Future Angst

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Die Zunge des Spechts

Die vorindustrielle Ära litt nicht an einem Mangel an Vorstellungskraft, sondern an einem Mangel an Umsetzungskraft.

Carl Benedikt Frey

An die 7.000 eng mit Notizen und Zeichnungen beschriebene Seiten umfasst Leonardo da Vincis Nachlass. Es wird vermutet, dass das einem Viertel seines umfangreichen Schaffens entsprach. Alle damals bekannten Bereiche der Wissenschaft und Kunst hatte er in seinen Notizen behandelt. So groß war da Vincis Wissensdurst gewesen, dass er sich immer wieder in neuen Fragestellungen verzettelte und nur wenige Auftragsarbeiten beenden konnte, sehr zum Missfallen seiner Gönner und Auftraggeber. Ein wahrer Renaissancemensch mit Tendenz zum Prokrastinieren.

Man konnte es Leonardo nicht übel nehmen, lebte er doch in einer spannenden Phase des Wandels in Europa. Die Renaissance war einerseits bestimmt durch das Interesse an den Lehren der klassischen Antike, andererseits aber auch durch das endgültige Loslösen von ihr und den Beginn der modernen Wissenschaften. Lange glaubten die Gelehrten, es ließen sich alle neuen Erkenntnisse durch intensives Studium der alten Schriften und Texte der antiken Gelehrten ableiten. Doch die „modernen“ Zeiten warfen zu viele neue Fragen auf, auf die es keine befriedigenden Antworten der Altvorderen gab. Bestimmte Indizien und Beobachtungen machten offensichtlich, dass die Antike nicht bloß keine Antworten auf neue Fragen hatte, sondern auch oft mit ihren Antworten auf alte Fragen falschlag. Man brauchte also neue Herangehensweisen. Und wie das so ist, tauchten immer wieder neue Fragen auf, die wiederum neue Methoden zur Beantwortung erforderlich machten. Man begann sich von der reinen theoretischen Ableitung aus Bekanntem zu lösen und Experimente als rechtschaffenes Instrument des Erkenntnisgewinns zu verstehen.

Da Vinci war ein wichtiger Vertreter, weil er intensiver als alle vor ihm und seinen Zeitgenossen eben genau solche Experimente durchführte. Als uneheliches Kind geboren, genoss er nicht die Vorzüge eines Buchgelehrten. Die wichtigsten Bücher damals waren in Latein verfasst, einer Sprache, in der er nie unterrichtet worden war, die er sich aber im Laufe der Jahre autodidaktisch aneignen sollte. Der Buchdruck war gerade erst erfunden worden und Bücher in der Muttersprache erst im Kommen, es führte somit kein Weg daran vorbei, Latein zu lernen.

Was ihm in dieser Beziehung fehlte, machte er durch Neugier und Experimentierfreude wett. Er konstruierte für viele seiner Fragestellungen Versuchsapparate, um die Antworten zu finden. Unter anderem entwickelte er ein Glasherz, um zu beobachten, wie sich die Herzklappen öffnen und schließen und das Blut dadurch fließt.

Sein ganzes Leben lang behielt er diesen unbändigen Wissensdurst. Selbst uns trivial erscheinende Dinge faszinierten ihn. Eine Liste aus dem Jahr 1490, die er in Mailand angelegt hatte, zeigte, was er lernen und tun wollte:1

•Die Abmessungen von Mailand und Umgebung

•Zeichne Mailand.

•Überrede den Arithmetikmeister, mir zu zeigen, wie man ein Dreieck quadriert.

•Frage Giovanni den Bombardier, wie die Mauer des Turms der Stadt Ferrara gebaut wurde.

•Frage Benedetto Protinari, auf welche Weise man in Flandern auf dem Eis geht.

•Frage einen Hydraulikspezialisten, wie man eine Schleuse, einen Kanal und eine Mühle auf lombardische Weise repariert.

•Frage Maestro Giovanni Francese, den Franzosen, nach der versprochenen Bemessung der Sonne.

•…

•Untersuche einen Gänsefuß: Wenn er immer offen oder immer geschlossen wäre, dann könnte das Tier sich kaum fortbewegen.

•Warum ist der Fisch im Wasser wendiger als der Vogel in der Luft, wenn es doch das Gegenteil sein müsste, da Wasser schwerer und dicker als Luft ist?

