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Teil 4

Geh nicht wählen, ermutige sie nicht 235

Es gab eine Zeit, in der es wenigstens so schien als würden Wahlen etwas bedeuten. Ich erinnere mich noch geradezu körperlich an das leere, bittere Gefühl der absoluten existenziellen Niederlage, nachdem die kompromisslose, geradewegs auf den Abgrund zusteuernde Linke unter Michael Foot den Sturmtruppen von Thatchers SF-Kapitals236 erlag und ich mit damals nur 15 Jahren über »noch fünf Jahre« Tory-Herrschaft nachdachte. Damals hörte ich es nicht, aber der Song, der dieses Gefühl am besten zum Ausdruck bringt, ist Mark Stewarts »Liberty City«: »I’ll give a wave to the management mercenaries … Don’t their clean clothes look so pretty / Try to awake then from the comforts of slavery // Ich werde den Söld­nern des Managements zuwinken … sieht ihre Kleidung nicht schön aus / Versuche dann aus dem Luxus der Sklaverei zu erwachen.«

Es gibt immer noch Menschen, die glauben, dass eine Tory-Regierung viel schlimmer wäre als New Labour und dass deswegen eine Stimme für eine andere Partei ein Zeichen von »Schwäche« ist. Aber das »kleinere Übel« zu wählen ist nicht nur diese ganz bestimmte Entscheidung, sondern auch die Entscheidung für ein Sys­tem, das einen zwingt, das kleine Übel als das Beste zu akzeptieren, was man erwarten kann. Natürlich tun die Verteidiger der Elitendiktatur so – und vielleicht belügen sie sich dabei selbst –, als ob dieser spezifische Haufen Lügen, Kompromisse und Anbiederungen, den sie da fa­bri­zieren, »nur temporär« sei; so als ob die Dinge, irgendwann in einer fernen, nicht genauer benannten Zukunft, nur dann besser werden, wenn wir den »progressiven« Flügel des Status quo unterstützen. Aber Hobsons Ent­scheidung237 ist eben keine Entscheidung und die progres­sive Illusion ist keine psychologische Macke, sondern es ist die strukturelle Illusion, auf der die liberale Demokratie beruht.

Johan Hari versucht uns zu überzeugen, dass es heute wichtig ist, widerwillig New Labour zu wählen und zwar mit der Begründung, dass die Tories die einzig realistische Alternative und um einiges schlimmer als New Labour sind. Aber welche Bedrohung stellen Howards Tories eigentlich dar? Werden sie Habeas Corpus abschaffen? Nein, das hat Toneeeeey schon gemacht. Werden sie schamlos und beschämend auf rechte Bilder zugreifen, wenn es um Immigration geht? Nun ja, sicherlich, aber das ist nur das, was Joker Hysterical Face gerade sowieso tut. (Meine letzten Reste des sentimentalen Vertrauens in New Labour habe ich nicht wegen des Kriegs verloren, sondern wegen ihrer Anbiederung an die Rechten in Fragen der Immigration.)

Hören wir endlich auf zu denken, dass New Labour irgendetwas »verbessert« hat. New Labour ist die schlimmste aller möglichen Welten: Thatchers Managerialismus ohne den Angriff auf Sonderinteressen. In den 1970er Jahren, bevor Thatcher an die Macht kam, brauch­te man sechs Automobilarbeiter, um den Job von einem zu machen; in den Nullerjahren brauchte es sechs Berater für den Job von niemandem (da das Unternehmensleitbild nicht mal wert war, geschrieben zu werden). Dieselbe Dekadenz, andere Begünstigte. New Labour und ihre Unterstützer verdrehen die Augen, wenn sie hören, dass die Tories 35 Milliarden Pfund an öffentlichen Ausgaben streichen und trotzdem den öffentlichen Dienst verbessern. Als jemand, der im öffentlichen Dienst arbeitet, erscheint mir das vollkommen plausibel (auch wenn ich natürlich nicht glaube, dass die Tories das tun werden oder dass sie es richtig machen würden, wenn sie an die Macht kämen). Wenn es weniger Regulierungen, weniger Bürokraten und weniger Papierkram gäbe, hätte das sofort zwei positive Effekte: Man wäre die Manager und Verwalter los, deren unverhältnismäßig hohe Gehälter das ganze Budget verbrauchen und es würde die Leistung derer verbessern, die tatsächlich die Arbeit machen, einfach aus dem Grund, weil sie nicht ständig auf nörgelnde Memos und ihre Absender reagieren müssten.

