Baumgerippe sind nun mal kein schöner Anblick. Ich möchte nicht wissen, was los wäre, wenn die letzten verbleibenden Touris noch mit der Angst vor einem unheimlichen Brandstifter leben müssten. Die örtliche Hotellerie stünde wohl bald vor dem Aus. Ich würde jedenfalls sofort stornieren, wenn mir sowas über meinen Urlaubsort bekannt werden würde.«

»Ich ebenfalls«, bestätigte Verena.

Ein bisschen enttäuscht, schlurfte sie davon. Heteros hatten es ja so viel leichter beim Anbaggern. Als Lesbe konnte man nicht einfach zu einer x-beliebigen Frau marschieren und dieser offen Avancen machen. Man musste erst sorgfältig abklopfen, wie es um deren sexuelle Ausrichtung bestellt war, sonst blamierte man sich bis auf die Knochen. In Marits Fall war sie sich diesbezüglich immer noch nicht sicher.

Im dienstlichen Umfeld, wo Techtelmechtel ohnehin kritisch gesehen wurden, wäre ein Irrtum besonders pikant. Sie musste sich weiterhin zusammenreißen.

*

13. Juli 2018, im Waldgebiet

Im Morgengrauen war Förster Hubert Strunz aufgebrochen, um einer höchst unangenehmen Pflicht nachzukommen. Ihm und seinen drei Gehilfen fiel die Aufgabe zu, im gesamten Brandgebiet eine grobe Bestandsaufnahme zu machen. Die Verwaltung des Nationalparks hatte ihm junge Ranger zur Seite gestellt. Es galt herauszufinden, wie schlimm die Schäden ausfielen, wieviel Wald vernichtet wurde und ob es außer Rehen, Eichhörnchen, Wildschweinen und Hasen weitere Opfer zu beklagen gab.

Sie hatten die zu begehende Fläche in vier Bereiche aufgeteilt, wobei ihm der Größte zufiel. Er hängte sich seine Spiegelreflexkamera um, damit er die dokumentierte Schadensbilanz hinterher mit Bildern untermauern könnte, nahm seinen Beagle an die Leine und trat am Obersten Hangweg, wo er den dunkelgrünen Jeep abgestellt hatte, in den milchigen Morgendunst.

Oh Mann … ich wollte, ich wäre für sowas nicht zuständig.

Der Brandgeruch war immer noch präsent. Ihm graute bei der Vorstellung, dass er bis zum Abend etliche Kilometer zurückzulegen hatte. Strunz liebte den Wald über alles. Ihm kamen angesichts der allgegenwärtigen Zerstörungen die Tränen, kaum dass er aus seinem Fahrzeug gestiegen war.

Verschwunden war das saftige Grün und mit ihm die würzigmoosige Waldluft, die er normalerweise so sehr schätzte.

Düstere Gedanken bemächtigten sich seines Gemüts.

Leider war dies nicht das erste Mal, dass er in seinem Waldgebiet mit einem solchen Desaster konfrontiert war. Etwas weiter westlich, zwischen den Ortschaften Elend und Braunlage, waren im April 2011 durch ein Feuer um die zweieinhalb Hektar Waldund Wiesenflächen vernichtet worden. Genauso wie dieses Mal hatte es den Einsatzkräften an Löschwasser gemangelt.

Natürlich, die Natur würde sich mit der Zeit wieder erholen. Allerdings war alleine schon wegen der weltweiten Klimaerwärmung davon auszugehen, dass derartige Ereignisse künftig häufiger auftraten, selbst ohne jegliche Fremdeinwirkung. Vermutlich wären die herrlichen Wälder Nordeuropas wegen der anhaltenden Trockenperioden bald in ihrer Gesamtheit bedroht.

Er marschierte ein Stück den Weg entlang, bis er in Höhe des Wormsgrabens ein Stück querfeldein lief und auf einen anderen Forstweg traf. Diesem folgte er anschließend in westlicher Richtung. Sein betagter Hund Henry ging heute ordentlich bei Fuß, anstatt – wie sonst immer – ungeduldig an der Leine zu zerren. Die totale Veränderung seiner gewohnten Umgebung war wohl auch ihm unheimlich.

Immer wieder blieb Strunz seufzend stehen, fotografierte und fragte sich, wie weit es noch bis zum Steinbruch am Knaupsholz sein mochte. Ihm fehlten wohlbekannte Landmarken zur Orientierung. Die schöne, völlig gleichmäßig gewachsene Tanne am Wegrand, die verwitterte Holzbank neben dem Weg, auf deren Lehne Liebespaare Schwüre und Herzchen eingeritzt hatten … all dies und noch viel mehr war ein Raub der gefräßigen Flammen geworden.

Verbrannte Erde, soweit man schauen konnte.

Er hätte das gewissenlose Arschloch, das für den verheerenden Waldbrand verantwortlich war, zweifellos mit eigenen Händen – und ohne Skrupel – erwürgen können. Unter den Feuerwehren herrschte Einigkeit, dass es sich bei der Ursache nur um fortgesetzte Brandstiftung handeln konnte.

Vom Knaupsholz aus gehe ich dann im Zickzack Richtung Norden bis zur Stempelstelle 17 der ›Harzer Wandernadel‹, dem Trudenstein und von dort aus steige ich zum Hohnekopf hinauf. Wird ganz schön anstrengend werden. Mal sehen, wie viel ich heute noch schaffe, die Landschaft ist hier ziemlich steil und unwegsam. Morgen wäre dann wahrscheinlich die Gegend um die Hohneklippen dran, bevor ich mich, kreuz und quer durchs Vogelschutzgebiet, nach Schierke durchschlage.

Und zum Schluss muss ich noch bis zum Auto zurück. Wie sollte ich da jeden Quadratzentimeter nach irgendwelchen Auffälligkeiten absuchen, die sich hernach der werte Brandermittler genauer ansehen kann? Das ist schier unmöglich, eine Sisyphos-Aufgabe, grübelte der Förster entmutigt.

Wie zum Hohn schien nach der Auflösung des Morgennebels die Sommersonne heiß auf geschwärzte Baumskelette, auf graue Aschefelder und verkohlte Tierkadaver. Alle paar Minuten bellte sich Henry schier die Seele aus dem Leib, meldete seinem Herrn ein weiteres gut durchgebratenes Opfer. Man konnte manchmal kaum mehr erkennen, worum es sich einst gehandelt hatte.

Er tätschelte dem aufgeregten Hund beruhigend den Hals.

»Ist ja schon gut, mein Alter, AUS! Wenn du weiterhin wegen jedem toten Hasen anschlägst, bist du heute Abend heiser.«

Die armen Tiere, sie hatten offenbar keinerlei Chance auf Entkommen. Und wie lange wird es wohl dauern, bis hier alles wieder aufgeforstet ist? Der alte Baumbestand ist sowieso nicht ersetzbar, er ist unwiederbringlich verloren, haderte der erklärte Naturliebhaber mit dem Gesehenen. Er empfand es geradezu als obszön, wie exponiert der einstige, seines wunderschönen Kleides aus Heidelbeerkraut, Farnen und Pilzen beraubte Waldboden jetzt seinen Blicken ausgesetzt war. Wo bisher Buche, Eberesche und Fichte wohltuenden Schatten und Kühle gespendet hatten, stand jetzt nichts mehr zwischen ihm und der gleißenden Sonne. Angerußte Felsformationen und tiefschwarze Fichtenzapfen zeugten von einer höllischen Hitze, die dem Wald den Garaus gemacht hatte.