•Beschreibe die Zunge des Spechts.

Ein Sammelsurium an Fragen, die ihn beschäftigten, aber besonders der letzte Eintrag scheint uns ein Kuriosum zu sein. Eine Spechtzunge beschreiben? Wieso? Was ist daran interessant? Es handelte sich jedenfalls um kein Versehen, derselbe Eintrag findet sich auch Jahre später wieder.

1508 machte er eine Reihe von anatomischen Studien, für die er eine Liste erstellte. Wie so oft hatte er den Bogen Papier dicht beschrieben und vollgezeichnet. To-dos, Einkaufsliste und Zeichenstudien waren bunt durcheinandergewürfelt. Auf der einen Seite der Liste befanden sich Darstellungen von Anatomiewerkzeugen, auf der anderen kleine Zeichnungen von Blutgefäßen und Nerven, die er im Hirn eines verstorbenen 100-Jährigen untersucht hatte. Und dazwischen eine Liste aus benötigten Werkzeugen und Dingen, die er erledigen wollte:

•Lass Avicennas Buch von nützlichen Erfindungen übersetzen (Buch eines persischen Universalgelehrten aus dem 11. Jahrhundert);

•Liste von benötigten Werkzeugen:

Brille mit Hülle

Zünder

Gabel

Gebogenes Messer

Kohlekreide

Bretter

Papier

Weiße Kreide

Wachs

Glasstücke

Feinzahnige Knochensäge

Skalpell

Inkhorn

Bleistiftmesser

und einen Schädel

•Finde heraus, wie die Zunge des Spechts funktioniert.

Schon wieder die Zunge des Spechts und auf den nachfolgenden Seiten nochmals Einträge zu diesem Vogel:

•Mache die Bewegung der Spechtzunge (Fa’ il moto della lingua del picchio);2

•Beschreibe die Zunge des Spechts und den Kiefer des Krokodils (Scrivi la lingua del picchio e la mascella del coccodrillo).3

Menschliche Zungen, Spechtzungen und Krokodilkiefer. In seinem Wissensdurst hatte Leonardo da Vinci über die Jahre Dutzende Leichen von Menschen, aber auch von Pferden und anderen Tieren seziert. Damals von der Kirche nicht gern gesehen und sogar unter Strafe stehend waren das die ersten Ansätze von Wagemutigen wie da Vinci, den menschlichen Körper besser zu verstehen. Als Ingenieur, Maler, Skulpteur, Architekt und erster moderner Wissenschaftler war er stetig bestrebt, seine Disziplinen zusammenzubringen. Ja, eigentlich sah er sie gar nicht als getrennte Disziplinen an.

Um Gesichtsausdrücke und Körper in seinen Gemälden wirklichkeitsnah und lebendig darstellen zu können, musste er seinem Verständnis nach Muskeln und deren Wirkungsweisen verstehen. Das uns noch heute mysteriös erscheinende Lächeln der „Mona Lisa“ ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Studien und der Suche nach dem Funktionieren und Wirken der Natur. Er wollte verstehen, wie Muskeln die Lippen, Wangen oder Stirn bewegten.

Die menschliche Zunge erschien ihm dabei als Ausreißer besonders interessant. Es handelt sich um den einzigen Muskel, der nicht durch Kontraktion, also durch Zusammenziehen wirkt, sondern durch Ausdehnung. Und weil er eben ein Universalinteressierter war, wollte er das beim Specht auch verstehen, vermutlich, um Erkenntnisse zur menschlichen Zunge zu erhalten. Immerhin war es leichter und weniger riskant in Bezug auf die Obrigkeit, an einen Tierkadaver zu gelangen als an eine menschliche Leiche.

Was ihm natürlich erschien – nämlich verstehen zu wollen, wie Dinge funktionieren, und aktiv danach zu streben, diese Fragen zu beantworten und Experimente zu entwickeln und auszuführen –, erfordert eine ganze Menge an Energie. Es wäre einfacher, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, und sie nicht weiter zu hinterfragen. Nicht aber Leonardo da Vinci. Sein ganzes Leben lang war er auf der Suche, die Welt zu verstehen und seine Arbeit aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse zu perfektionieren.


