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Wie man einen Zombie tötet:
Strategien für das Ende des Neoliberalismus293

Warum hat die Linke in den letzten fünf Jahren, nachdem eine fundamentale Krise den Neoliberalismus diskreditiert hat, so wenig Fortschritte gemacht? Seit 2008 hat der Neoliberalismus zwar seine fiebrige Dynamik verloren, aber er ist weit davon entfernt, zusammenzubrechen. Der Neoliberalismus schlurft nun als Zombie herum – aber wie die Fans von Zombiefilmen wissen, ist es manchmal schwerer, einen Zombie zu töten als einen lebenden Menschen.

Milton Friedmans berühmter Ausspruch auf einer Konferenz in New York wurde oft zitiert:

»Nur eine Krise – eine tatsächliche oder empfundene – führt zu echtem Wandel. Wenn es zu so einer Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Das ist meiner Ansicht nach unsere Hauptfunktion: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidlich wird.«

Das Problem ist, dass, obwohl die Krise 2008 von der neoliberalen Politik verursacht wurde, es genau dieselbe Politik ist, die immer noch »im Umlauf« ist. Als Konsequenz erscheint der Neoliberalismus immer noch als politisch unvermeidlich.

Es ist keinesfalls klar, dass die Öffentlichkeit jemals die neoliberalen Doktrinen mit Begeisterung aufgegriffen hat – wovon man die Menschen jedoch überzeugt hat, ist, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt. Die (üblicherweise zögerliche) Akzeptanz dieses Zustands ist das Merkmal des kapitalistischen Realismus. Dem Neoliberalismus ist es vielleicht nicht gelungen, sich als attraktiver als andere Systeme darzustellen, aber er konnte sich als die einzig »realistische« Regierungsweise verkaufen. Dieses Gefühl des »Realismus« ist ein hart erkämpfter politischer Erfolg und es ist dem Neoliberalismus gelungen, ein Modell der Wirklichkeit zu installieren, dessen Praktiken und Annahmen aus der Welt der Unternehmen kommen.

Der Neoliberalismus hat die Diskreditierung des Staatssozialismus konsolidiert und eine Vision der Geschichte etabliert, in der nur er Anspruch auf die Zukunft erhebt und die Linke für obsolet erklärt. Er lebte von der Unzufriedenheit mit einer zentralisierten, bürokratischen Linken und hat erfolgreich den Wunsch nach Freiheit und Autonomie absorbiert und verdaut, der im Nachgang der Sechziger aufgekommen war. Aber – und das ist entscheidend – das heißt nicht, dass diese Wünsche notwendig und unvermeidlich zum Neoliberalismus geführt haben. Stattdessen können wir den Erfolg des Neoliberalismus als Symptom der linken Unfähigkeit begreifen, angemessen auf das neue Begehren zu reagieren. Wie Stuart Hall und andere Beteiligte des Projektes New Times in den 1980er mit Nachdruck prophezeiten, sollte diese Unfähigkeit für die Linke katastrophal werden.

Kapitalistischer Realismus kann als der Glaube beschrieben werden, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt. Jedoch äußert er sich normalerweise weniger in großen Aussagen über die politische Ökonomie, sondern in eher banalen Verhaltensweisen und Erwartungen, wie unsere müde Anerkennung der Tatsache, dass die Löhne stagnieren und die Arbeitsbedingungen sich verschlechtern werden.

Der kapitalistische Realismus wurde uns von Managern verkauft (von denen sich viele selbst als links begreifen), die uns erzählen, dass nun alles anders ist. Das Zeitalter der organisierten Arbeiterklasse ist vorbei; die Macht der Gewerkschaften ist rückläufig; es regiert die Wirtschaft und wir müssen uns anpassen. Die Selbstüberwachung, die Arbeiter heutzutage immer häufiger übernehmen müs­sen – die Selbstbeurteilungen, Leistungsberichte und Logbücher –, ist, davon wurden wir überzeugt, ein kleiner Preis, den wir zu zahlen haben, um unsere Jobs zu behalten.

