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Das Haus, das auf Ruhm gebaut wurde:
Celebrity Big Brother 162

Celebrity Big Brother (Channel 5) diesen Sommer war ein Warhol’scher Albtraum. Vorbei sind die Längen der frühen Big-Brother-Staffeln und die Simplizität des Projekts: Man steckt eine Gruppe von Menschen in einen Raum, verbietet jeglichen Kontakt zur Außenwelt, lässt jede Woche eine Person herauswählen und schaut was passiert. Vergessen ist auch die halbgare »wissenschaftliche« Rechtfertigung der Show – die Behauptung, dass es sich um ein soziales Experiment handelt. Der Hype um die Staffel von 2015 hat noch die kleinste Spur einer solchen Distanziertheit zunichte gemacht.

Das diesjährige Format – ein Wettbewerb nicht nur zwischen einzelnen Bewohnern, sondern auch zwischen einem amerikanischen und einem britischen Team – sorgte erwartungsgemäß bereits früh für Spannungen. Es gab die bekannten »Aufgaben« – sinnlose Aktivitäten, die mal langweilig, mal demütigend waren –, deren Zweck es war, Zwietracht unter den Bewohnern zu säen. Doch dieses Jahr grenzten die Eingriffe der Produzenten an psychologische Folter. Das war umso besorgniserregender, da einige Bewohner offenkundig fragil waren. Die frühere Moderatorin Gail Porter, die früher Probleme mit ihrer geistigen Gesundheit hatte, kämpfte sichtbar mit der Situation und »witzelte« bei ihrem Auszug, dass es schlimmer sei, als den Wohnbereich zu wechseln. Das Model Austin Armacost war voller Wut und Trauer, weil der Tod seines Bruders zum Zerfall der Familie geführt hatte und litt unter starken Stimmungsschwankungen. An einer Stelle erging er sich in einer wütenden Tirade gegenüber der Reality-TV-Veteranin Janice Dickinson.

Das obsessive Herstellen von überraschenden Wendungen, mit dem das Format unterhaltsam gemacht werden sollte, sorgte für geradezu parodistische Momente, in denen die einzige Konstante die permanente Instabilität ist. Die Regeln für Nominierungen wurden ständig geändert. Nominierungen, von denen die Bewohner dachten, dass sie in einem Raum stattfinden, den nur die Produzenten und die Zuschauer sehen können, wurden ins ganze Haus übertragen. Die Bewohner mussten sich voreinander nominieren, was also bedeutete, sich gegenseitig in der Öffentlichkeit fertig zu machen.

Ein besonders fieser Trick der Produzenten bestand darin, so zu tun, als ob die beiden aggressivsten amerikanischen Bewohner – der Reality-Star Farrad Abraham und die frühere Pornodarstellerin Jenna Jameson – herausgeworfen und in einen versteckten Teil des Hauses ge­bracht werden, wo man ihnen sagte, dass sie nun die anderen Bewohner heimlich beobachten. Tatsächlich wussten die anderen Bewohner aber, dass der Rauswurf von Abraham und Jameson ein Fake war, sie hatten also gut – oder besser gesagt, schlecht und hasserfüllt – Lachen.

Die Anfänge dieser Fernsehkultur liegen vierzig Jahre in der Vergangenheit. In seinem Buch 1973 Nervous Breakdown: Watergate, Warhol, and the Birth of Post-Sixties America zeigt Andreas Killen überzeugend, dass das Jahr 1973 ein entscheidender Einschnitt für die Ära des Reality-TV und der Promikultur war; es war das Jahr der Watergate-Anhörungen und das Jahr, in dem die erste Reality-TV-Serie ausgestrahlt wurde, An American Family.163

Die Flüchtigkeit des Promistatus’ wurde natürlich von Andy Warhols Kommentar antizipiert, dass jeder seine 15 Minuten Ruhm erhalten wird. Viel wichtiger ist jedoch, dass Warhol das Besondere der Promikultur und die Unterschiede zum Mysterium und Glamour des alten Hollywoodstars begriffen hatte. Während der Star eine weichgezeichnete und mit dem Film in Verbindung stehende Figur war, entstand der Promi aus der neuen Verfügbarkeit, die das Fernsehen versprach.