Abbildung 1: Bildnis der Ginevra de’ Benci, datiert zwischen 1474 und 1478

Wie sehr sich das auf seine Kunst auswirkte, sieht man am Vergleich zweier Porträts. Das von Ginevra de’ Benci fertigte er als junger Künstler zwischen 1474 und 1478 an, das als Mona Lisa bekannte Porträt der Lisa del Giocondo 30 Jahre später.

Da Vincis Ginevra ist technisch durchaus gekonnt und dem Stand der Zeit würdig. Allerdings ist eine nicht zu übersehende Leere im Gesicht, die das ganze Porträt wenig natürlich und lebhaft erscheinen lässt. Die ausdruckslosen Augen, die bleiche Haut, die wie angepappt wirkende Lockenpracht, die da Vinci als Lockenträger selbst so sehr liebte, lassen uns Ginevra als Zombie erscheinen.

 

Abbildung 2: Mona Lisa, datiert zwischen 1503 und 1506

Ganz anders die bei den Franzosen als La Joconde bekannte Mona Lisa. Nicht nur hatte da Vinci eine viel feinere Maltechnik entwickelt, auch die Perspektiven, die Farben, die Schatten und letztendlich die Erfassung der Gesichtszüge zeigen bei der Mona Lisa eine bis dahin unerreichte Stufe der Porträtmalerei. In ihrem geheimnisvollen Lächeln, das uns sogar noch 500 Jahre nach ihrer Erschaffung fasziniert, manifestiert sich Leonardo da Vincis Können, das er nicht nur durch die Malpraxis und den unermüdlichen Drang nach neuen Erkenntnissen verbesserte, sondern auch in seiner Furchtlosigkeit, verbotenerweise Leichen zu sezieren, um die Funktionsweise und das Zusammenspiel von Muskeln und Gewebe zu verstehen.

Was Leonardo da Vinci uns vorlebte, ist das, was wir heute als „Renaissancemensch“ bezeichnen. Den Universalgelehrten, den Polymath, der ein Leben lang seine Neugierde selbst für die unscheinbarsten Phänomene aufrechterhält.

Das steht im Kontrast zur digitalen Anti-Renaissance des modernen Menschen. Seit einiger Zeit stelle ich dem Publikum auf Konferenzen in oder Delegationsteilnehmern aus Europa ähnliche Fragen:

•Wer verwendet ein Smartphone mit Gesichtserkennung?

•Wer hat einen Sprachassistenten zu Hause?

•Wer hat schon einmal einen Ridesharing-Anbieter wie Uber verwendet?

•Wer spielt Pokémon Go?

•Wer hat schon einmal eine Spechtzunge skizziert?

Man muss dabei berücksichtigen, dass die Leute, denen ich diese Fragen stelle, nicht die Otto Normalverbraucher sind. Es handelt sich bei ihnen um Innovationsmanager, Produktentwicklungsleiter, Vorstände, IT-Berater, digitale Evangelisten, Journalisten zu digitalen Themen und Trends. Menschen, zu deren Aufgabe unter anderem zählt, ihre Organisationen und Gesellschaften in die Zukunft zu führen.

Die vorgebrachten Ausreden habe ich alle gehört: Das iPhone ist zu teuer. Ich brauche mein iPhone X nicht, ich habe es weitergeschenkt. Der Sprachassistent hört immer zu. Und überhaupt: Wer braucht so etwas?

Gleichzeitig besitzen aber fast alle der Anwesenden mit Autos eine Technologie, bei der der Preis (fast) keine Rolle spielt und die pro Jahr in Deutschland 3.500 Menschen tötet. Und Autos besitzt man doch, obwohl der öffentliche Verkehr in Europa gut ausgebaut ist. Alexa hat meines Wissens nach noch nie jemanden umgebracht und kostet weniger als ein paar Dutzend Euro. Meine erhielt ich auf einer Konferenz sogar gratis mit dem Teilnehmerticket. Aber den angeblichen Innovationsvorreitern Europas tropft der Angstschweiß von der Stirn, weil ein technisches Gerät zuhört oder so viel kostet wie ein Konferenzticket.

