Verbrannte Erde

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Ein Jammerbild, das sich hier seinen entsetzten Augen darbot. Dabei wären schon jene Schäden besorgniserregend genug gewesen, welche Borkenkäfer und saurer Regen in diesem Nationalpark angerichtet hatten. Dazu sorgte seit einigen Jahren das veränderte Klima für Wetterextreme und diese wiederum für halb ausgetrocknete Bäche und einen sinkenden Grundwasserspiegel – oder zwischendurch für das andere Extrem, wie zum Beispiel Orkane und Überschwemmungen. Auch das zählte zu den Negativeffekten, die der Mensch in seiner rücksichtslosen Profitgier zu verantworten hatte.

Wieder schlug Henry an. Dieses Mal hatte er einen verendeten Luchs gefunden. Schade um das scheue, edle Tier, das in dieser Region bereits ausgestorben gewesen war, bis man erste Exemplare nachgezüchtet und gezielt im Nationalpark Harz ausgewildert hatte. Obwohl er tagtäglich im Forst unterwegs war, hatte er bislang erst einen einzigen zu Gesicht bekommen – von diesem gegrillten Exemplar abgesehen. Die Existenz der neu entstandenen Luchspopulation war meistens nur durch kleine GPSSender nachweisbar, die engagierte Tierschützer einigen Exemplaren eingepflanzt hatten, damit sie ihre Wanderungen nachzuvollziehen vermochten.

Die Anzahl an toten Tieren ist erheblich höher als beim letzten Brand. Wahrscheinlich hat die Feuerwehr Recht. Mehrere Brände müssen ringförmig gelegt worden sein, um im Inneren einen wahren Hexenkessel zu erzeugen. Kein Wunder also, dass sie nicht flüchten konnten, weil sie sehr zügig von den Flammen eingekreist waren. Wer weiß, wie das ausgegangen wäre, wenn es in der Nacht zum Samstag nicht wie aus Eimern geschüttet hätte, sinnierte Strunz angewidert.

Wenn er sich nicht sehr täuschte, näherte er sich jetzt endlich dem Knaupsholz. Das Waldstück lag unterhalb einer charakteristischen Geröllhalde, welche zu einem alten Steinbruch gehörte. Auf dieser relativ kahlen Fläche fristeten sogar noch einige intakte Bäumchen ihr trauriges Dasein. Die hatten die Flammen anscheinend schlecht erreichen können, weil jeglicher brennbare Bodenbewuchs fehlte, der das Feuer hätte nähren können. Die Blätter der Bäumchen und Büsche waren wegen der immensen Hitzeeinwirkung allerdings trotzdem versengt, sie hingen schlaff von den Ästen.

Und wieder nervte Henry! Allmählich bedauerte der Förster, dass er den Hund heute mitgenommen hatte, ließ ihn während der Rast kurz von der Leine. Diesmal verbellte er etwas Größeres, genau am Waldessaum des abgebrannten Knaupholzes. Das Tier wollte sich gar nicht mehr beruhigen.

Seufzend machte sich Hubert Strunz auf den Weg, um Henrys Fund in Augenschein zu nehmen. Worum mochte es sich handeln? Um einen kapitalen Hirschbock vielleicht? Ein merkwürdig süßlicher, ekelerregender Geruch stieg ihm in die Nase.

Oh mein Gott … das ist kein Kadaver, sondern die Leiche eines Menschen! Mein schlimmster Albtraum ist wahrgeworden, es hat doch ein Opfer gegeben. Könnte sich um einen Mann handeln, Größe und Brustkorb nach zu schließen.

Es half alles nichts, er musste seinen Ekel überwinden, näher hingehen und den Toten von allen Seiten fotografieren, bevor er die Behörden informierte. Im Anschluss markierte er die GPSDaten des Fundorts und schickte eine Nachricht an die Polizei sowie die Forstverwaltung. Bis hierher reichte zum Glück noch die Netzabdeckung, denn die Schierker Mobilfunkmasten standen nicht allzu weit entfernt.

Abschließend informierte er seine drei Helfer über Funk von seinem grausigen Fund und erfuhr, dass sie ihrerseits, außer den unüblich zahlreichen Tierkadavern, nichts dergleichen entdeckt hatten. Er atmete auf, wenigstens fürs Erste, aber bislang war ja nur ein klitzekleiner Teil der abgebrannten Fläche begangen.

Wer konnte schon wissen, was sie andernorts noch erwartete.