Nirgendwo ist die Promikultur besser dargestellt als in Warhols Magazin Interview. Wie Watergate, war Interview nur möglich, weil es Aufzeichnungsgeräte gab. Die Interviews, in denen es um die trivialen Details aus dem Leben ging, waren transkribiert; es gab keine dazwischen geschaltete Autorperson. Und dennoch war Warhol bewusst, dass die Aufnahmen keine unvermittelte Wirklichkeit wiedergaben. Stattdessen – und das hat sein Bewunderer Jean Baudrillard erkannt – zerstörten die allgegenwärtigen Aufzeichnungsgeräte jede Illusion, dass es eine solche Wirklichkeit überhaupt gab. So blieb nur noch eine gespannte und unbeantwortbare Frage: Agieren die Aufgenommenen für das Tonband oder für die Kamera? (Eine Leute haben gesagt, dass es ihnen so schien, als hätte Nixon zur Zeit der Abhörungen im Weißen Haus manche Sachen extra für die Aufnahme gesagt.)

Das Eindringen der Kamera in das Leben der Familie Loud in An American Family sorgte für allerlei aufgeregte Diskussionen: Beeinflussten die Kameras, was aufgenommen wurde? Wie Killen zeigt, glich die Serie nicht nur der Kunst Andy Warhols – es bestand eine tatsächliche Verbindung. Lance Loud stand seit den 1960er Jahren mit Warhol in Kontakt und man sieht in einigen Szenen Lance in Kontakt mit einigen Superstars aus dem Umfeld von Warhol, jener Clique von Persönlichkeiten aus New York, im Chelsea Hotel.

Nicht nur, weil er ihr letztlich zum Opfer fiel, war Warhol sensibel für die fragile Kombination aus Gewalt und Prominenz in der Popwelt. Mit Celebrity Big Brother 2015 wurde klar, dass diese Aggression inzwischen überhandnimmt. Seit An American Family löst Reality TV Gefühle der Schuld und der Komplizenschaft beim Publikum aus. Inwiefern sind wir verantwortlich für das Leid, dem wir da zuschauen? Bei Celebrity Big Brother wurden diese Gefühle akut und geradezu unerträglich. Die Sendung wurde zu einer Übung in verlängerter Grausamkeit, was die frühen Staffeln, ganz zu schweigen von An American Family blass aussehen ließ. Was ist in den letzten fünfzehn Jahren, seit Big Brother das erste Mal ausgestrahlt wurde, passiert, dass die Barbarisierung derart zugenommen hat?

Die einfache Antwort hat zwei miteinander verbundene Aspekte: Veränderungen in der Ökonomie und die Allgegenwart des Internets. Das Ergebnis – der kapitalistische Cyberspace – normalisiert enorme Prekarität (das Gefühl, dass nichts von Dauer und alles ständig bedroht ist), Konkurrenz und zeitweilige Aggression. Ein Resultat dieses Prozesses ist ein neuer Typ Promi, verkörpert von der 24jährigen Farrah Abraham, dem inoffiziellen Star von Celebrity Big Brother. Abraham, die durch die MTV-Serie Teen Mom berühmt wurde, ist ein darwinistisches Produkt des harschen, gnadenlosen Rampenlichts des Reality TV zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Abraham hat aus Hass im wörtlichen Sinne Karriere gemacht. Es ist genau das, was das Publikum und damit auch die Fernsehproduzenten wollen. Abraham ist die erfolgreichste der jungen Mütter, indem sie anstrengend und streitsüchtig ist – ihr ganzes Leben ist eine Art Performance geworden, in der sie die eindimensionale Rolle einer mitleidlosen, nonchalant beleidigenden und verächtlichen Person spielt. Warum sollte Abraham sich irgendwie ändern? Sie wurde reich belohnt. Die Darstellung der Unverletzbarkeit ist sowohl ihre »Marke« als auch ihre Überlebensstrategie.