Nehmen wir das Research Excellence Framework (REF) – ein System, mit dem die Forschungsleistung von Akademikern in Großbritannien gemessen wird. Dieses massive System der bürokratischen Kontrolle wird von so gut wie allen, die sich ihm unterwerfen müssen, verachtet, aber bisher blieb jeder Widerstand dagegen symbolisch. Dieser Doppelzustand – in dem etwas zugleich verachtet, aber trotzdem akzeptiert wird – ist typisch für den kapitalistischen Realismus und besonders eindrucksvoll an den Universitäten, eine der vermeintlichen Bas­tionen der Linken.

Kapitalistischer Realismus ist Ausdruck des Zerfalls der Klasse und eine Folge des schwindenden Klassenbewusstseins. Letztlich muss der Neoliberalismus als ein Projekt begriffen werden, das genau darauf abzielte. Es war nicht primär darauf ausgerichtet, den Markt vom Staat zu befreien – zumindest nicht in der Praxis. Es ging vielmehr darum, den Staat der Macht des Kapitals zu unterwerfen. Wie David Harvey geduldig immer wieder betont, war der Neoliberalismus ein Projekt zur Erhaltung von Klassenmacht.

Indem die traditionellen Kraftquellen der Arbeiterklasse besiegt oder ausgelöscht wurden, wurden die neoliberalen Doktrinen zu Waffen in einem Klassenkampf, der immer häufiger nur von einer Seite geführt wurde. Begriffe wie »Markt« und »Konkurrenz« waren nicht der wahre Zweck der neoliberalen Politik, sondern die handlungsleitenden Mythen und ideologischen Alibis. Wie Manuel DeLanda mit Bezug auf Fernand Braudel gezeigt hat, ist der Kapitalismus aufgrund seiner Tendenz zu Monopolen und Oligopolen eher als Anti-Markt zu begreifen, statt als System, das Märkte unterstützt.

In seinem Buch The Falling Rate of Learning and the Neoliberal Endgame bemerkt David Blacker bissig, dass die Vorzüge der »Konkurrenz bequemerweise nur den Massen vorbehalten bleiben. Konkurrenz und Risiko sind für kleine Unternehmen und andere kleine Leute wie Angestellte aus dem privaten und öffentlichen Sektor.« Die Anrufung der Konkurrenz ist eine ideologische Waffe – das wahre Ziel ist die Zerstörung von Solidarität und sie war darin enorm erfolgreich.

Im Bildungsbereich ist Konkurrenz (sowohl zwischen Institutionen als auch zwischen Individuen) nichts, was einfach so entsteht, sobald die Regulation durch den Staat wegfällt – im Gegenteil, sie wird durch neue Formen der staatlichen Kontrolle aktiv hergestellt. Das REF und das Überprüfungsregime, das in Großbritannien durch das Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills geführt wird, sind beides klassische Beispiele dieses Syndroms.

Da sich Bildung und andere öffentliche Dienste nicht so einfach »ökonomisieren« lassen und es keine einfache Quantifizierung der »Produktivität« ihrer Angestellten gibt, wie beispielsweise bei Lehrern, musste die Einführung der Unternehmenslogik zur Installation einer massiven bürokratischen Maschinerie führen. Eine Ideologie, die versprochen hat, uns von der staatsozialistischen Bürokratie zu befreien, hat also eine eigene Bürokratie hervorgebracht.

Nur, wenn man den Neoliberalismus beim Wort nimmt, wirkt das wie ein Paradox – aber der Neoliberalismus ist nicht das gleiche wie der klassische Liberalismus. Es geht nicht um Laissez Faire. Wie Jeremy Gilbert im Anschluss an Foucaults vorausschauende Analysen des Neoliberalismus gezeigt hat, war das neoliberale Projekt immer darauf bedacht, ein bestimmtes Modell des Individualismus im Auge zu behalten; Arbeiter mussten ständig überwacht werden, aus Angst sie könnten in Kollektivität verfallen.

Wenn wir uns weigern, die Argumentation des Neoliberalismus anzuerkennen – dass Kontrollsysteme aus der Wirtschaftswelt dazu da waren, um die Effektivität der Arbeiter zu verbessern –, dann wird klar, dass die Anspannung, die das REF und andere verwaltungstechnische Mechanismen produzieren, kein zufälliger Nebeneffekt ist, sondern ihr eigentlicher Zweck.

