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Warum psychische Gesundheit ein politisches Thema ist 279

»Durch den Wohlfahrtsstaat versuchte Selbstmorde gibt es nicht. Suizid ist eine Frage der psychischen Gesundheit.« Dieser Satz, geäußert vom Labour-Politiker Luke Bozier, stellt im Grunde die Standardantwort der Rechten auf die Website Calum’s List dar.280 Laut ihren Gründern besteht das Ziel der Website darin, »die Zahl des To­des­fälle aufzulisten, bei denen die Reform des Sozialstaates eine gewisse Schuld trifft und das Beste zu tun, um diese Anzahl zu minimieren.« Boziers Kommentar auf Twitter bezog sich auf Blogbeiträge von Isabel Hardman281 vom Spectator und Brendan O’Neill282 vom Telegraph.

In den sich widersprechenden Argumenten dieser drei Autoren gegen Calum’s List lag mehr als ein Hauch von Freuds »Logik des Kessels« (ich habe deinen Kessel nicht geborgt; als ich deinen Kessel geborgt habe, war er schon kaputt; als ich deinen Kessel zurückgegeben habe, war er noch ganz). Der wesentliche Einwand lautete: Die Selbstmorde wurden nicht von den Reformen verursacht, weswegen sie zu erwähnen ein Akt der opportunistischen Ausbeutung ist; wenn die Reformen dafür verantwortlich waren, ist das trotzdem kein Grund, sie abzuschaffen; das Problem sind nicht die Reformen, sondern wie sie durch­gesetzt werden (d.h. diejenigen, die wieder arbeiten müs­sen, brauchen angemessene Unterstützung); Suizid ist kein rationaler Akt, was bedeutet, dass er keinen politischen Gehalt haben kann. Ich möchte hier nicht darüber schreiben, ob einzelne Fälle von der neuen Gesetzgebung verursacht wurden oder nicht. Ich möchte aber der bizarren Idee widersprechen, dass die Selbstmorde ganz prinzipiell nicht als Beweise gegen die Reformen des Sozialwesens herangezogen werden können. Wenn die Tatsache, dass Menschen aufgrund der Durchsetzung neuer Regeln sterben nicht als Beweis gelten kann, dass die Gesetze schädliche Folgen zeitigt, was dann?

O’Neill hat eine merkwürdig arrogante Haltung gegenüber Selbstmord, wenn er schreibt, dass Suizid »keine rationale Antwort auf wirtschaftliche Belastungen ist; es ist keine vernünftige Reaktion auf die Kürzung von So­zial­leistungen«. Dabei handelt es sich um ein spektakuläres Missverständnis: Für viele, die an psychischen Krankheiten leiden, ist die Fähigkeit, rational zu handeln, eingeschränkt, was ein Grund ist, warum sie geschützt werden müssen. Und was den Vorschlag betrifft, dass diejenigen, die zurück zur Arbeit müssen, eine angemessene Unterstützung brauchen: Das Fehlen einer solchen Unterstützung ist genau das Problem.

Atos, die Firma, die zu prüfen hat, ob jemand gesund genug ist, um wieder zur Arbeit zu gehen, hat bei vielen Klagen gegen ihre Gutachten am Ende gewonnen. Und wer kann schon darauf vertrauen, dass die Regierung diejenigen, die zurück zur Arbeit müssen, richtig unterstützt, wenn sie die Betreuung dieser Rückkehr in den Job einer diskreditierten Agentur wie A4e überantwortet?