In der Atmosphäre der gnadenlosen Unsicherheit, die im spätkapitalistischen Fernsehen vorherrscht, ist, anderen zu vertrauen, ein Luxus, den sich niemand leisten kann, nicht einmal die Superreichen. Der Grimasse des Zorns auf Abrahams Gesicht – immer mit Lippenstift und chirurgisch verstärkt – ist sowohl eine schützende Maske als auch ein Verkaufsschlager. Im Verbund mit der ähnlich rauen Jenna Jameson wirkte Abraham bei Celebrity Big Brother wie eine komische Figur, aber eine, über die eigentlich niemand lachen konnte. Ihre einsilbigen Bemerkungen und bizarren Beleidigungen – »In dir steckt der Teufel« – waren absurd, aber immer noch so voller Bösartigkeit, dass ein schlechter Geschmack zurückblieb. Es glich einer düsteren Komödie, wenn Jameson und Abraham gnadenlos und aggressiv andere dafür angriffen, dass sie so »negativ« seien. Beide wirkten wie das Extrem einer therapeutischen Kultur, die allen Wert darauf legt, das Ego aufzubauen – bis zu dem Punkt, wo es wahnhaft wird.

Der Aufstieg der sozialen Medien und die Angst, die dieser Prozess bei den Fernsehproduzenten auslöste, bedeutet, dass Shows wie Celebrity Big Brother unglaublich mit Spannung geladen sind – nicht nur die Spannung der Hausbewohner, die oft wegen ihrer kurzen Zündschnur oder psychischen Schwächen ausgewählt werden, sondern auch die Angespanntheit der Produzenten und ihrer Sehnsucht nach dem nächsten Hashtag-Aufschrei und viralen Provokationen. Diese Angespanntheit sowie die gesellschaftliche Situation, die sie hervorbringt, führen uns über die coole Ambivalenz von Warhols Ästhetik hinaus.

Wie Killen zeigt, genoss Warhol die Selbstzerstörung von Figuren wie Edie Sedgwick und Candy Darling durchaus und kultivierte sie sogar. Doch er zeigte sie auch mit einer Zartheit und tragischen Größe, die im Reality TV des 21. Jahrhunderts keinen Platz mehr hat. Es gibt keine Tragik mehr – nur Zuckungen von bald vergessener Empörung, Auswürfen von Hass und Leid, die so einfach konsumiert werden wie Fastfood.

Sympathie für Androiden:
Die verdrehte Moral von Westworld164

Das Problem mit allen real existierenden Themenparks ist, dass sie im Grunde kein richtiges Thema haben. Die, die es gibt, sind eigentlich Vergnügungsparks und das Thema ist lediglich Dekoration für die guten alten Achterbahnen. Neuere Attraktionen nutzen die Techniken des Kinos, indem sie digitale 3D-Sequenzen einbauen – so wie auch das 3D-Kino immer mehr wie eine Achterbahnfahrt wirkt. Man taucht lediglich während der Fahrt in eine fremde Welt ein, aber diese bleibt von der Außenwelt abgeschottet, deutlich markiert durch Eingang und Ausgang. Selbst wenn das Thema einigermaßen gut ins­zeniert wird, leidet es unter den zahlenden Gästen. In Jeans und mit ihren Kameras in der Hand laufen sie in welcher historischen Zeit auch immer herum und bleiben dabei Zuschauer und Touristen.