Blair ist nicht nur ab und zu ein Lügner, sondern wie die neue Generation von Karrierepolitikern, die er anführt, ist er ein professioneller Lügner. Als ehemaliger Anwalt ist es kein Wunder, dass Blair die Wirklichkeit nur als Ablenkung von der Öffentlichkeitsarbeit betrachtet. Er ist mit dafür verantwortlich, dass wir nun in einer Situation leben, in der parlamentarische Demokratie sich um nichts anderes dreht als »die andere Seite zu schlagen«, wie bei einer Diskussion an der Oxford Union. Dieses moralisch überlegene Gutmenschentum bezeugt seine Ausbildung an einer öffentlichen Schule sowie sei­ne Oxbridge-Karriere: In seinen Augen sieht man die unerschütterliche Selbstsicherheit des wahren Idioten glitzern. Blair sieht sich selbst gern als einen Politiker mit Überzeugungen, doch abgesehen von seiner imperialistischen Unnachgiebigkeit (die selbst Symptom des Glaubens an seine angeborene Überlegenheit ist), woran GLAUBT er eigentlich? Es ist durchaus bezeichnend, dass das einzige, was er gegen die öffentliche Meinung verteidigte, der Krieg war.

Blairs Motto »Bildung, Bildung, Bildung« ist der schlechteste Witz von allen (und zwar nicht nur, weil er einem der dümmsten Kabinette in der Geschichte vorstand, ein weiterer Beweis für die Wunder einer Oxbridge-Ausbildung). Vielleicht hat er »mehr Geld in die Bildung gesteckt«, aber das ist sinnlos, wenn das Geld an Mittlerorganisationen, inkompetente Administratoren und leere »Initiativen« geht, die sowieso zum Scheitern verurteilt waren oder zwecklos gewesen wären, wenn sie denn funktioniert hätten.

Die »Lösung« des Problems der Bildungsförderung nach dem Modell eines »Dritten Wegs« ist eine typische Blair-Katastrophe. Die Ausstattung von Colleges wird jetzt an den Studierendenzahlen gemessen, mit dem Ergebnis, dass sich die Studenten nun als »Konsumenten« begreifen – das heißt, dass die Cleveren sehr schnell begreifen, dass selbst Beleidigungen oder Gewalt nicht dazu führen, dass man des Colleges verwiesen wird, denn das würde ja einen finanziellen Einschnitt bedeuten. Studenten mit Verhaltensproblemen sollten nicht einfach abgewiesen werden, aber sie sollten auch nicht weiter das College besuchen können, als sei nichts passiert. Man reicht die Verantwortung weiter an den Student und an die anderen Mitstudierenden, deren Lernumgebung leidet, wenn solches Verhalten geduldet wird. Die Entscheidung für einen »Dritten Weg« hat einzig institutionellen Zynismus zur Folge. »Zielvorgaben« und leistungsgebundene Mittel – also das, was die Ökonomen »Reformen« nennen, als Realismus verkleidete Ideologie – schafft Verhältnisse, in denen nur Bürokratie und diejenigen, die bürokratisch denken, wachsen können. Wenn man Bildung und andere öffentliche Dienstleistungen verbessern möchte, muss man die offenkundige Wahrheit akzeptieren (und eine solche Wahrheit ist das Gegenteil von Ideologie), dass die meisten Angestellten in diesen Bereichen nicht käuflich sind, dass es ihnen nicht nur um »sich und ihre Familie« geht. Es wäre besser, ihnen mehr Kontrolle zu geben; auf jeden Fall sollte man eingreifen, wenn es schief geht, aber man sollte nicht glauben, dass es besser läuft, wenn Bürokraten das Ganze steuern (die gesamte Wirklichkeit ist ein Gegenbeweis für diese absurde Idee).