Und wenn der Neoliberalismus nicht aus sich selbst heraus zusammenbricht, was kann getan werden, um sein Ende zu beschleunigen?

Ablehnungsstrategien funktionieren nicht

In einem Gespräch zwischen Franco »Bifo« Berardi und mir in Frieze294 spricht Berardi über unsere »derzeitige theoretische Ohnmacht angesichts der Entmenschlichung, die der Finanzkapitalismus hervorruft.« »Ich kann die Realität nicht leugnen«, fährt Berardi fort,

»und sie scheint mir darin zu bestehen: Die letzte Welle der Bewegung – sagen wir, von 2010 bis 2011 – war ein Versuch, eine massive Subjektivität wieder zum Leben zu erwecken. Dieser Versuch ist gescheitert: Wir haben es nicht geschafft, diese finanzielle Aggression zu stoppen. Die Bewegung ist verschwunden und es gibt nur fragmentarische Ausbrüche von Verzweiflung.«

Bifo, einer Aktivisten der sogenannten autonomistischen Bewegung in Italien in den späten 1970er Jahren, trifft hier den Rhythmus, der die antikapitalistischen Kämpfe seit 2008 kennzeichnet: Begeisternde Ausbrüche der Militanz verschwinden so schnell wie sie entstehen, ohne dass es einen substantiellen Wandel gibt.

Ich verstehe Bifos Worte als ein Requiem für die »horizontalen« Strategien, die den Antikapitalismus seit den Neunzigern dominieren. Das Problem dieser Strategien sind nicht ihre (noblen) Ziele – die Abschaffung von Hierarchie und die Ablehnung von Autoritarismus –, sondern ihre Wirksamkeit. Hierarchien können nicht mit einem Schlag abgeschafft werden und eine Bewegung, die Organisationsformen fetischisiert statt sich auf Wirkung zu konzentrieren überlässt dem Feind das Terrain. Die Demontage der vielen Formen von Stratifizierung wird ein langer, schwieriger und aufreibender Prozess sein; es ist nicht damit getan, keine (offiziellen) Anführer zu haben und »horizontale« Organisationsformen zu übernehmen.

Der neoanarchistische Horizontalismus bevorzugt Stra­tegien der direkten Aktion und des Rückzugs – Leute müssen hier und jetzt und für sich selbst handeln, ohne auf kompromittierte Politiker zu warten; zugleich sollen sie sich aus Institutionen zurückziehen, die nicht zufällig, sondern notwendigerweise korrupt sind.

 

Die Betonung der direkten Aktion verdeckt jedoch die Verzweiflung über die Möglichkeit der indirekten Ak­tion. Aber genau dadurch erreicht man die Kontrolle über ideologische Narrative. Bei Ideologie geht es nicht darum, was du oder ich glauben, sondern was wir glauben, das der Andere glaubt – und das wird immer noch im Wesentlichen durch die Mainstreammedien bestimmt.

Der Neoanarchismus besagt, dass wir uns von den Mainstreammedien und dem Parlament Abstand halten sollen – aber dadurch haben wir zugelassen, dass die Neoliberalen ihre Macht und ihren Einfluss ausspielen. Die neoliberale Rechte predigt vielleicht das Ende des Staates, aber nur so lange sie darauf achtet, dass sie die Kontrolle über die Regierung behält.

Nur die horizontalistische Linke glaubt an die Rhetorik von der Überflüssigkeit des Staates. Die Gefahr der neoanarchistischen Kritik besteht darin, dass sie den Staat, die parlamentarische Demokratie und die »Mainstreammedien« essenzialisiert – aber all diese Dinge sind nicht für immer in Stein gemeißelt. Es handelt sich um veränderbare, umkämpfte Terrains und die Gestalt, die sie heute haben ist selbst noch das Ergebnis früherer Kämpfe. Manchmal scheint es, als ob die Horizontalisten alles besetzen wollen außer das Parlament und die Medien. Aber warum nicht den Staat und die Medien auch besetzen? Der Neoanarchismus ist weniger ein Angriff auf den kapitalistischen Realismus als einer seiner Nebeneffekte. Anarchistischer Fatalismus – demgemäß es leichter ist, sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen als eine linke Labour-Partei – ist das Pendent zur kapitalistisch-realistischen Insistenz, dass es keine Alternative zum Ka­pi­talismus gibt.