 

Michael Crichtons Film Westworld aus dem Jahr 1973 versuchte sich vorzustellen, wie ein echter Themenpark aussehen würde. Es gab keine voneinander abgetrennten »Attraktionen« und dadurch auch keine Zwischenräume, in denen die Besucher wieder in ihre alten Identitäten zurückkehren sollten. Im Westworld-Park existiert kein sichtbarer Unterschied zwischen den Besuchern und den Androiden, die den Park bewohnten. Wie die Androiden mussten auch die Besucher sich kleiden und verhalten, als ob sie im Wilden Westen leben. Der Reiz von Westworld – und den angeschlossenen Parks Römische Welt und Welt des Mittelalters – bestand im Übergang in eine Umgebung, in der alle Zeichen des Zeitgenössischen aus­gelöscht waren. Anstatt des nur teilweisen Eintauchens bei einer Fahrt, bot der Park eine ganze Welt. Zwangsläufig entstand aber eine Metaebene und zwar durch das Selbstbewusstsein der Besucher und ihrem Gespür für die Unterschiede zwischen den Androiden und den Menschen (die im Wesentlichen in der Asymmetrie lagen, dass – zumindest am Anfang – die Gäste die Androiden »töten« können, aber nicht umgekehrt).

Ein immer wiederkehrendes Thema von Michael Crich­tons Science-Fiction – am prominentesten in den Jurassic-Park-Romanen – ist die Unmöglichkeit, ein emergentes Phänomen vorherzusagen und zu kontrollieren. Westworld wie auch später der Jurassic Park sind Exempel administrativer Hybris, in der die Fähigkeiten von Elementen innerhalb eines Systems, sich selbst zu organisieren, nicht absehbar ist und am Ende unterschätzt wird. Einer der bemerkenswertesten Aspekte des ursprünglichen Westworld-Films war die Einführung der Idee des Maschinenvirus in den Mainstream: eine Art abiotische Ansteckung, die dafür sorgt, dass die Androi­den, angeführt von dem unerbittlichen, schwarz gekleideten Yul Brynner, aus ihrem Programm ausbrechen und anfangen, die Gäste des Parks zu töten.

Lisa Joys und Jonathan Nolans Erweiterung von Westworld von einem 90minütigen Science-Fiction-Film zur HBO-Serie erhält die wesentlichen Elemente des Originals, verschiebt aber den Fokus. Die Störung, die zu Anfang den Designern und Managern des Parks Sorgen bereitet, ist eher ein kognitiver Fehler als ein Hang zur Gewalt: eine Art Androidendemenz, die ein Symptom der Entstehung von Bewusstsein unter den Hosts sein könnte, wie die Androiden in der Serie genannt werden. Als Gründer, Erfinder und Demiurg des Parks erkennt Robert Ford (Anthony Hopkins), dass diese Funktionsstörung mehr als ein Fehler ist. »Die Evolution«, so Ford, »erschuf alle fühlenden Wesen auf dem Planeten mit nur einem Werkzeug: dem Fehler.« Ford wirkt eher fasziniert als besorgt über die Aussicht einer neuen Welle von Mutationen im künstlichen Bewusstsein der Hosts.

In dieser Version von Westworld ist es nicht so sehr die drohende Gewalt gegenüber Menschen, die unsere Aufmerksamkeit fesselt, sondern eher die endlose Brutalität, der die Hosts unterworfen sind. Fords Rechtfertigung besteht darin, dass die Android »nicht echt« sind und dass »sie nur fühlen, was wir sie fühlen lassen«. Und dennoch sind die Realitätsmaßstäbe, die er anlegt, nicht ganz klar, ebenso wenig, warum Gefühle weniger real sind, wenn sie programmiert wurden. Andere zu zwingen, das zu fühlen, was wir wollen, wäre das nicht die Definition von Gewalt? Es gibt viele Hinweise in der Serie, dass die Hosts Leid empfinden können: was sicherlich ein Hinweis sein soll, dass es sich um Wesen handelt, die unsere moralische Sorge verdienen.