Es gibt hier aber ein größeres Problem. Einige der rechten Kommentatoren haben Calum’s List die »Politisierung« psychischer Krankheiten vorgeworfen, aber tat­sächlich stimmt das Gegenteil. Geistige Gesundheit wurde entpolitisiert, damit wir fröhlich einen Zustand akzeptieren, in dem Depression die von der nationalen Gesundheitsbehörde (NHS) am meisten behandelte Krankheit ist. Die neoliberalen Maßnahmen, die Thatchers Regierung in den 1980er begonnen hat zu implementieren und die dann unter New Labour und der derzeitigen Koa­lition weitergeführt wurden, haben zu einer Privatisierung des Stresses geführt. Unter neoliberaler Führung stagnier­ten die Löhne und die Arbeitsbedingungen und Jobsicherheit wurden immer prekärer. Wie der Guardian heute berichtet, steigen die Selbstmorde unter Männern mittleren Alters, was Jane Powell, die Vorstandsvorsitzende von Calm, der »Campaign Against Living Miserably«, mit der gestiegenen Arbeitslosigkeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen in Verbindung bringt.283 Aufgrund der zunehmenden Gründe für psychische Belas­tungen ist es nicht überraschend, dass große Teile der Bevölkerung sich selbst als chronisch deprimiert empfinden. Doch die Medikalisierung der Depression ist Teil des Problems.

Wie das Bildungssystem oder andere öffentliche Diens­te war auch die nationale Gesundheitsbehörde mit den sozialen und psychischen Schäden konfrontiert, die durch die absichtliche Zerstörung von Solidarität und Sicherheit entstanden waren. Wo sich Arbeiter früher, wenn sie unter Stress standen, an Gewerkschaften wenden konnten, legt man ihnen heute nahe, zum Hausarzt oder – wenn sie das Glück haben und einen bekommen – zu ihrem Therapeuten zu gehen.

Es wäre zu einfach, wenn man behauptet, dass jeder einzelne Fall von Depression auf ökonomische und politische Ursache zurückgeführt werden kann; aber ebenso ist es zu kurz gegriffen – wie es die meisten Herangehensweisen an Depression tun –, wenn man sagt, dass die Gründe dieser Krankheit immer in der individuellen Gehirnchemie oder frühen Kindheitserfahrungen liegen. Die meisten Psychiater gehen davon aus, dass psychische Krankheiten durch ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn ausgelöst werden, was durch Medikamente behandelt werden kann. Aber die gesellschaftlichen Faktoren werden in der Psychotherapie kaum angesprochen.

Der radikale Therapeut David Smail behauptet, dass Margaret Thatchers Motto, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gibt, sondern nur Individuen und ihre Familien, aus »so gut wie allen therapeutischen Ansätzen widerhallt«. Kognitive Verhaltenstherapie beispielsweise kom­biniert den Fokus auf die frühe Kindheit mit der Selbsthilfe-Doktrin, dass Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen können. Die Idee also ist, dass, »mithilfe deines Therapeuten oder Betreuers, du die Welt verändern kannst, für die du in letzter Instanz verantwortlich bist, so dass sie dich nicht länger belastet.« Smail nennt das »magischen Voluntarismus«.

Depression ist die Schattenseite unserer Wirtschaftskultur, sie ist, was passiert, wenn der magische Voluntarismus auf eingeschränkte Möglichkeiten stößt. Wie der Psychologe Oliver James in seinem Buch The Selfish Capitalist schreibt, wird uns gesagt, dass, »in der Phantasiegesellschaft des Unternehmers«, nur »die Wohlhabenden gewinnen und jeder, der hart genug arbeitet, es bis ganz nach oben schaffen kann, unabhängig vom familiären, ethnischen oder gesellschaftlichen Hintergrund – wenn man keinen Erfolg hat, liegt die Schuld bei dir.« Es ist höchste Zeit, dass die Schuld woanders gesucht wird. Die Privatisierung von Stress muss umgekehrt werden und wir müssen erkennen, dass geistige Gesundheit ein politisches Thema ist.

Zeitkriege:
Für eine Alternative zur neokapitalistischen Ära284

In dem neuen Science-Fiction-Film In Time ist nicht Geld, sondern Zeit die herrschende Währung. Ab ihrem 25. Lebensjahr bekommen die Bürger der im Film inszenierten Zukunftsgesellschaft noch ein Jahr auf Erden zugesprochen. Möchten sie länger leben, müssen sie Extrazeit verdienen. Die dekadenten Reichen besitzen Jahrzehnte an leerer Zeit, die sie vergeuden können, während die Armen immer Tage oder Stunden vom Tod entfernt sind. Im Grunde ist In Time der erste Science-Fiction-Film über Prekarität – ein Wort, das nicht nur eine bestimmte Form der Arbeit, sondern auch einen existenziellen Zustand beschreibt.