»Komm, Henry, wir gehen weiter. Für diese arme Sau können wir leider nichts mehr tun. Hoffentlich hat der bedauernswerte Kerl nicht allzu lange leiden müssen«, murmelte der Förster und setzte sich in Bewegung. Er wollte sich lieber nicht bildlich vorstellen, wie es sich anfühlen mochte, einen Flammentod zu sterben. Die aufkommende Panik, das Erkennen der Aussichtslosigkeit einer Flucht, das Herannahen des sengend heißen Feuers, dann die ersten Flammen, die gierig nach der Kleidung züngeln … nein danke!

Er versuchte, diese beängstigenden Gedankenfragmente abzuschütteln und sich wieder voll auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Doch das wollte ihm nicht recht gelingen.

Am Nachmittag entdeckte er nahe Schierke, dass die Gleisanlagen der HSB-Brockenbahn ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Die Hitze hatte sogar Schienen und Signalanlagen massiv verformt. Hier wurden wohl aufwändige Reparaturen notwendig, bevor die wunderbaren historischen Dampfzüge wieder das Brockenplateau ansteuern könnten. Einige Mitarbeiter der Bahngesellschaft waren bereits vor Ort damit beschäftigt, sämtliche Schäden aufzunehmen, ergo durfte er sich wenigstens hier das detaillierte Fotografieren ersparen.

Am Abend dieses Tages fühlte er sich körperlich und psychisch erschöpft, so sehr, dass er sich in seiner Stammkneipe die Kante gab. Manches im Leben war zu furchtbar, um es einfach wegzustecken und zur Tagesordnung überzugehen.

Strunz war Förster mit Leib und Seele, folgte seiner Berufung. Es steckte ein mitfühlender Mensch unter dieser rauen, vom Wetter gegerbten Schale, ein feiner Kerl, der den Anblick einer schwarzroten Brandleiche beim besten Willen nicht zusammen mit Lederboots und Allwetterjacke abzustreifen vermochte, nur weil für heute Dienstschluss angesagt war.

Falls es sich tatsächlich um vorsätzliche Brandstiftung handelte, so nahm er sich vor, würde er der Polizei einen Hinweis auf den möglichen Täter geben müssen. Jenem verschrobenen Kerl, welchem er sowas zutraute, musste langsam mal das Handwerk gelegt werden. Er terrorisierte ihn und die Verwaltung des Naturparks schon seit Jahren mit fragwürdigen Aktionen, war bislang aber stets mit einer empfindlichen Geldbuße oder richterlich angeordneter Sozialarbeit davongekommen. Meist hatte er zur Strafe den Wald von weggeworfenem Müll befreien müssen, so als wäre er nur ein dämlicher Halbstarker, der zu einem verantwortungsbewussteren Staatsbürger erzogen werden müsste.

Den Wald räumte dieser Gestörte sowieso regelmäßig auf, aus freien Stücken. Dies war eine Art Hobby von ihm.

Was für eine Farce. Manche Leute konnten ihren Hals wirklich aus jeder Schlinge ziehen, indem sie posthum Einsicht heuchelten und taktisch Reparaturen an von ihnen ruinierten Dingen vornahmen. Mit den gelegentlichen Sachschäden an diversen parkeigenen Einrichtungen hatte man ja noch einigermaßen leben können. Aber wenn jetzt womöglich sogar ein Toter auf das Konto dieses selbstherrlichen Marodeurs ging, wäre endgültig Schluss mit lustig.

Kapitel 2

Zum Sterben schön

Juli 2018, Torrevieja, Südspanien

Bernd Mader und seine Ehefrau hatten sich in ihrem Urlaubsdomizil halbwegs eingelebt, auch wenn sie zunächst eine große Enttäuschung hatten wegstecken müssen. Das kam eben davon, wenn man ein Ferienhaus gutgläubig übers Internet anmietete, ohne selbst vor Ort gewesen zu sein oder wenigstens die Kundenbewertungen des Urlaubsportals durchgelesen zu haben. Auf den Fotos hatte die Siedlung sehr hübsch ausgesehen, doch die mussten entweder uralt oder grafisch bearbeitet gewesen sein.

Allein der niedrige Preis hatte den Ausschlag gegeben, das war die profane Wahrheit. Bernd war zwei Kindern aus erster Ehe und, nach wie vor, seiner Exfrau unterhaltspflichtig. Da zählte jeder Cent. Drei Wochen Urlaub schlugen dennoch ganz schön zu Buche. Es blieb ja nicht bei den Kosten für Flug und Unterkunft. Wie gut, dass seine Angetraute über eigenes Einkommen verfügte. Sie hatte auch ein paar Hunderter lockergemacht.