Ein großer Teil der Faszination, die von dem Park ausgeht, beruht auf der Lücke zwischen der Fähigkeit der Hosts, echtes Leid zu empfinden und ihrem legalen Status als Maschinen. Viele der regelmäßigen Besucher des Parks – vor allem der sogenannte Mann in Schwarz (ein wunderbar angsteinflößender Ed Harris) – genießen den Schmerz und das Leiden der Androiden. Wie der Mann in Schwarz Dolores (Evan Rachel Wood), der Android in der Rolle des süßen und einfachen Farmmädchens, gegenüber sagt, es wäre nicht halb so viel Spaß, wenn sie sich nicht wehren würde. Andere genießen es, gegenüber dem Leiden der Androiden indifferent zu bleiben. In einer frühen, furchterregenden Szene, durchbohrt ein Gast die Hand eines Goldsucher-Hosts mit einem Messer und schimpft auf seinen Begleiter, warum der an einem so langweiligen Narrativ wie der Goldsuche interessiert ist.

Man hat gesagt, dass die dem Sadismus zugrundeliegende Phantasie in einem Opfer besteht, das endlos leiden kann. In den Hosts materialisiert sich diese Phantasie: man kann sie immer wieder quälen, immer wieder »töten« und ihnen endloses Leid zufügen. Langeweile war schon immer sowohl eine Berufskrankheit als auch ein Ehrenabzeichen für den Sade’schen Libertin und einige der regelmäßigen Gäste zeigen genau diesen ironischen und gelangweilten Affekt. Daher die ambivalente Haltung der Gäste gegenüber den Hosts – sie behandeln sie zugleich als entmenschlichte Objekte ihrer Quälereien und als Kreaturen, die Gefühle haben wie sie. Wenn die Hosts nichts anderes als leere Maschinen wären, welchen Genuss würde es dann verschaffen, sie zu erniedrigen und zu zerstören? Aber wenn die Hosts denselben moralistischen Status wie die Gäste haben, wie ließe sich ihre Misshandlung dann rechtfertigen? Die Hosts werden durch das Löschen ihrer Erinnerung vom ganzen Ausmaß der Quälereien, denen sie ausgesetzt sind, geschützt, wodurch sie frisch und neu zurückkehren können, um wieder erniedrigt zu werden. Die Gäste existieren in einem Zeitkontinuum, die Hosts leben in Schleifen.

Was den Hosts fehlt, ist nicht Bewusstsein – sie besitzen eine Form des Bewusstseins, die absichtlich begrenzt und verkürzt wurde –, sondern ein Unbewusstes. Weil sie weder eine Erinnerung noch Träume haben, können die Androiden zwar verwundet, aber nicht traumatisiert werden. Und dennoch gibt es Anzeichen, dass sich genau diese Fähigkeit, Traumata erleben zu können, in den Hosts entwickelt, vor allem bei Dolores und der Bordellmutter Maeve (Thandie Newton). Dolores erlebt immer häufiger Flashbacks, die wir nicht als Funktionsstörungen, sondern als erste Momente von Erinnerung verstehen müssen, eine Erinnerung an frühere Zyklen. Maeve wiederum wird von fragmentarischen Bildern von Männern mit Kapuzen verfolgt, die sich an ihrem halbschlafenden Körper zu schaffen machen. Tatsächlich handelt es sich um eine Erinnerung an eine schief gegangene Reparatur, die sie erleben konnte, weil man sie nicht richtig in den Schlafmodus versetzte. In einer der unangenehmsten Szenen der Serie flieht die verwirrte und angsterfüllte Maeve aus dem Krankenhaus bzw. der Werkstatt und stolpert in der aseptischen Umgebung herum, die – aufgrund der vielen, entsorgten, nackten Host-Körper – für sie wie der Schauplatz einer Katastrophe wirken muss. Indem sie versucht, das Rätsel der unerklärlichen Bilder zu lösen, wird Maeve wie eine Mischung aus Leonard aus dem Film Memento und einem Opfer einer Entführung durch Außerirdische.