Auf grundsätzlichster Ebene ist Prekarität das Ergebnis der »postfordistischen« Umstrukturierung der Arbeit, die in den späten 1970er Jahren begonnen hat: Flexible Arbeitsformen traten an die Stelle von festen Anstellungsverhältnissen. Doch selbst wer noch in relativ sicheren Verhältnissen arbeitet, ist vor Prekarität nicht sicher. Viele Arbeiter müssen nun ihren Status regelmäßig durch ein System der »kontinuierlichen Weiterbildung« bestätigen; so gut wie jede Arbeit, wie untergeordnet auch immer, schließt inzwischen Formen der Selbstüberwachung ein, bei denen der Arbeiter seine eigene Leistung überprüfen muss. Der Lohn wird immer öfter an den Arbeitsoutput angepasst, obwohl dieser Output immer seltener materiell messbar ist.

Eine langfristige Planung gibt es für die meisten Arbeiter nicht. Wie der Soziologe Richard Sennett in seinem Buch Der flexible Mensch schreibt, lebt der postfordistische Arbeiter »in einer Welt, die von einer kurzfristigen Flexibilität und ständigem Fluß gekennzeichnet ist. […] Unternehmen zerfallen oder fusionieren, Jobs tauchen auf oder verschwinden, wie zusammenhangslose Geschehnisse.«285 Im Laufe der Geschichte haben die Menschen gelernt, mit den traumatischen Erfahrungen von Krieg oder Naturkatastrophen umzugehen, aber das »Besondere an der heutigen Ungewißheit ist die Tatsache, daß sie nicht in Verbindung mit einer drohenden historischen Katastrophe steht, sondern vielmehr mit den alltäglichen Praktiken eines vitalen Kapitalismus verwoben ist.«286

Nicht nur die Arbeit ist heute anstrengender geworden. Die neoliberalen Angriffe auf den öffentlichen Dienst, Sozialhilfeprogramme und Gewerkschaften bedeuten, dass wir zunehmend in einer Welt ohne Sicherheit und Solidarität leben. Die Folge dieser Normalisierung der Unsicherheit ist ein ständiger Zustand der niedrigschwelligen Panik. Furcht, die sich an ein bestimmtes Objekt heftet, wird durch eine allgemeine Angst ersetzt, eine ständige Nervosität, die einen nicht zur Ruhe kommen lässt. Die Unsicherheit der Arbeit wird durch digitale Kommunikationstechnologie verstärkt. Sobald eine E-Mail kommt, gibt es weder feste Arbeitszeiten noch einen festen Arbeitsplatz.

 

Was versinnbildlicht unsere Gegenwart treffender als der ständige Blick auf die Nachrichten, die Möglichkeiten oder Forderungen enthalten können (oft beides zur selben Zeit) und, etwas abstrakter, auf unseren Status, der wie ein Börsenkurs ständig unter Beobachtung steht und niemals perfekt ist?

Von der »Freizeitgesellschaft«, die in den 1970er Jahren selbstbewusst verkündet wurde, sind wir weit entfernt. Anders als damals erhofft, hat uns die Technologie nicht von der Arbeit befreit. Wie Frederico Campagna in seinem Artikel »Radical Atheism« auf der Website Through Europe schreibt:

»Im derzeitigen Maschinenzeitalter […] haben Menschen endlich die Möglichkeit, die meisten Produk­tionsprozesse durch technische Apparate erledigen zu lassen und die Produkte für sich zu behalten. Mit anderen Worten, die (erste) Welt hat im Moment alles, was notwendig ist, um das alte autonomistische Motto ›keine Arbeit/voller Lohn/volle Produktion/vollautoma­tisch‹ zu verwirklichen. Und trotzdem werden die westlichen Gesellschaften im 21. Jahrhundert immer noch von der staubigen, kapitalistischen Dichotomie zerrissen, die einen tragisch überarbeiteten Teil der Bevölkerung einem ebenso tragisch unterforderten Teil gegenüberstellt.«287

