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Eine Zeit für Schatten 297

Jean Baudrillards 1987 veröffentlichtes Buch Das Andere selbst liest sich wie eine beeindruckende Science-Fiction-Prophezeiung unserer Gegenwart. Vor fast dreißig Jahren beschrieb Baudrillard eine Ära der »absoluten Nähe« und »absoluten Unmittelbarkeit«, eine Ära der Informationsschizophrenie. Baudrillard schreibt:

»Der Schizo lebt jenseits jeder Szene, in seiner großen Verwirrung öffnet er sich allem, jedoch ohne es zu wollen […]. Er ist […] dem Ende der Inferiorität und Intimität, der Über-Exponiertheit und Transparenz gegenüber der Welt hilflos ausgeliefert. […] [E]r ist nichts als ein absorbierender Bildschirm, ein sich drehender und unempfindlicher Empfänger für die einfallenden Strahlen aller Netze.«298

Was Baudrillard hier mit intensiver Rhetorik beschreibt, ist heute zu einer banalen Erfahrung geworden – tatsächlich handelt es sich vielleicht um die Signatur der gegenwärtigen Banalität. Die Allgegenwart der Smartphones, das Gefühl der Überforderung durch die Imperative des Cyberspace sind inzwischen zum Allgemeinplatz geworden. Es ist diese eigentümlich hellsichtige Antizipation, die die Lektüre von Baudrillards Text so unheimlich macht. (Es ist, als ob Baudrillard bereits über Twitter schreiben würde. Aber was in der Telekommunika­tionserfahrung des Frankreichs der 1980er Jahren hat Baudrillard dieses Gefühl der Transparenz, der Überlastung und der Unmittelbarkeit vermittelt, dieses Gefühl der Überlastung des Privaten und der Grenzen des Einzelnen, an die uns die sozialen Medien inzwischen gewöhnt haben?)

Baudrillard hat von einer neuen Ära der »Taktilität« gesprochen. Für ihn war das Spektakel schon in den 1980er Jahren obsolet. Das Spektakel hat uns den Bildern unterworfen; das taktile System erfordert jedoch unsere Teilnahme, es fordert uns auf, mitzumachen. Wieder handelt es sich um eine vorausschauende Beschreibung gegenwärtiger Tendenzen – Unternehmen reicht es nicht mehr, uns mit ihrer Kaufpropaganda zu überschatten, sondern sie wollen, dass wir mit ihnen interagieren, dass wir ihre Facebook-Seite liken und mit Hashtags kommentieren.

Telefone mit Touchscreens scheinen diese Ära der Taktilität zu konsolidieren. Aber sollten wir in diesem Fall nicht von einer Berührung ohne Taktilität sprechen? Natürlich handhaben wir das Smartphone durch Berührungen, aber es sind Berührungen ohne jede Sinnlichkeit. Wenn die Finger auf die glatte Oberfläche des iPhones treffen, fühlt sich alles, was sie auf dem Bildschirm berühren, gleich an. Die Finger agieren im Grunde als eine Verlängerung des Auges und des Gehirns – zwei Körperteile, die inzwischen radikal an den Cyberspace gewöhnt wurden. Die Finger werden zu Relais in einem digitalen Zwangssystem, einem digitalen Abzug. Aber dieser Abzug ist ineffizient, es sind Affenfinger, die zu dick und grob für das Touchscreeninterface sind. Wenn das iPhone, wie es in einer Folge der Simpsons dargestellt wird, dem Monolith aus 2001: Odyssee im Weltraum bemerkenswert ähnlich ist, dann fühlen wir uns allzu oft, wenn wir das Handy benutzen, so primitiv und verwirrt wie die Affen in Kubricks Film, wenn sie der enigmatischen Undurchsichtigkeit des schwarzen Steinblocks ge­gen­überstehen.

Natürlich handelt es sich bei Smartphones gar nicht wirklich um Telefone. Der Begriff »tragbares elektronisches Gerät«, den Fluglinien inzwischen bevorzugen, fasst viel besser, was für Maschinen das sind. (Immer häufiger dürfen wir die Handys nun sofort nach der Landung benutzen – die Wartezeit, bis wir am Terminal sind, wird offensichtlich für zu lang eingeschätzt.) Die Telefonfunktion des tragbaren elektronischen Geräts wird immer archaischer. Wie Sherry Turkle in ihrem jüngsten Buch Verloren unter 100 Freunden schreibt, sind wir von der Ära des Gesprächs längst in die neue Zeit der Textnachricht übergegangen.299 Sich unterhalten sorgt für Anspannung, die durch SMS und Textnachrichten ver­mieden wird.