Das bedeutet nicht, dass es ausreicht, die Mainstreammedien oder die Politik zu besetzen. Wenn uns New Labour etwas gezeigt hat, dann dass eine Regierungsbeteiligung nicht heißt, auch die Hegemonie zu erlangen. Doch ohne irgendeine parlamentarische Strategie werden die Bewegungen weiter zerfallen und zusammenbrechen. Die Aufgabe besteht darin, Verbindungen herzustellen zwischen der außerparlamentarischen Energie und dem Prag­matismus derer, die in existierenden Institutionen arbeiten.

Wir müssen wieder lernen, eine Kriegsmentalität anzunehmen

Wenn man die Nachteile des Horizontalismus betrachtet, wie muss das dann erst aus der Perspektive des Feindes aussehen? Das Kapital freut sich über die Beliebtheit der horizontalistischen Diskurse in der antikapitalistischen Bewegung. Würdest du lieber einen sorgfältig koordiniertem Feind gegenüberstehen oder einem, der Entscheidungen in neunstündigen »Versammlungen« fällt?

Das heißt nicht, dass wir in die tröstende Phantasie zurückfallen sollten, dass eine Rückkehr zum Leninismus der alten Schule möglich oder wünschenswert ist. Die Tatsache, dass wir vor der Wahl zwischen Leninismus und Anarchismus stehen, ist ein Zeichen der Ohnmacht der Linken heute.

Es ist entscheidend, dass wir diese sterile Binarität hinter uns lassen. Der Kampf gegen Autoritarismus muss nicht zum Neoanarchismus führen, genauso wie effektive Organisierung nicht notwendigerweise eine leninistische Partei benötigt. Wir müssen allerdings ernst nehmen, dass wir einem Feind gegenüberstehen, der keinen Zweifel daran hat, dass es sich hier um einen Klassenkampf handelt und der viele seiner Ressourcen darauf verwendet, die Leute dazu auszubilden. Es gibt einen Grund, dass Betriebswirtschaftsstudenten Die Kunst des Krieges lesen, und wenn wir irgendeinen Fortschritt machen wollen, dann müssen wir den Wunsch, zu gewinnen und die Überzeugung, dass wir gewinnen können, wiederentde­cken.

Wir müssen lernen, bestimmte Gewohnheiten des antistalinistischen Denkens zu überwinden. Die Gefahr besteht nicht mehr darin, schon lange nicht, exzessiven Dogmatismus auf unserer Seite zu bekämpfen. Stattdessen hat die Linke nach 1968 eher die negative Fähigkeit zu zweifeln, skeptisch und unsicher zu sein, überbewertet – das mag eine ästhetische Tugend sein, aber es ist eine politische Sünde. Die Selbstzweifel, die in der Linken seit den Sechzigern endemisch sind, haben keine Entsprechung auf Seiten der Rechten – und das ist ein Grund, warum sie so erfolgreich in der Durchsetzung ihres Programms waren. Viele in der Linken trauen sich heute gar nicht mehr, ein Programm zu formulieren, ganz zu schweigen davon, es »durchzusetzen«. Aber wir müssen uns von dem Glauben lösen, dass die Leute sich spontan der Linken zuwenden oder dass der Neoliberalismus ohne unser Zutun zusammenbricht.

Solidarität neu denken

Die alte Solidarität, die der Neoliberalismus zersetzt hat, ist verschwunden und wird niemals zurückkehren. Aber das bedeutet nicht, dass uns nur atomisierter Individualismus bleibt. Die Herausforderung besteht darin, Solidarität neu zu erfinden. Alex Williams hat die suggestive Formulierung der »postfordistischen Plastizität« gefunden, um zu beschreiben, wie diese neue Solidarität aussehen könnte. Wie Catherine Malabou gezeigt hat, ist Plas­tizität nicht dasselbe wie Elastizität. Elastizität ist das Äquivalent der Flexibilität, die der Neoliberalismus von uns verlangt, worin wir eine von außen aufgedrückte Form annehmen. Plastizität ist aber etwas anderes: Sie impliziert sowohl Anpassungsfähigkeit als auch Resilienz, die Fähigkeit, sich zu verändern und dabei eine »Erinnerung« früherer Kontakte zu behalten.