Campagnas Forderung nach einem »radikalen Atheismus« beruht auf der Anerkennung, dass diejenige Prekarität, die nicht eliminiert werden kann, diejenige von Körper und Geist ist. Wenn es kein Leben nach dem Tod gibt, dann ist unsere Zeit begrenzt. Merkwürdigerweise tun wir Subjekte des Spätkapitalismus so, als könnten wir unendlich viel Zeit für die Arbeit verschwenden. Die Arbeit hängt über unseren Köpfen wie niemals zuvor. »In einer exaltierten und extremen Gesellschaft wie der unseren«, so Carl Cederström und Peter Fleming in ihrem Buch Dead Man Working, »hat das Arbeiten eine universelle Präsenz gewonnen«, eine Arbeitsgesellschaft im schlimmsten Sinne des Wortes, wo »die Arbeitslosen und selbst die Kinder [...] sich der Obsession nicht« können. Arbeit findet am Wochenende statt, am späten Abend, selbst in unseren Träumen. »Im Fordismus waren Wochenenden und Freizeit noch relativ unangetastet«, schreiben Cederström und Fleming, »sie sollten die Welt der Arbeit indirekt unterstützen. Heute jedoch ist das Kapital darauf aus, unsere Sozialität in allen Sphären des Lebens auszubeuten. Wenn wir alle ›Humankapital‹ werden, haben wir nicht nur einen Job oder verrichten einen Job.«288

Vor diesem Hintergrund ist klar, dass die meisten politischen Kämpfe heute Kämpfe um Zeit sind. In der um sich greifenden Schuldenkrise, die über allen Bereichen des kapitalistischen Lebens und der Kultur schwebt – von den Banken, zum Wohnungsmarkt bis zu den Studiengebühren –, geht es letztlich um Zeit. Die angebliche Katas­trophe abzuwehren (die Katastrophe vom Ende des Kapitalismus), wird das apokalyptische Zeitgefühl des Alltags noch verstärken, da die Antizipation des Unheils das Gefühl hervorruft, dass wir die Katastrophe schon erleben und dass sie, genau wie die Arbeit, niemals enden wird. Der Schuldenanstieg rechtfertigt die Verlängerung der Arbeitszeit und des Arbeitslebens, wenn das Rentenalter weiter erhöht wird. Wir befinden uns in einem Zustand der erzwungenen Betriebsamkeit, die niemals – so verspricht man uns – enden wird.

Die reaktive Panik, die die meisten von uns empfinden, ist kein zufälliger Nebeneffekt der postfordistischen Arbeit. Für das Kapital ist es enorm wichtig, dass unsere Zeit nicht nur quantitativ wenig, sondern auch qualitativ fragmentiert und zerteilt ist. Wir sind gezwungen, in einem Zustand der »ständigen, partiellen Aufmerksamkeit« zu leben, wie Linda Stone das genannt hat, wo unsere Aufmerksamkeit gewohnheitsmäßig auf verschiedene Kom­munikationsplattformen verteilt wird.

Wie Franco »Bifo« Berardi geschrieben hat, leben wir heute in der Spannung zwischen der Unendlichkeit des Cyberspace und der verletzbaren Endlichkeit des Körpers und des Nervensystems. »Die Beschleunigung des Informationsaustauschs produziert pathologische Effekte für den individuellen, aber schlimmer noch, für den kollektiven Geist«, schreibt Berardi in Precarious Rhapsody.