Ich gebe zu, dass, wenn morgen die Ergebnisse kommen, ich – emotional und unreflektiert – für die »linken« Parteien sein werde. Natürlich will ich sehen, wie Galloway Oona King in den Arsch tritt oder wie Letwin seinen Sitz verliert. Aber eben auf genau dieselbe Art und Weise, wie ich sehen möchte, dass Teilnehmer X Teilnehmer Y bei Big Brother besiegt; es ist reine Sentimentalität, so zu tun, als hätte dieses Spektakel irgendwelche Folgen. In einer liberalen Demokratie zu ihren besten Zeiten wird das immer so sein, aber ganz besonders in einem Land, das ein so korruptes und ungerechtes Wahlsystem hat wie Großbritannien. Hari hat recht, wenn er schreibt, dass in den Achtzigern 56% der Wähler für linke Parteien gestimmt haben, aber weil die die Stimmen zwischen Labour und den Liberalen Demokraten geteilt wurden, die Tories ihre Schreckensherrschaft aufrechterhalten konnten. Aber das ist ein Argument für eine dringende Reform des Wahlsystems, nicht für eine Stimme für New Labour.

Wie im Blog I.T. [von Nina Power] zu Recht steht, ist der Satz »Menschen sind für das Wahlrecht gestorben« viel zu simpel. Die Soldaten der Wehrmacht sind für die Ehre des Vaterlandes gestorben – heißt das, ich soll jetzt Nazi sein? Katholiken haben für ihren Glauben an die Transsubstantiation gebrannt: Soll ich also Buße tun und am Sonntag in die Kirche gehen? Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass niemand, aber wirklich niemand dafür gestorben ist, dass er zwischen Blair und Howard »entscheiden« kann.

Die Privatisierung von Stress 238

Ivor Southwood erzählt die Geschichte, wie er eines Morgens, zu einer Zeit, als er unterbeschäftigt war – er hatte nur kurzfristige, in letzter Minute von den Arbeitsagenturen ausgehändigte Verträge –, den Fehler machte, in den Supermarkt zu gehen.239 Als er zurück nach Hause kam, merkte er, dass die Agentur angerufen hatte, um ihm die Arbeit für diesen Tag anzubieten. Bei seinem Rückruf sagte man ihm, dass der Arbeitsplatz schon vergeben war – und man rügte ihn wegen seiner Unzuverlässigkeit. »Zehn Minuten«, so Southwood, »sind ein Luxus, den sich der Tagesarbeiter nicht leisten kann«. Man erwartet, dass dieser Typus des Arbeiters draußen vor der metaphorischen Fabrik wartet, in voller Montur und zwar jeden Morgen. Unter solchen Bedingungen,

 

»wird der Alltag prekär. Es wird schwer, zu planen oder Gewohnheiten anzunehmen. Arbeit welcher Art auch immer kann jeden Moment beginnen oder enden und die Verantwortung, etwas Neues zu finden und zwischen den Rollen hin und her zu springen, liegt immer beim Arbeiter. Das Individuum lebt in einem Zustand der ständigen Bereitschaft. Ein kalkulierbares Einkommen, Ersparnisse, die Kategorie des ›Berufs‹: all das gehört zu einer Welt, die Geschichte ist.«240

Es ist nicht überraschend, dass Menschen, die in solchen Verhältnissen leben – in denen ihre Arbeitszeit und ihre Bezahlung ständig steigt oder sinkt und die Arbeitsverhältnisse äußerst fragil sind –, Angst haben, depressiv und ohne Hoffnung sind. Und auf den ersten Blick ist es vielleicht bemerkenswert, wie viele Arbeiter überzeugt wurden, diese Bedingungen als »natürlich« zu akzeptieren und die Ursachen für den Stress, den sie verspüren, in ihrem Inneren suchen – in der Chemie ihres Gehirns oder ihrer persönlichen Biographie. Aber in dem ideologischen Feld, das Southwood aus der Innenperspektive beschreibt, ist diese Privatisierung des Stress einfach nur ein weiteres selbstverständliches Merkmal einer scheinbar entpolitisierten Welt. Ich habe versucht, dieses Feld mit dem Begriff des »kapitalistischen Realismus« zu beschreiben; und die Privatisierung von Stress hat für dessen Entstehung eine wichtige Rolle gespielt.