Er und Julia waren mit ihrem Mietwagen über die Küstenstraße N-332 durch die Nacht gecruist, um die zirka sechzig Kilometer vom Flughafen Alicante-Elche entfernte Stadt Torrevieja zu erreichen. Sie hatten die vielen weißen und orangenen Lichtpunkte entlang der Küstenlinie der Costa Blanca bewundert, die mit dem klaren Sternenhimmel zu wetteifern schienen.

Wie weit man hier ins Landesinnere schauen konnte! Weder topografische Gegebenheiten noch Vegetation behinderten den Blick. Erst am Horizont wurden vage die Schattenrisse schroffer Berghänge in der Levante sichtbar.

»Zum Sterben schön«, hatte Julia gestöhnt, als sie in Höhe des einstigen Fischerdorfes Santa Pola, welches sich mittlerweile zu einem Touristenmagnet gemausert hatte, kurz das Mittelmeer zu sehen bekam. Das Mondlicht, das sich auf den leicht gekräuselten Wellen spiegelte, die heitere Musik, die durch die geöffneten Fenster des Wagens zu hören war … sie fand alles wunderbar.

»Pst! Verschrei es bloß nicht, bitte. Ich bin auf Urlaub und da wird in meiner näheren Umgebung gefälligst nicht gestorben«, hatte der Kommissar augenrollend gewitzelt. Allmählich schien auch er in Ferienlaune zu geraten.

Die war ihm gleich am folgenden Morgen wieder vergangen. In der Nacht waren sie viel zu müde gewesen, sich das Ferienhaus und dessen Umgebung etwas näher anzusehen. Sie hatten die Urbanisation Jardines del Mar erstmal mühevoll suchen müssen, nach der Ankunft den Schlüssel vom Verwalter geholt und ihr Häuschen gründlich durchgelüftet, um den penetranten salzig-muffigen Geruch im Innenraum loszuwerden. Danach waren sie wie tote Fliegen ins knarzende Metallbett gefallen.

»Fühlt sich irgendwie klamm an. Hoffentlich ist das Bettzeug nicht schimmlig«, hatte Julia vor dem Einschlafen gemeckert.

»Kommt sicher von der hohen Luftfeuchtigkeit am Meer. Wir sehen morgen nach. Heute ist mir schon so ziemlich alles egal«, hatte ihr Mann entgegnet. Das letzte Wort ging halb in Schnarchen über.

 

Schweißgebadet waren sie gegen elf Uhr vormittags von lautem Palaver in spanischer Sprache aufgewacht. Seither entdeckten sie jeden einzelnen Tag Mängel und Kuriositäten in dieser Ferienhaussiedlung, die nicht hätten vorhanden sein sollen.

Die vierundfünfzig kleinen Doppelhäuser waren überwiegend von einer internationalen Mischung Residenten bewohnt. Lediglich drei Immobilien dienten der Ferienvermietung. An der Küste schien das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Kulturen relativ reibungslos zu klappen, das stellte Mader gleich zu Beginn fest. Belgier, Deutsche, Spanier, Ukrainer, Briten, Marokkaner und Franzosen, letztere mit arabischem Migrationshintergrund, tummelten sich hinter dem schwarzen Eisengate, mit welchem die Community von der öffentlichen Straße abgetrennt war. Jedes der innenliegenden Mini-Grundstücke war nochmals ganz für sich sorgfältig umzäunt, sämtliche Fenster und Türen zusätzlich mit verzierten Eisengittern abgesichert. Nahezu jedes Haus verfügte über eine Alarmanlage und Außenkameras.

Klar, Sicherheit war wichtig und vermutlich gab es für all das Equipment gute Gründe. Wo sich Feriengäste aufhielten, konnten Langfinger nicht weit sein. Vielleicht gab es hier ein akutes Einbrecherproblem, er hielt das für möglich. Aber wofür Bernd und Julia sehr wenig Verständnis aufbringen konnten, war die unübersehbare Tatsache, dass man einige Haustüren mit Backsteinen zugemauert hatte.

Rund um besagte Häuser wucherte das Unkraut meterhoch, es lag sogar Müll in den leeren Pools. Das alles steigerte nicht gerade die Attraktivität der Siedlung, zumal auch das Nebenhaus der Ferienimmobilie betroffen war. Bei der erstbesten Gelegenheit nahm Bernd eine betagte deutsche Bewohnerin beiseite und fragte nach dem Grund.