»Die Individuen können die Unmengen an Informationen nicht mehr verarbeiten, die durch ihre Computer, ihre Handys, ihre Fernseher, elektronische Tagebücher und durch ihre Köpfe rasen. Und trotzdem scheint es unerlässlich, diese Informationen zu verfolgen, zu erkennen und zu verarbeiten, wenn man effizient, wettbewerbsfähig und erfolgreich sein möchte. […] Doch es fehlt die Zeit, die notwendig ist, um mit dem Informationsfluss mitzuhalten.«289

Die Folge ist ein merkwürdiger, existenzieller Zustand, in dem Erschöpfung in schlaflose Überreizung übergeht (egal, wie müde wir sind, es ist immer noch Zeit für einen Klick) und Genuss und Angst nebeneinander leben (der Drang, die E-Mails zu checken, zum Beispiel, ist sowohl etwas, das wir für die Arbeit machen müssen, als auch ein libidinöser Zwang, ein Trieb, der niemals befriedigt wird, egal wie viele Nachrichten wir erhalten). Die Tatsache, dass die Smartphones uns im Grunde überall Zugang zum Cyberspace verschaffen, bedeutet, dass Langeweile (zumindest die alte Langweile des Fordismus) faktisch abgeschafft wurde. Und dennoch ist Langeweile, wie der Tod, eine existenzielle Bedrohung, die sich im Internet, wo man immer verfügbar ist, sehr leicht aufschieben lässt. Der kommunikative Kapitalismus schafft die Langeweile nicht ab, sondern er »hebt sie auf«, er scheint sie zu zerstören, nur um sie in einer neuen Synthese zu erhalten. Die charakteristische, affektive Stimmung dieses Hangs zur Schlaflosigkeit im Cyberspace, wo es immer noch einen Klick und ein Update mehr gibt, verbindet Faszination mit Langeweile. Selbst wenn uns etwas fasziniert, sind wir gelangweilt und durch die endlose Ablenkung brauchen wir uns dem Tod nicht zu stellen – selbst wenn er immer näher rückt.

Ohne Zweifel hat die kulturelle Stagnation und Trägheit der letzten Jahre mit dieser Zeitknappheit zu tun. Der Neoliberalismus setzte darauf, dass die Zerstörung des Wohlfahrtsstaates Kultur und Ökonomie dynamisiert und einen Unternehmergeist befreit, der von den bürokrati­schen Regularien der sozialdemokratischen Institutionen gefangen gehalten wurde. In Wahrheit aber braucht Inno­vation eine gewisse Form der Stabilität. Der Zerfall der Sozialdemokratie hatte deswegen eine schwächende statt einen dynamisierende Wirkung für die Kultur in hoch­neoliberalisierten Ländern wie Großbritannien. Fredric Jamesons Prophezeiung, dass die spätkapitalistische Kul­tur dem Pastiche und der Retrospektion überantwortet wird, hat sich als äußerst hellsichtig erwiesen.

Wir haben uns so sehr an die Wiederholung und das Recycling gewöhnt, dass wir sie nicht mehr bemerken. Aber es ist kein Zufall, dass dem so ist. Neue kulturelle Produktionen erfordern einen Umgang mit Zeit, dem der kommunikative Kapitalismus sehr feindlich gegenübersteht. Die meiste soziale Energie wird vom schwarzen Loch der spätkapitalistischen Arbeit und seiner ausgreifenden Simulation von Produktivität verschlungen. Innovation beruht auf Versenkung (statt auf Zerstreuung); aber es wird immer schwieriger, für eine derartige Konzentration die Energie aufzubringen. Die durch den Cyberspace vermittelte Dringlichkeit – das blinkende, rote Licht am Handy, der Sirenengesang des Signaltons – wirken wie Trance-Hemmer oder ein Wecker, der uns immer wieder aus dem kollektiven Traum reißt. Unter diesen Bedingungen kann intellektuelle Arbeit nur kurzfristig geschehen. Einzig Gefängnisinsassen haben Zeit zu lesen, und wenn man ein zwanzigjähriges Forschungsprojekt auf Kosten des Staates unternehmen möchte, dann wird man jemanden umbringen müssen.