Mit wenigen Ausnahmen sind die Menschen in Westworld blasse Figuren. Ihr Verhalten reicht von der Brutalität einiger Gäste bis zu den banalen Streitereien und der betrieblichen Konkurrenz unter den Designern, Managern und Ingenieuren des Parks. Im Gegensatz dazu hat Dolores und Maeves Kampf um Selbsterkenntnis etwas metaphysisch Poetisches – sie schwanken zwischen dem Gefühl, dass etwas mit ihnen nicht stimmt oder dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Die Entstehung ihres Bewusstseins wirkt wie die Vorbedingung für eine ganz andere Rebellion der Androiden als die, die im Film von 1973 stattfand. Diesmal ist es schwer, nicht auf der Seite der Hosts zu sein.

Teil 3

Art Pop, nein, wirklich 165

Wenn wir über Art Pop sprechen wollen, vergessen wir Franz Ferdinand und Scissor Sisters und unterhalten uns stattdessen über Moloko.

Ich habe die Band gestern Abend bei dem ansonsten halbherzigen Common Ground Festival in Clapham gesehen, dessen Line-up so schwach wie der Name einfalls­los war.

Dankbarerweise hat das Common Ground keine Zeit ver­schwendet, alle meine Vorurteile gegenüber Festivals zu bestätigen (und einige andere auch): Auf der Bühne versuchte man erfolglos den gelangweilten Kunden etwas Begeisterung zu entlocken; das Publikum lief lustlos im strahlenden Sonnenschein herum, der sich nicht gut mit dem Mysterium des Pop verträgt, in der Hand ein Strongbow, die Kinder auf den Schultern. Wir waren nicht die einzigen, die eine Weile gesessen und Zeitung gelesen haben.

Das Line-up war schockierend. Es wirkte wie eine von der Stadt organisierte kostenlose Veranstaltung, wobei die Organisatoren dem bedauerlichen Missverständnis aufsaßen, dass sie »in« wirken, wenn sie »Dance«-Acts buchen, wie die Dub Pistols und die erdrückend dummen Freestylers (tatsächlich einer meiner Kandidaten für den Titel der schlimmsten Band in der Geschichte; ich meine, wenigstens haben Stereophonics Rap und Dancehall nicht ruiniert, indem sie sie verbanden). Diese grobschlächtigen, weißen Aneignungen von Hip Hop, Drum and Bass und Dancehall sind entzaubernd, ohne jede Spur von Funky­ness und schrecklich männlich (selbst wenn Frauen singen). Wenn ihr diabolischer Plan darin bestand, ein paar der spannendsten und modernsten Musikstile der letz­ten Jahre in einen pochenden Migräneanfall zu verwandeln, dann hätte ihr Erfolg nicht größer sein können.

Und dann kamen Moloko mit ihrer Sängerin Róisín, die einen absurden aber zugleich zauberhaften Helm trug, als würde Boudicca London zurückerobern wollen.

Róisín ist Popstar bis in die letzte Faser. Popstars sind selbst in den besten Zeiten eine rare Spezies, aber heute sind sie vom Aussterben bedroht. (Natürlich gibt es mehr Popsänger und »Prominente« als man zählen kann…) Das hat zum Teil mit Fragen des Stils zu tun, des Glamours, aber hauptsächlich liegt es am Charisma.

Ursprünglich meinte Charisma »Geschenk Gottes«. Das ist durchaus passend. Denn Charisma wird durch die ungerechten Launen des Schicksals verteilt. Róisín hat Charisma. Und auch wenn es der gehässige, alle gleichmachende Zeitgeist anders will, kein Brimborium dieser Welt wird den Freestylers und ihresgleichen jemals Charisma verleihen.

Róisín tritt auf und man spürt, dass etwas anders ist. War die Bühne vorher ein jede Libido aufsaugendes schwarzes Loch (DJs auf der Bühne – nur eine Frage: warum?), glüht sie nun vor Energie, Spannung und Elektrizität. Charisma ist etwas fast schon Physisches.

Zum Glamour, der von Róisín ausgeht, gehört auch sexuelle Attraktivität, aber er ist nicht darauf reduzierbar. Glamour meinte ursprünglich den Bann, den Frauen aussprechen, um Männer zu verführen – Róisín ist ohne Zweifel atemberaubend, aber nicht nur für Männer.