Diesen Argumenten hängt der Geruch nach Ausflüchten an. Sie zeigen einen erschreckend großen Mangel an Neugier und Willen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Ich möchte nochmals unterstreichen, dass ich hier weder vom Durchschnitt der Bevölkerung spreche noch das iPhone X oder Alexa als Dinge, die man unbedingt besitzen muss, bewerben will. Es handelt sich hier um Symptome einer tiefer liegenden Sorge. Dieselben Personen, die ihre Unternehmen und ihr Land in die Zukunft bringen sollen, sind an der Welt merkwürdig desinteressiert. Mit neuen Trends will man sich, wenn überhaupt, dann nur theoretisch, aber nicht praktisch beschäftigen. Somit können sie in ihrer Bedeutung kaum erkannt werden. Das führt dazu, dass die Initiative und Entwicklung nicht aus unseren Reihen kommen.

Man kann einfach nicht das Pingpongspielen lernen, indem man nur ein Buch darüber liest. Man lernt nicht das Autofahren, indem man zahlreiche Videos auf YouTube schaut. Man lernt auch „Digital“ nicht, indem man lediglich Konferenzen zu digitaler Transformation besucht. Man muss schon selber den Pingpongschläger in die Hand nehmen und aktiv werden, sich hinter das Steuer eines Autos setzen und das neueste Smartphone oder einen Sprachassistenten und Ähnliches selbst verwenden – und das regelmäßig und für längere Zeit.

Diese aktive Neugier, die Leonardo so sehr vereinnahmte, scheint uns zumindest teilweise abhandengekommen zu sein. Und das hat vermutlich mit unserer Erziehung und dem nachhaltigen Einfluss der Religion zu tun. Der Philosoph Michel Foucault schrieb, die Tradition lehre uns, der Neugier – insbesondere der Neugier auf die Schöpfung – dürfe man nicht ungestraft frönen:4

Neugier ist ein Laster, das abwechselnd vom Christentum, von der Philosophie und sogar von bestimmten Auffassungen der Wissenschaft stigmatisiert wurde. Neugierde, Vergeblichkeit. Das Wort jedoch gefällt mir. Für mich suggeriert es etwas ganz anderes: Es evoziert „Besorgnis“; es evoziert die Sorgfalt, die man für das, was existiert und existieren könnte, aufbringt; eine Bereitschaft, das, was uns umgibt, seltsam und einzigartig zu finden; eine gewisse Bereitschaft, unsere Vertrautheit aufzubrechen und ansonsten die gleichen Dinge zu betrachten; eine Inbrunst, das, was geschieht und was vergeht, zu klassifizieren, eine Lässigkeit in Bezug auf die traditionellen Hierarchien des Wichtigen und Wesentlichen.

Ohne die digitale Anti-Renaissance abzuschütteln und sich für das moderne Äquivalent der Spechtzunge zu interessieren, werden wir weder unsere Unternehmen noch Europa in die Zukunft bringen, geschweige denn diese Zukunft mitgestalten können. Wir müssen selbst experimentieren und ausprobieren und uns nicht nur Konferenzwissen aneignen. Wir müssen die Angst vor dem Unbekannten abschütteln und neugierig sein. Leonardo beschäftigte sich mit Dingen, die uns trivial erscheinen mögen, aber selbst im Trivialen sind Erkenntnisse verborgen, die weitreichende Bedeutung haben.

Vor einiger Zeit besuchte ich eine lokale Messe in der kalifornischen Stadt Fresno. Hier, mitten in dieser von Agrarland umgebenen Kleinstadt, hält die aus Laos eingewanderte Hmong-Bevölkerung alljährlich ihre einwöchige Kulturfeier mit vielen Ausstellern ab. In einer Halle gab es den Stand eines örtlichen Fortbildungsinstituts, bei dem eine Lehrerin demonstrierte, wie man mit einem Lockenstab unterschiedliche Arten von Locken in das lange Haar des Models machen kann. Ich war fasziniert. Noch nie hatte ich das beobachtet. Eine leichte Drehung hier, ein längeres Pressen da – und die Locken waren entweder kurz und eng oder lang und voluminös. Werde ich das Wissen darüber je brauchen? Bei meinem Kurzhaarschnitt eher nicht. Aber wer weiß heute schon, wo diese Erkenntnis einmal praktisch oder als Metapher zum Einsatz kommen kann. Zumindest hier in diesem Buch konnte ich sie schon einmal als Beispiel anführen.