Bei all den alten Ängsten, die umgangen werden, produziert der von Baudrillard beschriebene ständige Kontakt doch eine ganze Reihe neuer. Der Druck der Unmittelbarkeit – dessen, was Geert Lovink, Sebastian Olma und Ned Rossiter in ihrem neuen Manifest »On the Creative Question – Nine Theses« »hektisches Unternehmertum und sofortige Befriedigung«300 nennen – wiegt zwangsläufig schwer auf den kulturellen Produzenten. In einer enigmatischen aber suggestiven Formulierung schreiben Lovink, Olma und Rossiter, dass die Dringlichkeit des unmittelbaren Bedürfnisses durch das Prinzip der »Schatten und der Zeit« ersetzt werden muss. »Schatt­en«, so die Autoren,

»sind eine unbeabsichtigte Folge, ein Ereignisvakuum, das für die anderen unsichtbar bleibt. Es wird auf den Entwicklungskarten der Managerklasse nicht verzeichnet. Zeit ist notwendig, damit etwas substanziell anderes entstehen kann. Reifung, also kreatives Wachstum, braucht Zeit.«

Es ist wichtig, dass wir Räume jenseits des gleißend hellen Moments finden. Die Unmittelbarkeit raubt den Schlaf und verursacht Amnesie; sie sperrt uns in eine reaktive Zeit, die immer gefüllt ist (von Wut und Pseudoneuigkeiten). Es gibt keine kontinuierlich fließende Zeit, in der Schatten entstehen können, nur eine Zeit, die zugleich nahtlos (ohne Lücken: es gibt immer »neuen« Content) und diskontinuierlich ist (jede neue Zwangshandlung lässt uns vergessen, was ihr voranging). Das Ergebnis ist mechanische und uneingestandene Wiederholung. Ist es uns immer noch möglich, Schatten wachsen zu lassen?

Jetzt tut es weh 301

Ein Kummer ohne Schmerz, quälend

düster und drohend

»Jetzt tut es weh, später noch mehr« lautete die Überschrift des Guardian an dem Tag als vor fast fünf Jahren mein Sohn geboren ist.302 Damals haben meine Frau und ich zusammen fünfzehntausend Pfund im Jahr verdient. Ich arbeitete auf Stundenbasis in der Weiterbildung und an einer Universität, nebenbei schrieb ich und lektorierte. Wir überlebten, ohne zu hungern, aufgrund der monatlichen Steuergutschrift von 300 Pfund.

So war das Leben unter Brown und Blair: niedrige Löhne und Prekarität auf der einen Seite, die Linderung ihrer Auswirkungen durch Sozialleistungen auf der anderen. Wie der Großteil der Bevölkerung hasste ich New Labour. Labour war dermaßen dem kapitalistischen Realismus verfallen, dass es wahrscheinlich kaum schlimmer gewesen wäre, wenn die Tories an die Macht gekommen wären, oder? Ich teilte die weitverbreitet Meinung, dass Wahlen nicht viel verändern: Das einzige, was angeboten wird, sind minimal unterschiedliche Versionen des Gleichen (Neoliberalismus).

Es wurde bald klar, dass das nicht der Fall war. Cameron und Osborne starteten den kapitalistischen Realismus 2.0, der mutigste Trick in der jüngeren politischen Geschichte: Lass die Armen und Verletzlichen für die Bankenkrise bezahlen. Benutz die Krise als Vorwand, um den Sozialstaat weiter abzubauen. Ein falsches Seufzen und dann erzählen sie uns, was sie für »schwere Entscheidungen« treffen müssen…

Heute verdienen meine Frau und ich mehr als 2010, wir würden eine Steuergutschrift von nur 50 Pfund pro Monat bekommen.

Natürlich empfand ich das damals als Entscheidung für eine Art Bohemien-Lifestyle. Wenn ich wollte, könnte ich bestimmt eine besser bezahlte Arbeit finden – schließ­lich möchte nur ein Idiot arbeiten, um zu leben. Aber was ist mit all jenen, die für immer in schlecht bezahlten, prekären Arbeitsverhältnissen bleiben? Was ist mit Behinderten? Den chronisch Kranken und den psychisch Kranken, die gezwungen werden, wieder zur Arbeit zu gehen.