Um diese Zeitkrise zu verstehen, müssen wir nur unsere Gegenwart mit der Ära des Punk und des Postpunk in Großbritannien und den Vereinigten Staaten vergleichen. Es ist kein Zufall, dass diese Phänomene zu einer Zeit entstanden, als in London oder New York billiger Wohnraum existierte oder einfach besetzt werden konnte. Heutzutage muss man schon, um die Miete zu zahlen, die meiste Zeit und Energie für die Arbeit aufbringen. Der schwindelerregende Anstieg der Grundstückspreise in den letzten zwanzig Jahren ist vielleicht einer der wichtigsten Gründe für den kulturellen Konservatismus in Großbritannien und den USA. In Großbritannien wurde ein Großteil der Infrastruktur, die indirekt die kulturelle Produktion unterstützt hat, von den aufeinander folgenden neoliberalen Regierungen abgebaut. Die meisten Innovationen der britischen Popmusik fanden zwischen den Sechzigern und Neunzigern statt und wären ohne die indirekte Unterstützung durch sozialen Wohnungsbau, Arbeitslosenhilfe und Stipendien undenkbar.

Genau diese Faktoren ermöglichten eine Art von Zeit, die es heute kaum mehr gibt: eine Zeit, in der man temporär von dem Druck, Miete oder Kredite zu zahlen, befreit war; eine experimentelle Zeit, in der das Ergebnis der jeweils unternommenen Aktivitäten weder vorhergesagt noch garantiert werden konnte; eine Zeit, die sich am Ende als verschwendet erwies oder in der neue Konzepte, Wahrnehmungen oder Seinsweisen entstanden. Es ist diese Art von Zeit, nicht die Hektik des Unternehmers, in der das Neue entstehen kann. Und es ist diese Zeit, in der sich das kollektive Denken entfalten kann und die auch die gesellschaftliche Imagination anregt. Die neoliberale Ära – also jene Zeit, in der es, wie man immer wieder sagte, keine Alternative gab – war von einem massiven Zerfall der gesellschaftlichen Vorstellungskraft gekennzeichnet, einer Unfähigkeit, andere Formen der Arbeit, der Produktion oder des Konsums zu denken. Inzwischen ist offensichtlich, dass der Neoliberalismus (und zwar aus gutem Grund) dieser anderen Art der Zeit von Anfang an den Krieg erklärt hat. Er wird nicht müde, die Wenigen zu verachten, denen es gelingt, der Mühle aus Schulden und endloser Arbeit zu entkommen und verspricht, dass auch sie bald ewige und sinnlose Arbeit verrichten werden – als ob die Lösung für die Probleme unserer Zeit noch mehr Arbeit ist, statt in einem Bruch mit dem Kult der Arbeit. Wenn es irgendeine Zukunft geben soll, dann wird sie davon abhängen, ob wir die Zeit zurückgewinnen, die der Neoliberalismus uns verstellt hat und vergessen lassen will.

Leiden mit einem Lächeln 290

»Ich stehe meisten um 5:00 oder 5:15 Uhr auf. Normalerweise würde ich E-Mails verschicken, wenn ich aufgestanden bin. Aber nicht alle haben denselben Rhythmus, deswegen versuche ich, bis um 7:00 zu warten. Vorher mache ich Sport, lese und benutze andere Produkte. […] Ich schlafe nicht groß, das hab ich noch nie. Das Leben ist zu aufregend, um zu schlafen.«

»Ich schaue schnell in meine E-Mails, während mein Sohn mein Bett erobert und seine Milch trinkt. Dringende Nachrichten beantworte ich sofort. Andere markiere ich, um sie auf dem Weg zur Arbeit zu bearbeiten. […] Ich bekomme ungefähr 500 Nachrichten am Tag, deswegen e-maile ich eigentlich die ganze Zeit.«

»Wann stehen Vorstände auf?«291

Diese beiden Berichte – aus einem Artikel im Guardian namens »Wann stehen Vorstände auf?« – wirken, als sollten sie die Thesen der post-autonomistischen Theoretiker Antonio Negri, Paolo Virno und Franco »Bifo« Berardi belegen. Arbeit ist im Wesentlichen kommunikativ. Die Grenzen zwischen Arbeit und Leben sind durchlässig. Die unablässigen Forderungen des Semiokapitalismus bringen den Organismus an seine Grenzen. E-Mailen heißt, dass es keinen Arbeitsplatz und keinen Arbeitstag gibt. Man fängt an zu arbeiten, sobald man aufwacht.