Das Funktionsdilemma

Die Bedeutung deines Lebens ist etwas, das du schaffst.

Noam Chomsky

Es ist ein regnerischer Novembertag, als ich mich auf den Weg zu einem Vortrag vor Studenten und Absolventen der Technische Universität München ins neu eingeweihte Werksviertel mache. In diesem Stadtentwicklungsgebiet, von dem aus die Pfanni-Knödelfabrik jahrzehntelang die Bundesrepublik mit Fertigknödeln belieferte, befinden sich heute Bürogebäude, schicke Container mit Weinbars sowie gleich neben einem Partydach Schafe und Hühner auf einer „Dachalm“. Dass die Tiere dort überhaupt sein dürfen, war nicht dem Münchner Veterinäramt zu verdanken, das sich nicht dazu äußern wollte, ob sich Hühner und Schafe überhaupt miteinander vertragen. Das Amt übertrug die Verantwortung den Betreibern, sie dort anzusiedeln. Bei jeder Party auf dem begrünten Dach der ehemaligen Fabrik kommen die Schafe neugierig an die Partyzone heran, staunen und lauschen.

Genauso lauschten und staunten vermutlich die Studenten bei meinem Vortrag über die Technologietrends in der Automobilbranche. Fahrerlose Autos navigieren heutzutage sicher durch die Straßen der San Francisco Bay Area. Ein Physikabsolvent hob nach dem Vortrag die Hand und erklärte überzeugt:

Ich habe ein Haus in den Bergen und im Winter ist das immer zugeschneit. Da muss ich zehn Kilometer über schneebedeckte Straße fahren, um dorthin zu gelangen. Das wird ein autonomes Auto nie können.

Das war im Jahr 2019, genau 50 Jahre nach der ersten bemannten Mondlandung. Das war einige Tage, nachdem die Voyager-2-Sonde unser Sonnensystem verlassen und endgültig in den interstellaren Raum vorgedrungen war. Das war Jahre, nachdem Menschen in 10.000 Metern Tiefe mit U-Booten und Tauchrobotern im Meer die Welt erkundet haben, nachdem wir Raumsonden auf andere Planeten und Monde in unserem Sonnensystem gesandt haben und wir mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit auf unserem eigenen Planeten fliegen können.

Dennoch ist ein Physiker der TU München felsenfest davon überzeugt, autonome Autos würden nie eine zehn Kilometer lange schneebedeckte Strecke zurücklegen können – von derselben TU, dessen Hyperloop-Team viermal in Folge den Wettbewerb zum schnellsten Hyperloop-Pod gewonnen hat und sogar eine eigene Teststrecke um München erhalten wird.

Ich könnte diese Behauptung als einen statistischen Ausreißer ignorieren. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ein Physiker macht noch keine TU. Doch ist dies kein Einzelfall, denn gerade aus dem deutschsprachigen Raum kommen zu selbstfahrenden Autos immer wieder solche Reaktionen. Kritischer sehe ich solche Aussagen, wenn sie von Ingenieuren stammen. Menschen, die ausgebildet wurden, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu finden, die dem Wohl der Menschheit dienen.

Wer erinnert sich nicht an die Prüfungsfragen in der Schule und an der Universität, die üblicherweise die Form von „Finde den Wert von x“ aufweisen? Ich kann mich nicht erinnern, dass je eine Aufgabe die Prüflinge aufforderte, alle Gründe zu finden, warum etwas niemals funktionieren könne.

In den nächsten Kapiteln werden wir uns mit Beispielen zu Erfindungen und Innovationen aus der Vergangenheit befassen, die zeitgenössisch mit Skepsis oder sogar mit Warnungen vor dem moralischen Verfall der Gesellschaft aufgenommen worden waren. Oft zeichneten sich diese Erfindungen bereits ab. Dennoch fanden sich genügend „Expertenstimmen“, die das Streben nach der Lösung als vergebliche Liebesmüh und als etwas Widernatürliches bezeichneten. So druckte 1903 die New York Times unter der Schlagzeile „Flugmaschinen, die nicht fliegen“ („Flying Machines Which Do Not Fly“) zehn Wochen, bevor Wilbur und Orville Wright den ersten kontrollierten Flug mit einem Motorflugzeug erfolgreich absolvierten, eine Kolumne ab, die die bisherigen Fehlversuche als nichts Überraschendes darstellte.5