Ein lähmender, peinvoller und elender Kummer.

Die Wahl vor ein paar Wochen hat mich nicht sonderlich interessiert. Um ehrlich zu sein, ich wurde für einen Artikel über Fernsehberichterstattung angefragt, aber ich konnte nicht die Energie aufbringen, die erste TV-De­batte anzuschauen (Ich schau’s mir später an), bis Laura Oldfield Ford, animiert durch Nicola Sturgeons Auftritt, mir eine Nachricht schrieb und fragte, was ich denke. Ich schaltete ITV+1 ein und ein Prozess des Erwachens begann, der die letzten Wochen angehalten hat.

Aus Gründen, die ich in weiteren Posts darlegen werde, habe ich das letzte Jahr in einem Zustand der Deaktivierung verbracht. Ich war zurückgeworfen in die privatisierte Konnektivität des Öd[ipus]-iPod und seinem kons­tanten Strom der niedrigschwelligen Angst und des zwanghaften Mikrogenusses. Ich konnte nicht schreiben, außer auf eine sehr mechanische Art und Weise; was ich produzierte wirkte totgeboren, gekünstelt. Meine hauptsächli­che stimmungsverändernde Droge, Musik, funktionierte nicht. Ich habe ganze Boxsets durchgesehen. Ich genoss die Zeit mit meiner Frau und meinem Sohn, aber der Rückzug in diese Freuden wirkte wie eine Flucht: Ständig juckte es in meinen Fingern und ich wollte nach dem Smartphone greifen. Immer gab es etwas, das ich schon längst hätte erledigen sollen – die dringenden Aufgaben wurden immer mehr, wie ein ständig blinkendes rotes Licht in meinem Sichtfeld, ich konnte nie zur Ruhe kommen. Das meiste waren kleine Dinge, sie waren nicht so wichtig, aber vielleicht war darunter irgendeine längst vergessene Aufgabe, die dann auf verhängnisvolle Weise wieder auftaucht und dann wäre es zu spät? Ich schau lieber mal nach…

Erträgliche Scheiße

Der keinen natürlichen Ausweg, keine

Erleichterung findet.

 

Das eisig Schreckliche an diesem Zustand der Niedergeschlagenheit war, dass es sich nicht um eine vollständig lähmende Depression handelte – eher um eine erschöpfende Plackerei. Es wirkte erträglich; tatsächlich war es, als ob ich den Rest meines Lebens so verbringen könnte – und würde. Vielleicht habe ich zu viel vom Leben erwartet. Nun müsste ich mich ans Elend gewöhnen, so wie alle anderen. Anderen ging es viel, viel schlechter als mir. Immerhin musste ich nicht das Eis am Morgen von der Windschutzscheibe kratzen. Ich lebte schon seit Jahren prekär – nun befand ich mich in einem sicheren, gut bezahlten Arbeitsverhältnis. Warum konnte ich nicht einfach glücklich sein? Okay, ich musste Marketingaktivitäten unternehmen, wichtigen Papierkram zur Quali­täts­sicherung erledigen, Seminarbeschreibungen sechs Mal überarbeiten – aber immerhin arbeitete ich nicht im Bergwerk, oder?

Weißt du, weißt du: Ich war wieder zu einem braven Subjekt des kapitalistischen Realismus geworden:

»… isoliert, abgeschnitten, umgeben von einem feindseligen Raum, hast du plötzlich überhaupt keine Verbindungen mehr, bist ohne Stabilität, hast nichts, was dich stützt oder festigt; eine schwindelerregende, krank machende Unwirklichkeit nimmt von dir Besitz; dir droht ein völliger Verlust deiner Identität, ein Gefühl des vollständigen Betrugs; du hast kein Recht hier zu sein, hier und jetzt, in diesem Körper, so angezogen; du bist nichts und ›nichts‹ ist genau das, was du glaubst, zu werden.«303

Motoren der Niedergeschlagenheit

Bifo hat recht. Es will, dass wir niedergeschlagen sind: nicht katatonisch deprimiert, so dass wir nicht arbeiten können, aber auch nicht so selbstbewusst, dass wir aufhören, irgendwelche idiotischen Jobs zu machen. (Was ist dieses es, das möchte, dass es uns schlecht geht? Warum? Natürlich ist es die Leitung des Overlook Hotel. Unser Elend ist ihr Nektar…)