Kapitalistischer Realismus bezeichnet den weitverbrei­teten Glauben, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt – obwohl »Glauben« vielleicht ein irreführender Begriff ist in Anbetracht der Tatsache, dass die Logik des kapitalistischen Realismus sowohl in den institutionellen Praktiken des Arbeitsplatzes veräußert wird, als auch in den Köpfen der einzelnen sich findet. In seinen Studien zur Ideologie zitiert Althusser den Satz Pascals: »Knie nieder, bewege die Lippen und du wirst glauben.« Auf psychischer Ebene entsteht ein Glaube dann, wenn man so tut als ob und die offiziellen Sprachen und Verhaltensweisen übernimmt. Das bedeutet, dass, egal wie sehr Einzelne oder Gruppen die Sprache der Konkurrenz, des Unternehmertums und des Konsums, die seit den 1980er die britischen Institutionen durchzieht, verachten oder belächeln, unsere allgemeine, rituelle Komplizenschaft mit dieser Terminologie dazu beigetragen hat, dass die Herrschaft des Kapitals naturalisiert und jeder Widerstand neutralisiert wurde.

Verdeutlichen lässt sich die Form des kapitalistischen Realismus heute, wenn wir den Bedeutungswandel von Thatchers berühmtem Motto »Es gibt keine Alternative« betrachten. Als Thatcher diesen Satz sagte, lag die Betonung auf der Präferenz: Der neoliberale Kapitalismus ist das bestmögliche System; die Alternativen sind unerwünscht. Inzwischen hat der Satz eine Art ontologisches Gewicht angenommen – Kapitalismus ist nicht nur das bestmögliche System, es ist das einzig mögliche System; Alternativen sind dürftig, geisterhaft, kaum vorstellbar. Der Erfolg des Kapitalismus seit 1989, seine Gegner in die Flucht zu schlagen, hat dazu geführt, dass er dem ultimativem Ziel der Ideologie nahegekommen ist – ihrer Unsichtbarkeit. Zumindest im globalen Norden präsentiert sich der Kapitalismus als die einzig mögliche Wirklichkeit und »erscheint« darum fast gar nicht mehr als solcher. Atilio Boron schreibt, dass der Kapitalismus eine »unauffällige Position hinter der politischen Bühne eingenommen [hat], als unsichtbares, strukturelles Fundament unserer zeitgenössischen Gesellschaft«, und zitiert Bertolt Brechts Bemerkung, der Kapitalismus sei ein Gentleman, der nicht beim Namen genannt werden will.241

Die deprimierende Wirklichkeit von New Labour

Es war davon auszugehen, dass die Rechten unter Thatcher (und nach ihr) verkünden, dass es keine Alternative zum Programm des Neoliberalismus gibt. Aber der Sieg des kapitalistischen Realismus konnte in Großbritannien nur gelingen, weil die Labour-Partei sich dieser Perspektive ergeben und als den Preis der Macht akzeptiert hat, dass »Geschäftsinteressen, im engeren Sinne verstanden, in Zukunft die Form und Richtung der gesamten Kultur bestimmen können«.242 Aber vielleicht wäre es richtiger zu sagen, dass Labour sich nicht einfach ergeben hat, sondern, dass sie die ersten waren, die den kapitalistischen Realismus in den britischen Mainstream eingeführt haben und zwar als James Callaghan 1976 seine berüchtigte Rede auf der Labour-Versammlung in Blackpool gehalten hat:

»Zu lange, vielleicht schon seit dem Krieg, haben wir es versäumt, uns den fundamentalen Entscheidungen und Veränderungen der Wirtschaft zu stellen […] Wir haben Zeit geschunden […] Die gemütliche Welt, von der man uns gesagt hat, dass sie für immer existieren wird, wo Vollbeschäftigung durch einen Federstrich des Kanzlers garantiert ist – diese gemütliche Welt gibt es nicht mehr…«

Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass Callaghan vorausgesehen hat, in welchem Maße Labour sich in der Politik des »wirtschaftlichen Appeasements« engagieren würde oder dass die gemütliche Welt, der er den letzten Segen sprach, durch die verallgemeinerte Unsicherheit ersetzt wurde, die Ivor Southwood beschreibt.