Sie beschirmte ihre Augen mit einer Hand vor der Sonne und seufzte tief.

»Da legen Sie den Finger in eine offene Wunde. Glauben Sie mir, ich bin sehr unglücklich über das, was in der Urbanisation abgeht. Es mindert den Wert meiner Immobilie und überhaupt

… wissen Sie, diese Häuser sind zum Ende der Spekulationsblase hin gebaut worden, das war Ende 2006.

Danach kam die Krise. Die Investmentfirma ging pleite, wie so viele damals. Zu diesem Zeitpunkt waren erst fünf der insgesamt vierundfünfzig Objekte verkauft worden, unter anderem meines. Ich könnte mich tagtäglich in den Hintern beißen, wenn ich bedenke, dass ich mehr als zweihunderttausend Euro für das Häuschen hingelegt, es gutgläubig vom Plan weg gekauft hatte. Zu jener Zeit waren das durchaus realistische Preise gewesen.

Ich wohnte jahrelang nahezu alleine hier, in einer Geistersiedlung, wenn Sie so wollen. Erst im Herbst 2012 hatten die Gläubigerbanken endlich vor Gericht Erfolg und einige der Objekte enteignet. Die wurden für einen Appel und ein Ei verkauft, um die Siedlung vor dem drohenden Verfall und den Vandalen zu schützen. An einigen Gebäuden befanden sich bereits Graffiti. Es hätte nicht mehr lange gedauert, bis Fenster eingeschlagen und die Einbauküchen und Wasserboiler geklaut worden wären. In einigen anderen Siedlungen ist nämlich genau das passiert.«

Bernd staunte nicht schlecht. Die spanische Immobilienkrise war zwar jahrelang durch sämtliche Medien gegeistert, aber dass sie vor Ort derartige Auswüchse gezeitigt hatte, das war neu für ihn. Keine schöne Wohnsituation. Deswegen also war das Angebot für dieses Ferienhaus so unschlagbar günstig gewesen.

»Und die Polizei? Ist niemand Streife gefahren?« Die Frau grinste kopfschüttelnd.

»Unterbezahlt und hoffnungslos unterbesetzt. Auch das war eine Folge der Krise. Sehen Sie, inzwischen ist es ja wieder besser geworden. Für die enteigneten Häuser wurden schnell Käufer gefunden, kein Wunder bei diesen extremen Dumpingpreisen. Die haben 2012 weniger als die Hälfte dafür hingeblättert. Na, immerhin ist jetzt Leben in die Urbanisation gekommen.

Aber wir haben schon längst neue Probleme, weil noch nicht alle Häuschen enteignet und verkauft sind. Die spanische Justiz gehört bekanntlich nicht zu den allerschnellsten, hier mahlen die Mühlen allgemein langsamer. Meine Anwältin sagt, dass es noch viele Jahre dauern könnte, bis alles erledigt ist.

Falls es überhaupt jemals so weit kommen sollte, meine ich.

Im letzten Jahr gab es droben an der Straße zwei Einbrüche und seither wohnen illegale Bewohner aus Kolumbien dort. Das spanische Recht macht es solchen Schmarotzern überaus leicht.

Man braucht eigentlich bloß das Türschloss aufzubohren, das Haus in aller Ruhe zu beziehen – und schon kann einem keiner mehr was. Wenn der Eigentümer der Immobilie die Okkupation nicht innerhalb von achtundvierzig Stunden anzeigt – was dieser natürlich nicht tun kann, weil die Firma gar nicht mehr existiert

– darf der Eindringling da wohnen bleiben, und das zum absoluten Nulltarif.

Die Polizei ist übrigens völlig machtlos, wir haben anfangs oft genug angerufen. Der Schutz von Wohnung und Familie geht hier im Süden anscheinend über alle anderen Rechtsgüter, selbst wenn die Wohnung illegal ergaunert wurde.

Blanker Wahnsinn, oder? Diese skrupellosen Verbrecher bewohnen Häuser, die baugleich mit dem meinen sind, müssen im Gegensatz zu mir jedoch keinen Cent dafür abdrücken. Zu allem Überfluss besteht die Gefahr, dass sich das Bubenstück in diesen Kreisen herumspricht und der Kolumbianer südamerikanische Kumpels oder Familienmitglieder anlockt, damit die sich ebenfalls Häuser unter den Nagel reißen können. Diese Typen zahlen selbstverständlich auch nichts für die Wartung und Pflege des Gemeinschaftspools, benutzen ihn aber.