Wenn (wie wir von Foucault wissen) Sex ubiquitär und zwanghaft ist, dann wird Glamour heute immer mehr zu etwas Verbotenem. Mit Baudrillards Von der Verführung, einem Buch, das die Bibel des Glam sein könnte, ließe sich Sex – in all seiner Direktheit und dem angeblichen Mangel an Verheimlichung – als Mittel verstehen, um die Ambivalenz des Glamours abzuwehren.

Weit erfolgreicher als zweitklassige Dummköpfe wie Suede, die zum Glück vergessen und so langweilig wie ein Parkplatz in Croyden sind, gelingt es Moloko, das Glam-Diskontinuum wiederzubeleben, von dem man glaubte, dass es mit Acid House und seiner Kultur der Gleichheit an sein Ende gekommen war. Aber Glam hatte noch einen ganz anderen Nachfolger, nämlich Hip Hop und seine Feier der Ungleichheit des verschwenderischen Klimbims, dessen unangenehmer Nebeneffekt der Aufstieg der Sportkleidung ist (es gibt heutzutage kaum einen deprimierenderen Anblick als eine Gruppe männlicher Jugendlicher in Trainingsanzügen und Kapuzen; und nicht nur aufgrund der mitschwingenden Gefahr).

Dieser alltägliche Funktionalismus ist das zeitgenössische Äquivalent zum agrarischen Organizismus, gegen den sich die Stilrevolte des Glam der 1970er Jahre erhob. Glam negierte die »Natur« der Hippies im Namen des Künstlichen; er verachtete das miefige und träumerische Ideal der Gleichheit und ersetzte es durch eine an Nietzsche erinnernde Insistenz auf Hierarchie; an die Stelle von grobschlächtiger Zotteligkeit trat das kultivierte Image. (Image und großer Pop sind unzertrennbar. Vielleicht ist es die integrale Rolle des Images, die den Pop vom Folk trennt. Zumindest Art Pop, von Roxy Music über Grace Jones bis zu den New Romantics, ist ohne die Mode undenkbar.)

 

In den achtziger Jahren trug Madonna Elemente der Glam-Ästhetik in den Mainstream, doch die eigentliche Vorläuferin von Róisín ist Grace Jones (über die k-punk in naher Zukunft ausführlich schreiben muss). Jones’ Herangehensweise an Pop war konzeptuell, ähnlich wie bei Brian Ferry (dessen »Love is the Drug« Jones bekanntermaßen gecovert hat); zugleich wusste sie, dass im Pop Konzepte ohne sinnliche Manifestation so wertlos sind wie überhaupt in der Kunst (etwas, woran zeitgenössische »Künstler« vielleicht einmal denken sollten). Und eine Wertschätzung des Konzepts Art Pop ist zufälligerweise etwas, das Franz Ferdinand abgeht, obwohl es zu ihren Vorbildern gehört. (Tatsächlich sind Franz Ferdinand wie eine von Außerirdischen gebaute Kopie, die alle oberflächlichen Eigenschaften des Originals hat, aber der das Wichtigste fehlt.)

Róisín beherrscht jene paradoxe Dualität, die allen großen Performern eigen ist: Sie ist sowohl extrem bedacht auf ihr Image und zugleich indifferent gegenüber ihrem Aussehen. Dies zeigt sich, wenn sie tanzt. Nirgendwo gibt es die übermäßig eingespielte Choreographie der Pop-Idol-Marionetten. Wie bei Mick Jagger oder Brian Ferry wirken Róisíns Bewegungen manchmal unbeholfen oder linkisch. Manchmal sieht es so aus, als hätten wir sie dabei erwischt, wie sie vor dem Spiegel herumstolziert.