Das Kapital braucht verzweifelte Menschen, die geradeso durchkommen (schau dir Tory-Parlamentarier an, die über hungernde Familien lachen!); die Leute müssen knausern, sparen und Dinge von der Liste streichen, sie müssen dankbar für jeden Job sein, egal wie schlecht bezahlt, egal wie unsicher, ein ums andere Mal ein Kampf, Jahr für Jahr…

In den letzten fünf Jahren, nach der kurzlebigen politischen Euphorie 2010 und 2011, hat sich ein beißender Nebel der Verzweiflung über das, was Cameron düster »unser Land« nennt, gelegt … er zieht die Energie aus den Institutionen (keine Zeit zu reden, tut mir leid!) … er reduziert die Arbeiter auf Automaten, die sich gegenseitig Befehle zurufen … er verringert auf allen Ebenen unsere Fähigkeit, sich zu sorgen … keine Zeit, keine Zeit … kein Geld … Ich weiß nicht, ich muss gehen, Alter … man schaut über die Schulter und befürchtet das Schlimmste … vielleicht bin ich der nächste … besser, sich ruhig zu verhalten … die zusätzliche Arbeit übernehmen, ich fürchte, so ist das eben jetzt…

Jetzt tut es weh, später noch mehr.

Das Elend ist vorbei (wenn wir es wollen)

In der letzten Woche habe ich jeden Tag ein paar Stunden mit meinem Sohn gespielt, bin lange spazieren gegangen, habe die viele Zeit mit meiner Frau genossen und es geschafft, tausende Worte zu schreiben. Warum kann das Leben nicht immer so sein? Warum eigentlich nicht? Das war nur möglich, weil ich entschieden habe, alle meine bürokratischen Pflichten bis nach der Wahl aufzuschieben. (Morgen geht’s dann wieder an die »richtige« Ar­beit: Ihr könnt also nächstes Jahr mit einem neuen Post rechnen.)

Gelungen ist mir das nicht durch einen heroischen Akt des magischen Voluntarismus, sondern aufgrund einer Stimmungsverbesserung, die nicht nur persönlicher Art ist. Schottland, Syriza, Podemos … es hat eine Weile gedauert, bis mir die Bedeutung dieser Dinge klar geworden ist … aber mit Genossen zu sprechen … zu merken, woran Plan C arbeitet … die Energie spüren, die Russel Brand generiert hat … All das hat mich während dieses Wahlkampfes langsam wieder zu Bewusstsein kommen lassen. Ich glaube, ich bin nicht der einzige. Aber sind wir zu spät erwacht, um die Tories zu stoppen? Hat ihr Smog der Niedergeschlagenheit genug Leute deaktiviert – Leute, bei denen es unwahrscheinlich war, dass sie von der Labour-Kampagne aufgeweckt werden?

Zaghafte Effekte

Die beiden naheliegendsten Parallelen für diese Wahl wä­ren 1974 – es gibt eine schwache Arbeiterbewegung, gestützt von kleineren Parteien – oder, unheimlicherweise, 1992, als Labour eine empfindliche Niederlage gegen John Majors Tories erlitt und man eigentlich dachte, dass sie gewinnen würden. Shaun Lawson gibt einige über­zeugende Gründe an, warum es sich bei dieser Wahl um eine Wiederholung von 1992 handeln könnte. Vieles davon hat mit der Unverlässlichkeit der Umfragen zu tun. Aufgrund des sogenannten »schüchterner Tory«-Phäno­mens – laut dem Wähler in Umfragen nicht zugeben, dass sie konservativ gewählt haben – lagen die Umfragen 1992 auf spektakuläre Weise falsch. Major hat nicht einfach nur gewonnen, sondern die Tories hatten am Ende die meisten Stimmen, die jemals in der britischen Geschichte eine Partei bekommen hat. Lawsons sagt, dass, obwohl die Umfragen das Phänomen des schüchternen Tory-Wählers einkalkulieren, sie trotzdem falsch liegen könnten (weil die Umfragen beispielsweise meistens über das Internet gemacht werden und zu einer jüngeren demographischen Schicht neigen).

Ich bin von der Parallele zu ‘92 allerdings aus zwei Gründen nicht ganz überzeugt:

1. Der hypergläubische Effekt

Wie Baudrillard gezeigt hat, können wir Umfragen nicht als neutrale, positivistische Beschreibungen begreifen, weil sie möglicherweise genau dasjenige beeinflussen, was sie vorgeben, vorherzusagen. Es sieht so aus, als sei es das, was 1992 passiert ist.