Nein, mehr von diesen menschlichen Kakerlaken wollen wir hier keinesfalls riskieren. Aus diesem Grund sind wir, die regulären Eigentümer, lieber auf Nummer sichergegangen und haben die Eingänge der verwaisten Häuser einfach zugemauert, damit sich Ähnliches nicht ganz so leicht wiederholen kann. Ich sage es mal so: Einen Vorschlaghammer würden wir rechtzeitig hören und einschreiten können«, echauffierte sich die ältere Dame. Sie trat auf Tuchfühlung an Bernd heran, raunte hinter vorgehaltener Hand:

»Man munkelt sogar, dass einer der Kolumbianer ein Drogendealer sein soll. Er war mehrere Monate verschwunden und ich habe was läuten hören, dass er währenddessen im Knast gesessen hat.«

»Das sind ja tatsächlich schöne Zustände. Da wird mir einiges klarer. Aber könnten Sie denn Ihr Häuschen nicht verkaufen und einfach wegziehen?«

Sie schüttelte traurig den Kopf, verschränkte die Arme.

»Erstens würde ich nie im Leben das viele Geld herauskriegen, das ich in die Bude hineingesteckt habe, schon wegen der Optik dieser Siedlung nicht. Zweitens fühle ich mich inzwischen zu alt für einen Umzug. Nein, ich werde bleiben müssen, bis ich eines Tages ins Altenheim gehe. Dann dürfen sich meine Kinder mit dem Thema herumschlagen«, meinte die Dame achselzuckend. Ihr Dialekt wies sie als ehemalige Rheinländerin aus.

Nachdenklich kehrte er zu Sonnenanbeterin Julia auf die Terrasse zurück. Bernd sah die Costa Blanca jetzt mit anderen Augen. Ihm war soeben bewusstgeworden, dass einem Sonne und Meer wenig nützen, wenn man im Paradies mit derartigen Problemen zu kämpfen hat. In Kurzform schilderte er seiner Frau, was er soeben erfahren hatte.

Das hätte er besser bleibenlassen sollen. Von diesem Moment an fühlte sich Julia unwohl, gerade was die unmittelbare Nachbarschaft zu einem kolumbianischen Drogenbaron anging. Sie hatte sich im Fernsehen wohl zu viele Dokus über Pablo Escobar angesehen.

*

Juli 2018, Costa Blanca

Nach dem ersten Schreck und zwei Strandtagen beruhigte sich Julia wieder. Die Maders beschlossen, die Sache mit Humor zu nehmen und starteten ausgedehnte Ausflüge in die Umgebung, von welchen sie meist erst weit nach Sonnenuntergang zurückkehrten. Auf diese Weise konnten sie ihre wohlverdienten Flitterwochen unbeschwert genießen. Ab und zu, wenn niemand in der Nähe war, turtelten sie wie verliebte Teenager.

Sie sahen sich den berühmten Palmenpark Huerto del cura in Elche an und besuchten noch am selben Tag vorzeitliche Ausgrabungsstätten unter einem top renovierten Kastell. Dann fuhren Bernd und Julia mit einem Aufzug zur Festung Santa Barbara hinauf, von wo sie einen göttlichen Ausblick über die gesamte Bucht von Alicante genießen konnten. Beide waren sie heilfroh, den steilen Aufund Abstieg nicht zu Fuß bewältigen zu müssen. Man gelangte durch einen schnurgeraden Tunnel zum Aufzugschacht, der mitten durch den Felsen nach oben führte.

Am vierzehnten Urlaubstag wanderte das Pärchen bei sengender Hitze im piniengesäumten Rio Seco. Es handelt sich dabei um ein ausgewaschenes Flussbett, welches die meiste Zeit des Jahres über trockenfällt, im Frühjahr jedoch, dank ausgiebiger Regenfälle, temporär zum rauschenden Wildbach wird. Die skurrilen, rötlich-gelben Formationen, die das reißende Wasser über viele Jahre hinweg in den weichen Sandstein geschliffen hat, erinnern an eine Miniausgabe des Grand Canyon. Bernd legte sich öfters flach auf den Boden und fotografierte die sonnenbeschienenen Felsen perspektivisch von unten nach oben, um die Illusion von Höhe zu erzeugen. Solange man peinlich genau darauf achtete, dass keine verräterischen Referenzmaße ins Bild gerieten, etwa durch Julia oder eine Pinie, war der Effekt verblüffend.