Labours Nachsicht gegenüber dem kapitalistischen Realismus kann natürlich nicht einfach als Fehler abgetan werden: Sie war eine Folge des Zerfalls der Machtbasis der Linken im Zuge der postfordistischen Restrukturierung des Kapitalismus. Die Merkmale dieser Restrukturierung – Globalisierung, die Verdrängung der Produk­tion durch die Computerisierung, die Prekarisierung der Arbeit, die Intensivierung der Konsumkultur – sind uns inzwischen so vertraut, dass sie wie selbstverständlich den Hintergrund unseres Lebens bilden. Das ist der Kontext der vermeintlich postpolitischen und nicht hinterfragbaren »Wirklichkeit«, auf die sich der kapitalistische Realismus beruft. Die Warnungen Stuart Halls und anderer in Marxism Today Ende der 1980er Jahre stellten sich als absolut richtig heraus: Die Linke wird überflüssig, wenn sie weiter an der verschwindenden Welt des Fordismus festhält und es versäumt, in der postfordistischen, neuen Welt hegemonial zu werden.243 Das Projekt von New Labour zielte aber gerade nicht auf Hegemonie, sondern beruhte darauf, die Unmöglichkeit, im Postfordismus die Macht zu erlangen, zuzugeben: Das einzig Vorstellbare war eine mildere Form des Neoliberalismus.

In Italien erkannten die Denker der Autonomia wie Berardi und Negri, dass man sich der Zerstörung der Welt, in der die Linke entstanden war, stellen und sich den Verhältnissen des Postfordismus anzupassen hatte, wenn auch auf andere Weise. In einer Reihe von Briefen aus den 1980er Jahren stellt Negri den schmerzhaften Übergang von den revolutionären Hoffnungen zur Niederlage gegenüber dem triumphalistischen Neoliberalismus folgendermaßen dar:

»Wir müssen den Tod der Wahrheit, unserer Wahrheit, leben und erleiden. Wir müssen ihre Repräsentation, ihre Kontinuität und Erinnerung zerstören. Jede Verleugnung, dass die Wirklichkeit sich geändert hat und damit auch die Wahrheit, muss abgelehnt werden. Das Blut in unseren Adern muss ausgetauscht werden.«244

Was wir derzeit beobachten sind die Folgen der Unfähigkeit der Linken, sich den Herausforderungen, die Negri benennt, zu stellen. Es scheint nicht weit hergeholt, wenn man konstatiert, dass große Teile der Linken einer kollektiven klinischen Depression verfallen sind, mit Symptomen wie Sich-Zurückziehen, fehlender Motiva­tion oder der Unfähigkeit zu handeln.

Ein Unterschied zwischen Traurigkeit und Depression besteht darin, dass sich Traurigkeit als zufälliger, temporärer Zustand versteht, während Depression als notwendig und unendlich erscheint: Die gefrorenen Oberflächen der Welt des Depressiven erstrecken sich bis ans Ende des Horizonts. Versunken im depressiven Zustand, empfindet das Subjekt seine Melancholie nicht als pathologisch oder abnormal. Die Überzeugung, dass jedes Handeln sinnlos ist, dass unter dem Schein der Tugend einzig Bestechlichkeit schlummert, ist für den Leidenden eine Wahrheit, die er oder sie bereits begriffen hat, während andere noch zu verblendet sind, um sie wahrzunehmen. Es gibt auf jeden Fall eine Beziehung zum scheinbaren »Realismus« des Depressiven und seinen radikal herunter geschraubten Erwartungen und dem kapitalistischen Rea­lismus.

Die erwähnte Depression wurde nicht kollektiv erfahren: Im Gegenteil, frühere Formen der Kollektivität zerfielen und neue Formen der Atomisierung entstanden. Ohne die festen Anstellungen, die sie früher noch erwarten konnten, ohne die Solidarität der Gewerkschaften, befanden sich die Arbeiter in Konkurrenz zueinander und zwar in einem ideologischen Kontext, der genau diese Konkurrenz naturalisiert. Einige Arbeiter haben sich niemals wieder von dem traumatischen Schock erholt, den das plötzliche Ende der fordistischen, sozialdemokratischen Welt bedeutete; daran sollte man sich erinnern, wenn heute die Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten Leistungen wegen Arbeitsunfähigkeit verweigert. Es handelt sich dabei um den Höhepunkt einer Privatisierung des Stresses, die in Großbritannien in den 1980er Jahren begann.