Diese Beschreibungen aus dem Tag eines Vorstandes bestätigen auch die These von Deleuze und Guattari aus Anti-Ödipus, wo es über den Kapitalismus heißt:

»Nicht einmal Herren gibt es mehr, sondern nur noch Sklaven, die anderen Sklaven Befehle erteilen […] [D]er Bourgeois zeugt davon: mehr Sklave als der letzte der Sklaven, erster Diener der gierigen Maschine, Reproduktionsvieh des Kapitals, Verinnerlichung der unendlichen Schuld. Auch ich bin Sklave, werden die neuen Worte des Herrn sein.«292

Auch an der Spitze gibt es keine Befreiung von der Arbeit. Es gibt nur noch mehr Arbeit – der einzige Unterschied, dass man es nun vielleicht genießt (das Leben ist zu aufregend, um zu schlafen). Für diese CEOs ist Arbeit eher eine Sucht als etwas, wozu sie gezwungen werden. Vorläufig können wir versuchen, eine neue Form des Klassenantagonismus auf den Begriff zu bringen. Es gibt nun zwei Klassen: die, die süchtig nach Arbeit sind und die, die zur Arbeit gezwungen werden. Aber so ganz stimmt das nicht. Egal, ob wir für unsere Arbeitgeber arbeiten (die uns bezahlen) oder für Mark Zuckerberg (der es nicht tut), sind doch die meisten von uns fest ergriffen von den Imperativen des kommunikativen Kapitalismus (E-Mails checken, Statusupdates). Diese Form der Arbeit lässt die endlosen Mühen des Sisyphos fast idyllisch erscheinen; immerhin musste er nur eine Aufgabe immer und immer wieder tun. Arbeit im Semiokapitalismus ist eher wie die mythische Hydra: Schneidet man einen Kopf ab, wachsen drei neue, je mehr E-Mails wir beantworten, umso mehr bekommen wir.

 

Die guten alten Zeiten der Ausbeutungen, in denen der Chef nur insofern am Arbeiter interessiert war, als er eine Ware produzierte, die für Profit verkauft werden konnte, sind längst vorbei. Damals bedeutete Arbeit die Zerstörung von Subjektivität, die Reduktion auf ein unpersönliches Maschinenteil; das war der Preis für die Zeit jenseits der Arbeit. Nun gibt es keine Zeit mehr jenseits der Arbeit, und Arbeit ist auch nicht mehr der Subjektivität entgegengesetzt. Die gesamte Zeit ist ökonomisch, weil wir die Ware sind und damit keine Zeit verschwendet wird, in der wir uns nicht selbst verkaufen. Deswegen suchen wir, wie die Figuren in dem Film Limitless, nach immer neuen Wegen, die uns verfügbare Zeit zu vergrößern – durch Drogen, weniger Schlaf, Arbeit unterwegs … auch die Arbeitslosen entgehen diesen Zuständen nicht – die Simulationsaufgaben, die sie nun machen müssen, um Sozialhilfe zu bekommen, sind mehr als Vor­bereitungen auf die Vergeblichkeit bezahlter Arbeit, sie sind bereits Arbeit (denn was ist ein Großteil der »echten« Arbeit anderes als ein Akt der Simulation? Man muss nicht arbeiten, sondern man muss gesehen werden, wie man arbeitet, selbst wenn es keine »Arbeit« zu tun gibt…)