Fünf Tage vor Urlaubsende entdeckte Julia eine ›Sehenswürdigkeit‹, die sie vor Freude hyperventilieren ließ. Sie hatten einen Pinienpark mit Wasserkaskaden am kilometerlangen Strand von La Mata besucht und waren auf dem Rückweg zum Auto zufällig auf ein kleines Gehege gestoßen, das wild lebende Hauskatzen beherbergte. Die Kätzchen konnten dort nach Belieben einund ausgehen und waren dennoch vor Tierfängern sicher. Katzenliebhaber versorgten diese ausgesetzten Fellknäul offensichtlich regelmäßig mit Trockenfutter und Streicheleinheiten.

Letzteres tat natürlich auch Julia. Rote, schwarzweiß gescheckte und anthrazitgraue Samtpfoten, getigerte Exemplare … hier gab es kaum eine Variation, die es nicht gab. Andauernd entdeckte sie neue, stürzte sich liebevoll auf die Tierchen. Er setzte sich auf ein schattiges Mäuerchen und ließ sie gewähren.

Bernd tat sich schwer, seine Ehefrau nach mehr als einer Stunde Extremstreicheln behutsam loszueisen. Nur sein laut knurrender Magen war dazu geeignet, sie schließlich doch zur Heimfahrt zu bewegen.

Allmählich trat bei beiden Maders der ersehnte Erholungseffekt ein. Schade, dass nur noch wenige Tage übrigblieben, bevor sie in ihre jeweiligen Tretmühlen zurückkehren mussten. Schon schlangen sich Bernds unausgelastete Gehirnwindungen wieder um den Waldbrand im Harz. Er verbannte aufkeimende Gedankengebilde wie dieses in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Noch durfte er das.

*

Am nächsten Morgen wurden die Flitterwöchner schon gegen halb neun durch aufgeregtes Palavern auf der Einfahrt geweckt. Sämtliche Bewohner der Urbanisation mussten auf den Beinen sein, so wie es sich anhörte. Irritiert trat Bernd vor die Haustür.

Soeben spurtete die nette deutsche Oma am Zaun vorbei.

»Was ist denn heute los, warum die Aufregung? Brennt gerade die Siedlung ab, rollt ein Tsunami auf uns zu oder müssen wir mit vereinten Kräften einen illegalen Südamerikaner verjagen?«, versuchte er sich lächelnd an einem Scherz.

Sie lächelte nicht zurück. Die gute Frau wirkte aufgeregt, war kreidebleich und sichtlich außer Atem.

»Im Gemeinschaftspool ist angeblich … eine unserer Nachbarinnen … ach, kommen Sie am besten gleich selber mit, dann sehen Sie es mit eigenen Augen!«, rief sie im Weiterlaufen.

Er stutzte einen Moment. Eigentlich ging ihn nichts an, was in dieser Siedlung passierte. In weniger als einer Woche würde er wieder abreisen. Trotzdem, neugierig war er eben doch; vermutlich handelte es sich um eine chronische Berufskrankheit.

Was soll’s. Vielleicht kann ich den Leuten helfen, wobei auch immer.

Er informierte kurz Julia, die noch im Nachthemd steckte und alles andere als begeistert wirkte, und schloss sich dem nachbarlichen Treck zur etwas tiefer am Hang gelegenen Poolanlage an. Mader hatte das Areal nie zuvor gesehen, weil er mit seiner Frau grundsätzlich das erheblich kleinere Becken auf ›ihrem‹ Grundstück zur Abkühlung benutzte. Hier gab es dank einer HibiskusHecke wenigstens ein bisschen Privatsphäre.

 

Man erreichte den Pool über eine lange Treppe. Noch bevor das Wasser in Sicht geriet, fiel der Blick eines jeden Besuchers auf ein überdimensioniertes Plakat, welches mit Regeln, Hinweisen und Öffnungszeiten vollgepflastert war. Nicht vom Beckenrand springen, Glasflaschen verboten, kein Ballspielen, Rauchverbot, Kinder nur unter Aufsicht, kein Sex im Pool und so weiter … und das gleich in mehreren Sprachen und mit erläuternden Piktogrammen garniert.