Die Belastungen des Postfordismus

Schon der Übergang vom Fordismus zum Postfordismus kostete einige psychische Opfer, aber es war der Postfordismus, der ganz neue Formen der psychischen Belastung hervorbrachte. Anstatt bürokratische Verordnungen abzuschaffen, wie es die neoliberalen Ideologen versprachen, hat die Verbindung von neuer Technologie und Management-Strategien den Verwaltungsdruck auf die Arbeiter erhöht, die nun gezwungen sind, ihre eigenen Controller zu sein (was nicht verhindert, dass sie auch noch von vielen zahlreichen äußeren Prüfern überwacht werden). Arbeit, egal wie prekär, schließt immer häufiger auch eine Art Meta-Arbeit ein: das Ausfüllen von Prüfbüchern, das Aufschreiben von Zielen und Arbeitsschritten sowie das Engagement in der sogenannten »kontinuierlichen Weiterbildung«.

Am Beispiel der akademischen Arbeit beschreibt der Blogger Savonarola, wie das System der ständigen und allgegenwärtigen Bewertungen einen konstanten Zustand der Anspannung hervorruft:

»Was in der derzeitigen fake-neoliberalen, akademischen Arbeit unter anderem um sich greift ist die Inflation des Lebenslaufs: Omso mehr die verfügbaren Stellen kafkaesk in die Ferne rücken und nahezu unvorstellbar werden, umso mehr ist der elende Träger245 des akademischen Kapitals gezwungen, nicht nur den Plan zu übererfüllen, sondern auch jeden produktiven Akt […] aufzuzeichnen. Die einzige Sünde ist, etwas nicht zu dokumentieren […] In diesem Sinne ist der Übergang von […] der periodischen und vorsichtigen Messung […] zur ständigen und allgegenwärtigen Messung nichts anderes als das Ergebnis einer Art Stachanowisierung der immateriellen Arbeit, die wie ihr stalinistisches Vorbild jenseits einer instrumentellen Begründung liegt und gar nicht anders kann, als eine permanente Unterströmung der Anspannung hervorzurufen (denn es gibt keinen Maßstab, kein Arbeitspensum wird jemals dafür sorgen, dass du sicher bist).«246

Es wäre naiv zu glauben, dass diese »permanente Unterströmung der Anspannung« ein zufälliger Nebeneffekt der Durchsetzung dieser Selbstüberwachungstechniken ist, die grandios darin scheitern, die proklamierten Ziele zu erreichen. Niemand anderes als Philip Blond konstatierte, dass »die marktwirtschaftlichen Lösungen eine enorme und kostspielige Bürokratie von Buchhaltern, Gutachtern, Inspektoren, Controllern und Prüfern hervorbringt, die alle mit Qualitätssicherung und Kontrolle beschäftigt sind, was Innovationen und Experimente verhindert und hohe Kosten produziert.«247 Das Zugeständnis ist gut, aber es ist wichtig, sich der Vorstellung zu widersetzen, dass das offenkundige »Scheitern« des Managerialismus einfach ein »Versehen« eines Systems ist, dem es eigentlich um größere Effizienz geht. Stattdessen dienen diese Initiativen ihrem wirklichen, wenn auch verdeckten Ziel, weiter die Macht und Autonomie der Arbeiter zu untergraben, um zugleich den Reichtum und die Macht der Hyperprivilegierten wiederherzustellen.

Ständige Überwachung steht mit Prekarität in enger Ver­bindung. Und wie Tobias van Veen schreibt, konfrontiert prekäre Arbeit das Subjekt mit einer »ironischen, aber auch fatalen« Forderung. Auf der einen Seite hört die Arbeit niemals auf: Der Arbeiter soll immer verfügbar sein und hat keinen Anspruch auf ein Privatleben. Auf der anderen Seite ist das Prekariat vollkommen entbehrlich, selbst wenn es alle Autonomie aufgegeben hat, um den Job zu behalten.248 Der Tendenz nach wird heute alle Arbeit prekär. Das Kapital, so Franco Berardi, »rekrutiert keine Menschen mehr, sondern Zeitkontingente, unabhängig vom austauschbaren und zufälligen Träger.«249 Diese »Zeitkontingente« hängen nicht an einer Person mit Rechten oder Forderungen: Sie sind entweder verfügbar oder nicht.