Es reicht nicht mehr, ausgebeutet zu werden. Arbeit hat sich heute so verändert, dass fast alle, egal wie gewöhnlich ihre Position, dabei gesehen werden müssen, wie sie sich für die Arbeit (übermäßig) verausgaben. Wir sind nicht einfach mehr zum Arbeiten gezwungen, in diesem alten Sinne, dass wir eine Aufgabe ausführen, die wir nicht tun wollen; nein, wir sind dazu gezwungen, so zu tun, als wollen wir arbeiten. Selbst wenn wir bei einer Fastfood-Kette arbeiten wollen, müssen wir beweisen, wie die Teilnehmer einer Reality-Show, dass wir es wirklich wollen. Der berühmte Wandel zur affektiven Arbeit im globalen Norden bedeutet, dass es nicht mehr möglich ist, einfach zur Arbeit zu erscheinen und traurig zu sein. Das Elend muss verschleiert werden – wer möchte schon einem deprimierten Callcenter-Ange­stell­ten zuhören, von einem traurigen Kellner bedient werden oder vor einem unglücklichen Dozenten sitzen?

Und dennoch ist auch das nicht ganz richtig. Die libidinösen Unterwerfungskräfte, die Lust aus dem derzeitigen Kult der Arbeit ziehen, wollen nicht, dass wir unser Elend vollständig verschleiern. Denn welchen Genuss kann es bringen, einen Arbeiter auszubeuten, der seine Arbeit tatsächlich liebt? In der Fortsetzung von Blade Runner, The Edge of Human, bietet K.W. Jeter einen Einblick in die libidinöse Ökonomie der Arbeit und des Leidens. Eine der Romanfiguren beantwortet die Frage, warum in der Welt von Blade Runner die Tyrell Corporation überhaupt Replikanten geschaffen hat (Androiden, die so perfekt konstruiert sind, dass nur Spezialisten sie von Menschen unterscheiden können):

»Warum sollten die Kolonisten lästige, menschenähnliche Sklaven herstellen, anstatt schöne, effiziente Roboter? Ganz einfach. Maschinen leiden nicht. Sie sind nicht dazu in der Lage. Eine Maschine weiß nicht, wann sie vergewaltigt wird. Es gibt kein Machtverhältnis zwischen dir und der Maschine. […] Um zu leiden, um dem Besitzer die ganze Energie des Verhältnisses von Herr und Knecht zu geben, müsste der Replikant Emotionen haben. […] Die Gefühle des Replikanten sind kein Konstruktionsfehler. Die Tyrell Corporation hat sie mit Absicht installiert. Denn das ist es, was unsere Kunden wollten.«

Der Grund, warum es so einfach ist, Ressentiments gegen »Sozialschmarotzer« zu schüren, liegt darin, dass – in der reaktionären Phantasie – sie scheinbar dem Leiden entflohen sind, das die anderen erdulden müssen. Diese Vorstellung erzählt ihre eigene Geschichte: Der Hass auf Sozialhilfeempfänger handelt eigentlich davon, wie sehr die Leute ihre eigene Arbeit hassen. Andere sollen leiden genau wie wir: Das ist der Slogan der negativen Solidarität, der sich keinen Ausweg aus dem Elend der Arbeit vorstellen kann.

Um zu verstehen, was Arbeit heute ist, denke man an die pornographische Praxis des Bukkake. Männer ejakulieren Frauen ins Gesicht und die Frauen müssen so tun, als ob es ihnen gefällt, müssen sich lustvoll das Sperma von den Lippen lecken, als wäre es der süßeste Honig. Was von den Frauen verlangt wird, ist ein Akt der Simulation. Die Erniedrigung ist nicht perfekt, außer man sieht, wie man einen Genuss zum Ausdruck bringt, den man nicht wirklich empfindet. Paradoxerweise ist die Unterwerfung jedoch nur dann vollständig, wenn es ein paar Spuren des Widerstands gibt. Ein glückliches Lächeln, ritualisierte Unterwerfung; das ist nichts, wenn man nicht auch eine Spur des Leidens in ihren Augen sieht.