Kein Sex im Pool? Himmel noch mal, die Badefreuden sind hier ja noch extremer reguliert als sowas in einem deutschen Schilderwald der Fall wäre! Dabei versteht sich all das, zumindest letzteres, eigentlich schon von selbst. Dieses Schwimmbecken ist gleich von drei Seiten einsehbar, liegt recht exponiert und scheint nachts sogar beleuchtet zu sein. Da bleibt wahrscheinlich keine Sünde unbeobachtet.

Mader musste schmunzeln. Hoffentlich hatte niemand mitbekommen, dass er und Julia erst in der vergangenen Nacht gegen eben jenes Verbot verstoßen hatten, wenn auch nicht in diesem Pool. Ach was, sie waren vorsichtig gewesen. Ihre zart gebräunte Haut hatte einfach zum Anbeißen ausgesehen, wie hätte er da widerstehen sollen?

Er ging weiter. Jetzt fiel sein Blick auf die leicht gekräuselte Wasseroberfläche. Auf dem im Sonnenschein glitzernden Türkisblau trieb eine hellblonde, etwas mollige Frau, vielleicht dreißig bis vierzig Jahre alt – mit dem Gesicht nach unten. Sie hatte offenbar gegen eines der Verbote auf der Schautafel verstoßen und war schon vor zehn Uhr morgens baden gegangen. Wobei das wohl kaum die Todesursache sein konnte.

Ach nö, bitte nicht! Das darf doch echt nicht wahr sein. Musstest du dich ausgerechnet jetzt und hier ertränken gehen, dachte Bernd sarkastisch und hastete die geflieste Treppe hinab. Sofort schaltete er vom Urlaubsin den Dienstmodus um.

»Niemand darf ins Wasser! Wir wissen schließlich noch nicht, ob die Dame womöglich einen starken Stromschlag erlitten hat. Die Poolpumpen sind an. Hat übrigens schon jemand die Polizei benachrichtigt?«, rief Mader mit seiner markigen Stimme.

Fragende Blicke streiften ihn, niemand sagte etwas. Ein kleiner, stämmiger Spanier löste sich auf einmal aus dem Pulk gaffender Anwohner, die das Schwimmbecken umringten, drückte seine Brust heraus und marschierte selbstbewusst auf ihn zu. Er hatte vollkommen vergessen gehabt, dass in dieser Siedlung zum einen kaum irgendjemand Deutsch verstand, und zum anderen, dass kein Mensch etwas von seinem Beruf in Deutschland wissen konnte. Hier war er einfach bloß Urlauber, an seiner kurzen Hose haftete keine Dienstmarke.

Die ältere Deutsche eilte zu seiner Unterstützung herbei.

»Das hier ist der Präsident der Jardines del Mar, sein Name ist Juan. Er spricht weder Deutsch noch Englisch und hätte gerne gewusst, was Sie gerade gerufen haben. Und verzeihen Sie bitte, dass ich mich bislang noch gar nicht ordentlich vorgestellt habe. Mein Name ist Magdalena Schmitt«, erklärte sie.

»Sehr angenehm. Und ich heiße Bernd Mader, Kriminalhauptkommissar aus Wernigerode. Sorry, ich wollte diesem Juan nicht zu nahetreten oder ihm gar seine heiligen Kompetenzen streitig machen. Der Herr Präsident wirkt auf mich ein bisschen beleidigt, der fühlt sich anscheinend in seiner Vormachtstellung bedroht«, entgegnete Bernd.

Sie zuckte mit den Schultern.

»So sind sie halt, die Spanier. Hier darf der Mann noch Macho sein, jedenfalls nach außen hin. Innerhalb der Familien sieht es hingegen anders aus, daheim hat so manche Dame die Hosen an. Aber machen wir vorläufig Schluss mit dieser Kulturanalyse. Ich übersetze den anderen lieber, was Sie gesagt haben.«

Magda erklärte eloquent auf Spanisch und Englisch. Ein Raunen ging durch die Menge. Juans Miene hellte sich augenblicklich auf. Er nickte, wedelte mit seinem Smartphone. Damit wollte er scheinbar konstatieren, dass er die Polizei selbstverständlich bereits informiert habe.

Eine Stunde später stand zumindest fest, dass die dralle Engländerin keineswegs ertrunken oder an einem Stromschlag gestorben war. Jemand hatte sie erwürgt, was an den Malen am Hals deutlich sichtbar war, und danach in den Pool entsorgt. Bernd drängte sich spontan der Verdacht auf, dass der Täter oder die Täterin mit dieser Inszenierung ein eindrucksvolles Zeichen für die Bewohner der Urbanisation setzen hatte wollen. Sein Polizistengehirn arbeitete wider Willen auf Hochtouren.