Solidarität in dieser Form neu zu denken könnte uns dabei helfen, ein paar ausgelaugte Annahmen aufzugeben. Diese Art der Solidarität braucht nicht notwendigerweise eine übergreifende Einheit oder zentralisierte Kontrolle. Aber über Einheit hinauszugehen, muss uns auch nicht in die Flachheit des Horizontalismus führen. Statt der Rigidität der Einigkeit – die zum notorischen Sektierertum der Linken geführt hat – brauchen wir die Koordination verschiedener Gruppen, Ressourcen und Wünsche. Die Rechten sind die besseren Postmodernen als wir, sie formieren erfolgreiche Bündnisse aus heterogenen Interessengruppen ohne den Zwang zu einer übergreifenden Einigkeit. Von ihnen müssen wir lernen und auf unserer Seite ein ähnliches Patchwork kreieren. Und das ist eher ein logistisches als ein philosophisches Problem.

Neben der Plastizität der Organisation müssen wir auch an die Plastizität des Begehrens denken. Freud schrieb, dass die libidinösen Triebe »außerordentlich plastisch« sind. Wenn das Begehren keine biologische Essenz ist, dann gibt es keinen natürlichen Trieb zum Kapitalismus. Begehren ist immer etwas zusammengesetztes. Werbetechniker, Markenspezialisten und PR-Berater wussten das schon immer und der Kampf gegen den Neoliberalismus erfordert, dass wir ein alternatives Modell des Begehrens konstruieren, das mit dem der libidinösen Techniker des Kapitals mithalten kann.

Sicher ist, dass wir uns heute in einer ideologischen Wüste befinden, in der der Neoliberalismus nur deswegen vorherrscht, weil es eben so ist. Das Terrain kann aber erkämpft werden und Friedmans Bemerkung sollte uns inspirieren: Es ist nun unsere Aufgabe, Alternativen zur bestehenden Politik zu entwerfen, sie am Leben und verfügbar halten, bis das politisch Unmögliche zum politisch Unvermeidlichen wird.

Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig 295

Einer der spannendsten und provokativsten Beiträge über Politik und Kultur in diesem Jahr war der Text We Are All Very Anxious vom Institute of Precarious Consciousness (der Essay wurde breit rezipiert, als er auf der Website von Plan C wiederveröffentlicht wurde).296 Darin heißt es, dass das wichtigste Problem des Affektkapitalismus die Angst ist. Früher, in der Ära des Fordismus, war Langeweile der »vorherrschende, reaktive Affekt«. Repetitive Arbeit am Fließband produzierte Langeweile, die sowohl die wesentliche Form der Unterwerfung im Fordismus war wie auch die Quelle neuer oppositioneller Politik.

Man könnte behaupten, dass das Scheitern der traditionellen Linken mit der Unfähigkeit zusammenhängt, sich mit dieser Politik der Langeweile, die nicht von den Gewerkschaften oder Parteien ausging, sondern von den Situationisten und den Punks, angemessen auseinander zu setzen. Es waren die Neoliberalen, nicht die organisierte Linke, die am besten die Kritik der Langeweile absorbiert und instrumentalisiert haben. Sie assoziierten die fordistischen Fabriken und die Stabilität und Sicherheit der Sozialdemokratie mit Eintönigkeit, Vorhersehbarkeit und Bürokratie von oben nach unten. Dem stellten die Neoliberalen Aufregung und Unberechenbarkeit gegenüber – aber die Kehrseite dieser neuen, dynamischen Verhältnisse ist permanente Angst. Angst ist der emotionale Zustand, der mit (ökonomischen, gesellschaftlichen, exis­tenziellen) Prekarität korreliert, die das neoliberale Regime normalisiert hat.