Wenn es also zum Beispiel tausend Jahre dauert, bis ein Vogel, der mit rudimentären Flügeln begonnen hat, für einen einfachen Flug geeignet ist, oder zehntausend Jahre für einen Vogel, der ohne Flügel begonnen hat und sie erst ausbilden musste, dann könnte man davon ausgehen, dass der Flugapparat, der tatsächlich fliegen wird, durch die gemeinsamen und kontinuierlichen Bemühungen von Mathematikern und Mechanikern in einer Million bis zehn Millionen Jahren entwickelt werden könnte – vorausgesetzt natürlich, dass wir inzwischen so kleine Nachteile und Unannehmlichkeiten wie das bestehende Verhältnis zwischen Gewicht und Festigkeit bei anorganischen Materialien beseitigen können.

Wie kommt es, dass gerade Technikexperten derart überzeugt davon sind, dass etwas nicht und niemals klappen wird? Und warum tendieren sie dazu, zuerst sämtliche Gründe aufzuzählen, warum etwas nicht funktionieren könnte? Ist unser Ausbildungssystem nicht eigentlich darauf ausgelegt, unsere Sinne darin zu schärfen und uns Werkzeuge an die Hand zu geben, Lösungen und Antworten zu finden? Wo also auf dem Weg vom Schüler, Studenten und Experten läuft da etwas schief?

Während die einen vor allem erklären, warum etwas nie klappen wird, befürchten die anderen, dass es zu gut klappen kann. Erstere agieren in einem Umfeld absoluter Sicherheit, die Letzteren hingegen leben in einem von Unsicherheit und Angst geprägten Umfeld.

Eine E-Mail, die ich zur Digitalisierung des Gesundheitswesens über eine Informationsplattform erhielt, drückte das aus. Der Autorin ging es vor allem um ethische Fragen und listete eine Reihe von Gefahren auf: digitale Gesundheits-Apps, die eine Abhängigkeit von Arbeitgebern schafften; die Anfälligkeit von Patientendaten, die gehackt werden könnten und das Arztgeheimnis verletzten; künstliche Körperteile, die uns zu Cyborgs machten; Organspenden, die zu einem lukrativen illegalen Organhandel führen würden.

 

Dieser Angstfokus erinnert an den Film „Die Truman Show“, in der Jim Carrey den Versicherungsangestellten Truman Burbank spielt, der – ohne sich dessen bewusst zu sein – der Hauptdarsteller einer Realityshow ist, die sich um sein Leben dreht. Von seiner Geburt bis zu seinem Berufseinstieg lebt er in der unter einer Kuppel gelegenen künstlichen Seestadt Seahaven. Damit er nicht den Wunsch entwickelt, verreisen zu wollen, und so die Illusion verlässt, in der er sich unwissentlich befindet, ließen sich die Showproduzenten viele Tricks einfallen, um in ihm die Angst vor Reisen zu verstärken. So soll sein Vater (ebenfalls ein Schauspieler) angeblich bei einem Bootsunfall verstorben sein. Und als der inzwischen misstrauische Truman Burbank ein Reisebüro aufsucht, um eine Reise nach Fidschi zu buchen, wo seine ehemalige Freundin angeblich hingezogen war, sieht man an diesen Wänden eher ungewöhnliche Plakate. Diese warnen vor Terroristen, Krankheiten, Wildtieren, Banden und von Blitzen getroffene Flugzeuge.

Würden wir in ein Reisebüro gehen oder eine Reiseplattform benutzen, die uns vor allem auf einen möglichen, aber sehr unwahrscheinlichen katastrophalen Ausgang einer Urlaubsreise hinweist? Und weitergedacht: Würden wir zu einer Ärztin gehen, uns in ein Krankenhaus legen oder eine Gesundheitsplattform benutzen, wenn diese hauptsächlich den lukrativen Organhandel oder die Gefahren aufzeigt, dass unsere Patientenakten in falsche Hände fallen und wir durch Körperimplantate wie Herzschrittmacher oder Hörapparate zu willenlosen Werkzeugen anonymer Technologieunternehmen werden? Wie würden wir uns beim Griechen oder Italiener um die Ecke fühlen, wenn dieser uns zuerst auf die Gefahren von Ersticken am verschluckten Essen, vor Verbrühungen an Heißgetränken, Alkoholproblemen und tödlich endenden Erdnussallergien hinweisen und die Hintergrundmusik ständig von Warnungen unterbrochen werden würde?