War dies eine Warnung? Aber wenn ja, weswegen? Oder hatte sich die tote Badenixe vor ihrem Ableben jemanden zum Feind gemacht? Handelte es sich eventuell um eine sogenannte Beziehungstat? Er würde Magdalena später fragen müssen, ob sie sich einen Reim darauf machen, einen Fingerzeig geben konnte.

Besagte Nachbarin erzählte soeben den angerückten Beamten der Guardia Civil, dass sich momentan sogar ein ostdeutscher Kripo-Beamter unter ihnen befinde. Sie deutete wichtigtuerisch in seine Richtung.

Auch das noch … und schon wird meine Mitwirkung von der Kür zur Pflicht. Das wollte ich nun auch wieder nicht erreichen.

Zunächst unbemerkt, hatte sich Julia an seine Seite geschlichen. Sie steckte in Bikini, Tunika und Flip-Flops.

»Versprich mir bitte, dass du die Finger von diesem Fall lässt, Bernd! Hier bist du nun wirklich nicht zuständig«, raunte sie mit gerunzelter Stirn. Sie kannte ihren Schatz zur Genüge.

Der steckte immer noch tief in Gedankengängen, zu tief, um auf Julias Appell einzugehen. Einer der spanischen Gesetzeshüter marschierte in seinen Knobelbechern auf ihn zu.

Wie halten die Spanier es bei einer solchen Hitze in schwarzen Uniformen aus? Ich schwitze ja bereits in Shorts, Muskelshirt und Badelatschen wie ein Schweinebraten in der Röhre. Die hiesigen Bullen müssen ein völlig anderes Temperaturempfinden haben.

»Guten Morgen. Mein Name ist Antonio«, begrüßte ihn der iberische Berufskollege auf Deutsch, streckte ihm seine Rechte hin. Der Akzent hielt sich zu Maders Erstaunen in Grenzen. Die Spanier pflegten offenbar die Angewohnheit, sich grundsätzlich zu duzen, das hatte er in den vergangenen Urlaubstagen mehrfach festgestellt. Somit wunderte er sich hierüber nicht mehr.

Antonios höfliche Geste bildete den Auftakt zu einem angeregten Gespräch zwischen ihm und Bernd. Mader stellte sich ihm ebenfalls nur mit dem Vornamen vor.

Es stellte sich heraus, dass der Dreiunddreißigjährige gleich zu Beginn der spanischen Krisenjahre, wegen der klammen öffentlichen Kassen, entlassen worden und bald darauf zur Jobsuche nach Deutschland gegangen war. Damals hatten nur diejenigen seiner Kollegen ihre Stellen behalten dürfen, welche Familien zu ernähren hatten. Daher war er, als alleinstehender junger Mann, automatisch durchs Raster gefallen und hatte seine Uniform an den Nagel hängen müssen. Es war ihm sehr schwergefallen, das zu akzeptieren.

In Hamburg hatte er acht lange Jahre bei einem privaten Sicherheitsdienst zugebracht, Deutsch gelernt und außerdem seine jetzige Ehefrau abgeschleppt. Irgendwann war aber das Heimweh zu stark geworden und so war er mit Lara in seine sonnige Heimat zurückgekehrt. Er hatte hier – glücklicherweise – sofort seine alte Stelle im Öffentlichen Dienst wiederbekommen. Jetzt saß er fest im Sattel, sein erstes Kind war unterwegs.

Diese ganze Story servierte er Bernd, einem für ihn Wildfremden, mit einem gewinnenden Lächeln im braungebrannten Gesicht. Der attraktive Spanier schwitzte erstaunlicherweise immer noch nicht die Bohne, obwohl er die ganze Zeit in der prallen Sonne stand, während Bernd das Wasser vorne und hinten herunterlief. Wirklich beneidenswert, diese Südländer.

Die Männer schienen sich überhaupt von der ersten Sekunde an blendend zu verstehen. Julia ahnte zähneknirschend, dass sie den Rest dieses ›Liebesurlaubs‹ ab sofort vorwiegend alleine zu verbringen hätte. Bei allem Verständnis für Bernds Gutmütigkeit, sie ärgerte sich darüber. Meist profitierten andere davon. In diesem Fall war es Antonio, der das Angebot dankend annahm.