Das Institute of Precarious Consciousness hat recht, wenn es darauf hinweist, dass ein Großteil der antikapitalistischen Politik Strategien und Perspektiven anhängen, die aus der Zeit stammen, als der Gegner die Langeweile war. Ebenso richtig ist, dass der Kapitalismus im Grunde das Problem der Langeweile gelöst hat und dass es wichtig ist, dass die Linke einen Weg findet, um die Ängste zu politisieren. Neoliberale Kultur – deren Aufstieg begann, als die Antipsychiatriebewegung an Dynamik verlor – hat Depression und Angst individualisiert. Oder anders gesagt, viele Fälle von Depression und Anspannung sind ein Effekt des erfolgreichen Projekts Neoliberalismus, politische Antagonismen in Krankheiten zu verwandeln.

Zugleich bin ich der Meinung, dass die Analyse der Langeweile differenziert werden muss. Es stimmt, dass man bei dem Gedanken an die alte Langeweile fast nos­talgisch werden könnte. Die trostlose Leere der Sonntage, die nächtlichen Stunden, nachdem im Fernsehen nichts mehr kam, selbst die sich endlos ziehenden Minuten in der Schlange für den öffentlichen Nahverkehr: Für alle, die ein Smartphone haben, gibt es diese leere Zeit im Grunde nicht mehr. Im 24/7-Leben des kapitalistischen Cyberspace darf das Gehirn nicht mehr faulenzen; stattdessen wird es überschwemmt mit einer unablässigen Zufuhr von niedrigschwelligen Reizen.

Und trotzdem war Langeweile immer ambivalent; es war nicht einfach ein negatives Gefühl, das man loswerden wollte. Für Punk war die Leerstelle, die die Langeweile lässt, eine Herausforderung, eine Aufforderung und eine Möglichkeit: Wenn wir gelangweilt sind, dann ist es an uns, etwas zu produzieren, das die Leerstelle füllt. Aber es ist genau diese Forderung zur Teilnahme, mit der der Kapitalismus die Langeweile neutralisiert hat. Statt ein befriedendes Spektakel zu installieren, setzen kapitalistische Unternehmen heute alles daran, uns zur Interaktion aufzufordern, unseren eigenen Content zu generieren und an der Diskussion teilzunehmen. Es gibt weder eine Entschuldigung noch eine Gelegenheit dafür, gelangweilt zu sein.

Die zeitgenössische Form des Kapitalismus hat zwar die Langeweile abgeschafft, nicht jedoch die Gelangweilten. Im Gegenteil – man könnte sagen, dass das Langweilige omnipräsent ist. Wir haben zum größten Teil die Erwartung aufgegeben, von Kultur überrascht zu werden – und das gilt für die »experimentelle« Kultur so sehr wie für die populäre. Egal ob es die Musik ist, die wie vor 20, 30 oder 40 Jahren klingt, Hollywood-Blockbuster, die alte und veraltete Ideen, Figuren und Tropen wiederkäuen oder die erschöpften Gesten der zeitgenössischen Kunst, das Langweilige ist überall. Nur ist niemand gelangweilt – denn es gibt kein Subjekt mehr, das gelangweilt sein könnte. Denn Langweile ist ein Zustand der Absorption – ein Zustand der höchsten Vertiefung, weswegen es sich um ein so drückendes Gefühl handelt. Langeweile nimmt unser ganzes Sein ein; wir haben das Gefühl, dass wir ihr nie entkommen. Aber es ist gerade diese Fähigkeit zur Vertiefung, die derzeit aufgrund der konstanten Zerstreuung, die für den kapitalistischen Cyberspace zentral ist, unter Beschuss genommen wird. Wenn Langeweile eine Form der leeren Vertiefung ist, dann bilden positive Formen der Absorption das effektive Gegenmittel. Anstatt uns zu verschlingen, lenken sie uns von der Langeweile ab.

Das wohl eindrücklichste Merkmal unseres derzeitigen Zustandes ist die Mischung aus Langeweile und Zwang. Obwohl wir wissen, dass sie langweilig sind, fühlen wir uns trotzdem gezwungen, noch ein weiteres Facebook-Quiz zu machen, noch eine weitere Buzzfeed-Liste zu lesen, irgendwelchen Prominentenklatsch über jemanden, der uns egal ist, anzuklicken. Wir bewegen uns ständig im Langweiligen, aber unser Nervensystem ist so überreizt, dass wir nie den Luxus haben, uns zu langweilen. Niemand ist gelangweilt, alles ist langweilig.