Vermutlich gar nicht gut. Wir suchen doch eigentlich nach einer Lösung für ein bestehendes Problem, nicht nach weiteren Problemen, die dieses noch verstärken würden, ohne dass uns eine Lösung angeboten wird. Und das Problem, das wir lösen wollen, ist, wieder gesund zu werden, den Hunger zu stillen oder den wohlverdienten Urlaub anzutreten.

Aus evolutionärer Sicht ist unser Fokus auf bedrohliche Szenarien verständlich. Es haben diejenigen überlebt und ihre Gene weitergeben können, die dem Brüllen eines Tigers die sofortige notwendige Aufmerksamkeit geschenkt haben. Heute, wo die Gefahr, einem Tiger zur Mahlzeit zu dienen, verschwindend gering geworden ist, reagieren unsere Affenhirne trotzdem immer noch wie vor Hunderttausenden von Jahren. Gefahren erhalten unsere sofortige Aufmerksamkeit, denn die richtige Antwort darauf garantierte unser Überleben.

Doch in einer modernen Welt kommen uns ebendiese so erfolgreich weitervererbten Gene in die Quere. Zehn Lösungen wiegen weniger schwer als ein Problem. Wir sehen vor allem die mit Rotstift markierten Fehler bei Klausuren, nicht die richtigen Antworten. Wir schießen uns auf ein gescheitertes Projekt ein und suchen nach den Schuldigen, anstatt kontrolliertes Scheitern zu ermöglichen und daraus für folgende Projekte zu lernen.

Damit sollen die Probleme nicht verharmlost werden. Datenschutz, die Auswirkungen von Körperimplantaten und Organhandel ebenso wie mögliche Risiken selbstfahrender Autos oder das Brandverhalten eines Elektroautos nach einem Unfall sind wichtige Themen. Doch sollten wir nicht vergessen, dass viele dieser potenziellen Gefahren recht selten eintreten und oft auch nicht in dem Ausmaß, wie sie von Warnern an die Wand gemalt werden.

Wir werden darauf zurückkommen, wie Technologieinnovationen in der Vergangenheit zu ähnlicher Skepsis geführt haben. Heute, wo diese Technologien für uns selbstverständlich sind, erscheinen uns die damaligen Ängste absurd. Stattdessen traten seit der Einführung dieser Technologien andere Probleme als die befürchteten auf, die wiederum durch Fortschritte in der Technologie gelöst werden konnten.

Viele der Argumente aus der Vergangenheit ähneln denen, die den heutigen Technologien vorgeworfen werden. Waren es damals der Spiegel, der Lift, die Glühbirne oder das Radio, so sind das heute die künstliche Intelligenz, das Smartphone, soziale Medien oder das autonome Auto. Das ist dieses Funktionsdilemma, vor dem wir stehen. Wie viel Gutes und Schlechtes bringt uns die Technologie? Wir können Lehren aus der Vergangenheit ziehen, wie wir ein gutes Gleichgewicht zwischen den Chancen und Möglichkeiten und den Risiken und Gefahren bei der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien finden können.

Trotz aller auftauchenden Probleme dürfen wir die Gründe für die Entwicklung dieser Technologien nie aus den Augen verlieren. Mit jeder Innovation stellt sich diese Frage nicht nur aufs Neue, sie fordert uns auch immer wieder neu heraus zu erkennen, wo dieses Gleichgewicht des größten Nutzens für die Menschheit eigentlich liegt. Schon im Jahr 1947 beschäftigte sich der britische Autor W. H. Auden in seinem Gedichtband „The Age of Anxiety“ („Das Zeitalter der Ängste“) mit den Auswirkungen der Industrialisierung auf die Suche des Menschen nach Inhalt und Identität.6 War es damals die Industrialisierung, so ist es heute unter anderem die Automatisierung durch künstliche Intelligenz, die ähnliche Fragen aufwirft.7 Was damals Ängste auslöste, wird heute als normaler Bestandteil unseres Alltags gesehen. Es fällt nur auf, wenn es nicht funktioniert oder wenn es nicht vorhanden ist.