 

Berardi spricht auch über die Effekte der digitalen Telekommunikation; sie produzieren, wie er schreibt, ein Gefühl der Panik, wenn die Individuen einem kaum zu beherrschenden Datengewitter ausgesetzt sind:

»Die Beschleunigung des Datenaustauschs […] produziert pathologische Effekte für den menschlichen und mehr noch den kollektiven Geist. Die Individuen sind nicht mehr in der Lage, die immense und immer mehr ansteigende Masse an Informationen zu verarbeiten, die ihre Computer, Handys, Fernseher, ihre elektronischen Tagebücher und ihr Kopf ausspucken. Und trotzdem scheint es unerlässlich, diese Informationen zu verfolgen, zu erkennen, aufzunehmen und zu beurteilen, wenn man effizient, wettbewerbsfähig und erfolgreich sein möchte.«250

Eine der Folgen moderner Kommunikationstechnologien ist, dass es kein Außen mehr gibt, in dem man sich erholen könnte. Der Cyberspace macht die Idee eines »Arbeitsplatzes« archaisch. Nun, da erwartet wird, dass man praktisch jederzeit auf eine E-Mail antwortet, ist die Arbeit nicht mehr an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit gebunden. Es gibt keinen Ausweg – und das nicht nur, weil sich die Arbeit grenzenlos ausdehnt. Diese Entwicklungen sind auch in unsere Libido eingedrungen, so dass die »Bindung« durch die digitale Kommunikation gar nicht immer als etwas nur Unangenehmes empfunden wird. Wie Sherry Turkle zeigt, sind zwar viele Eltern inzwischen enorm gestresst bei dem Versuch, mit den Emails und Nachrichten mitzuhalten, während sie zugleich ihren Kindern die notwendige Aufmerksamkeit geben, aber trotzdem werden sie auf magische Weise von ihren technischen Geräten angezogen:

»Sie können keinen Urlaub machen, ohne ihr Büro mitzunehmen; ihr Büro ist ihr Handy. Sie beschweren sich, dass die Kollegen sich darauf verlassen, dass sie immer online sind, aber dann geben sie zu, dass die Anhänglichkeit bezüglich ihrer Geräte alle professionellen Erwartungen übersteigt.«251

Dinge, die man vermeintlich für die Arbeit tut, selbst wenn das im Urlaub oder spätabends geschieht, werden nicht einfach als unangemessene Forderungen wahrgenommen. Aus psychoanalytischer Perspektive ist es leicht zu verstehen, warum diese Erwartungen – Erwartungen, die man unmöglich erfüllen kann – libidinös besetzt werden, da diese Art Forderungen genau dieselbe Form haben, wie der Trieb selbst.

Jodi Dean hat überzeugend dargelegt, dass der Zwang zur digitalen Kommunikation vom (freudianisch oder lacanianisch verstandenen) Trieb gekapert wird: Die Individuen werden in sich wiederholenden Schleifen gefangen, sie merken, dass ihre Aktivitäten sinnlos sind, aber können trotzdem nicht widerstehen.252 Die endlose Zirkulation der digitalen Kommunikation liegt jenseits des Lustprinzips: der unersättliche Drang, Nachrichten, E-Mails oder Facebook zu checken, so wie ein Jucken, das immer schlimmer wird, wenn man es kratzt. Wenn es keine neuen Nachrichten gibt, ist man enttäuscht und schaut gleich noch einmal nach. Aber wenn es welche gibt, ist man auch enttäuscht, denn es kann niemals genug geben.

Sherry Turkle hat mit Menschen gesprochen, die nicht aufhören können, Nachrichten auf ihrem Telefon zu schreiben, sogar wenn sie Auto fahren. Auf die Gefahr hin, einen schlechten Witz253 zu machen, hier haben wir ein wunderbares Beispiel für den Todestrieb, bei dem es nicht darum geht, sterben zu wollen, sondern einem Zwang zu erliegen, der so mächtig ist, dass einem der Tod egal ist. Das Bemerkenswerte ist der banale Inhalt des Triebes. Wie haben es nicht mit einer Tragödie wie Die roten Schuhe zu tun, worin eine Ballerina von dem erhabenen Taumel des Tanzes getötet wird: Hier geht es um Menschen, die ihr Leben riskieren, um eine Nachricht mit 140 Zeichen zu öffnen, von der sie ganz genau wissen, dass sie wahrscheinlich sinnlos ist.

Öffentliche Erneuerung oder private Heilung?