Das ist vornehmlich, was sie von Camp unterscheidet, zumindest von Camp á la Kylie Minogue. Róisín hat Spaß (und das ist einer von vielen Unterschieden zwischen Róisín und Kylie: Kylies Professionalismus gleicht dem einer Stewardness und lebt von grimmiger Entschlossenheit, aber Freude ist niemals im Spiel). Zum größten Teil, aber nicht ausschließlich, ist sie es, die Spaß hat, eine Freude, die davon herrührt, im Zentrum der Auf­merksamkeit zu stehen. Aber dabei bleibt es nicht. Wie alle großen Performer tritt Róisín auf der Bühne in eine Art Trancezustand ein, sie zeigt die Unschuld eines Kindes beim Spielen, um ein berühmtes Wort Nietzsches zu zitieren. Ihre Garderobenwechsel – einschließlich der Fetischstiefel und der Militärkleidung für »Pure Pleasure Seeker« – gleichen dem wahllos Spielerischen eines Mädchens, das sich durch eine Kostümkiste wühlt.

Nicht nur widerlegen Moloko die weitverbreitete Annahme, dass Dance-Musik von vermummten Anonymen kommen muss, sondern sie entlarven auch die Fadenscheinigkeit des Alibis für Franz Ferdinands Pop-Kon­ser­vatismus: die Idee, dass Art Pop retro sein muss. Molokos Anleihen bei House und Techno erinnern an Roxys Flirt mit Funk und Grace Jones’ außergewöhnliche, von Sly und Robby unterstützte Kreation eines wunderbar elastischen Dubfunks. Der Funk bei Franz Ferdinand ist aus dritter Hand, die Aneignung einer Aneignung.

Das dritte Schibboleth, das Moloko zerstören, ist die Annahme, dass Dance-Musik nicht live gespielt werden kann. Wäre man gegangen, bevor Moloko auf die Bühne kamen, wäre man fest davon überzeugt gewesen, dass das der Fall ist, nachdem Band um Band daran scheiterte die Präzision und Spannung der im Studio aufgenommenen Rap- oder Drum-and-Bass-Produktion einzufangen. Nicht so Moloko.

Meistens ist die Band so allergisch gegen das Rampenlicht wie Róisín sich nach ihm sehnt. Vielleicht sind sie deswegen eine so unglaublich, effiziente, mutagene Klang­maschine, die ihre Lieder in antiklimaktische Plateaus verwandeln und zwar mit derselben Fähigkeit wie ein brillanter Produzent, der im Studio eine Extended Ver­sion schreibt. Man weiß, dass man auf dem Plateau angekommen ist, wenn der Song auf ewig weitergehen oder abrupt enden könnte. So war das gestern bei jedem Lied. Das hat ohne Zweifel damit zu tun, dass die Songs soviel Raum zur Improvisation lassen. Produziert irgendjemand im Pop, abgesehen vielleicht von Destiny’s Child, eine hochwertige Single nach der anderen, von »Sing It Back« bis »Forever More« letztes Jahr? Wie die Junior Boys zeigen auch Moloko, dass rhythmische Innovation und kribbelndes Songwriting sich nicht ausschließen müssen. (Warum dachten wir jemals, dass das so ist?)

Es wäre also verfehlt, auf Höhepunkte des Konzerts zu verweisen, aber das Set war trotzdem so geschickt konstruiert, dass die letzten drei Lieder die größte Wirkung hinterließen: »Forever More«, mit dem kühlen House-Bass, während Róisín Blätter aus einem riesigen Strauß Rosen pflückt und die wunderbare Blues-Klage singt; dann das in eine zauberhafte Suite verwandelte »Sing It Back«, im Lied als Sequenz von Möglichkeiten; und schließlich der enigmatische Track »Indigo«, der minimalistisch im Moroder-Stil beginnt, nur Róisín vor einem Drum-Beat und ein elektronisches Pulsieren, und dann in ein bombastisches Kinderspiel-Riff übergeht, so basslas­tig wie The Fall zu ihren besten Zeiten.

Das einzig Negative? Róisín sagte, dass es lange dauern wird, bis Moloko wieder in London spielen.

Verdammt.