Die Privatisierung von Stress ist ein perfektes Kontrollsystem, elegant in seiner brutalen Effizienz. Das Kapital macht den Arbeiter krank und multinationale Pharmakonzerne verkaufen ihm die Medikamente, damit es ihm besser geht. Die gesellschaftlichen und politischen Gründe des Leides werden sauber verdrängt, während die Unzufriedenheit zugleich individualisiert und verinnerlicht wird. Dan Hind argumentiert, dass die Konzentration auf Serotoninmangel als angeblicher »Ursache« für Depression einige der gesellschaftlichen Gründe verdeckt, beispielsweise einen auf Konkurrenz bedachten Individualismus und Lohnungleichheit. Obwohl es zahlreiche Studien gibt, die den Zusammenhang zwischen individuellem Glück und politischer Partizipation und einem sozialen Netzwerk aufzeigen (sowie einem gerechten Einkommen), gibt es kaum eine öffentliche Reaktion auf das private Elend.254

Es ist offenkundig einfacher, ein Medikament zu verschreiben, als die Organisation der Gesellschaft zu verändern. Derweil, so Hind, gibt es »eine Menge Unternehmen, die Glück anbieten, und zwar sofort, mit ein paar einfachen Schritten«. Sie werden von Menschen vermarktet, »die kein Problem damit haben, innerhalb der Grenzen dessen zu operieren, was die Kultur als Glück und Erfüllung versteht« und die den »großen Einfallsreichtum der kommerziellen Überzeugung« zugleich exem­plifizieren und untermauern.

Das psychiatrisch-pharmakologische Regime spielt bei der Privatisierung von Stress eine zentrale Rolle, aber es ist wichtig, nicht zu übersehen, dass die vermeintlich ganzheitlichen Ansätze der Psychotherapie auf noch perfidere Weise dazu beitragen, Stress zu entpolitisieren. Der radikale Therapeut David Smail schreibt, dass Margaret Thatchers Motto, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gibt, sondern nur Individuen und ihre Familien, aus »so gut wie allen therapeutischen Ansätzen widerhallt«.255 Kognitive Verhaltenstherapie beispielsweise kombiniert den Fokus auf die frühe Kindheit (eine Art Psychoanalyse light) mit der Selbsthilfe-Doktrin, dass Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen können. Smail findet dafür den enorm sinnvollen Namen magischen Voluntarismus, also die Annahme, dass, »mithilfe deines Therapeuten oder Betreuers, du die Welt verändern kannst, für die du in letzter Instanz verantwortlich bist, so dass sie dich nicht länger belastet.«256

Die Verbreitung des magischen Voluntarismus hat entscheidend zum Erfolg des Neoliberalismus beigetragen; man könnte so weit gehen zu sagen, dass es sich um die spontane Ideologie unserer Zeit handelt. Ideen aus der Selbsthilfe-Therapie sind in beliebte Fernsehshows gewandert.257 The Ophra Winfrey Show ist wahrscheinlich das bekannteste Beispiel, aber auch britische Sendungen wie Mary, Queen of Shops und The Fairy Jobmother haben sich dem magischen Voluntarismus und seinem psychischen Unternehmertum verschrieben: Diese Sendungen verkünden, dass unser produktives Potenzial in uns selbst liegt. Und wenn wir keinen Erfolg haben, dann einfach, weil wir nicht genug Arbeit in den Wiederaufbau unseres Selbst gesteckt haben.

Die Privatisierung von Stress war Teil eines Projektes, das auf die fast vollständige Zerstörung der Idee der Öffentlichkeit zielt – das, worauf psychisches Wohlergehen fundamental beruht. Was wir dringend brauchen, ist eine Politik der psychischen Gesundheit, die um den Begriff des öffentlichen Raumes herum organisiert ist. Nach ihrem Bruch mit der alten stalinistischen Linken wollten die verschiedenen Neuen Linken einen entbürokratisierten, öffentlichen Raum und Arbeiterautonomie: Was sie bekamen, war Managerialismus und Shopping. Die derzeitige Situation in Großbritannien – wo die Wirtschaft und ihre Verbündeten dabei sind, die letzten Relikte der Sozialdemokratie zu zerstören – ist eine Art höllische Inversion des autonomistischen Traums der vom Staat, den Bossen und der Bürokratie befreiten Arbeiter. In einer beeindruckend perversen Wendung müssen die Arbeiter auf einmal unter immer schlechteren Bedingungen für schlechteren Lohn härter arbeiten, während die Agenten der Elite die Abschaffung der öffentlichen Dienst­leistungen planen, von denen die Arbeiter abhängig sind.