Die Atmosphäre vor den Wahlen 1992 war anders als heute. Es gab die schreckliche Sheffield-Kundgebung. Kinnocks triumphalistischer Ausruf »Es geht uns gut!«, der auch nach 25 Jahren noch schrecklich peinlich ist, hat nicht nur seine Inszenierung als Staatsmann zerstört, sondern auch den Eindruck manischer und euphorischer Selbstüberschätzung vermittelt. Der vorzeitige Jubel wirkte unpassend, verzweifelt – als ob Kinnock selbst, ganz zu schweigen von den Wählern, nicht wirklich glaubte, dass er Premierminister würde. Außerdem lieferte er Murdoch und seinen Medien einen Grund, die Ängste zögerlicher Tory-Wähler anzustacheln, vor allem weil die Umfragen nahelegten, dass Labour gewinnen wird: Schau, sie glauben, sie haben schon gewonnen! Wenn du überlegst, zu Hause zu bleiben, tu es nicht – wir brauchen jede Stimme!

Diesmal ist es wirklich anders. Die Umfragen legen nahe, dass keine Partei eine Mehrheit hat und nicht, dass Labour gewinnt – es gibt nicht dieselbe Angst, die man nutzen könnte. Ein Sieg für Labour ist unwahrscheinlich und keine drohende Möglichkeit, die verzweifelt verhindert werden muss. Außerdem, obwohl die Tories auf jeden Fall versucht haben, Ängste zu schüren, ist eine Labour-Regierung keine so schreckliche Aussicht, wie es 1992 hätte wirken können. Seit Blair ist Labour nicht mehr der große Andere des neoliberalen Common Sense, als den man sie damals darstellen konnte.

Wie ich in meinem letzten Post geschrieben habe, hat Milliband seine Kampagne emotional niedrigschwellig ge­halten – keine extravaganten Versprechen (»Ich möch­te wenig versprechen und viel liefern«); keinen messianischen Eifer (und zwar Vergleich zu sowohl Blair als auch Kinnock). Es stimmt, dass Milliband nicht die Gravität eines Premierministers hat, aber andererseits hatte John Major, der unwahrscheinlichste Premier in der Geschichte, die auch nicht.

2. Wir leben in neuen Zeiten

1992 war noch die Hochzeit des kapitalistischen Realismus. Es gab noch keine Krise. Denen, die nach ihren Interessen wählen wollten, konnte man noch etwas anbieten und die anderen hängen lassen.

Doch dieses Mal haben die Tories nicht viel, womit sie ihre Unterstützer bestechen können. Ohne den falschen Balsam der »Big Society« gibt es nur eine negative Message – unter Labour wird es schlimmer sein – und ein vorsichtiges Versprechen: Jetzt tut es weh, später ein bisschen weniger. Reicht das, um diejenigen, die zögern, zu motivieren?

Als Projekt ist der Neoliberalismus am Ende, selbst wenn er weiter herumschlurft und wütet wie ein angeschlagener Terminator. Wir winden uns unendlich langsam und blinzelnd aus dem kapitalistischen Realis­mus heraus. Die psychische Blockade, die uns am Han­deln und Denken gehindert hat, löst sich. Im derzeitigen Wahlkampf ist das nur bei der SNP, Plaid Cymru und den Grünen ein wenig spürbar (dass es inzwischen so viele Parteien gibt, ist natürlich ein anderer Unterschied der britischen Politik im Vergleich zu ‘74 und ‘92). Wenn Labour eine Regierung stellen kann, werden wir die Niederlage der Tories weit mehr feiern als den Sieg von Labour.

Im Moment ist nichts sicher. Ich glaube auch nicht, dass es morgen anders sein wird. Mein Gefühl ist, dass wir in den kommenden Wochen sehr empfindlich sein werden. Aber eines ist sicher: Wir müssen bereit sein, falls die Tories einen Coup starten. Und das werden sie ganz bestimmt…

Noch bleibt unser Begehren namenlos 304

»›Zu unseren Lebzeiten‹, sagte Nikita Chruschtschow der Menge im Moskauer Lenin-Stadion am 28. Sep­tem­ber 1959 zu, ›werden die Träume, die die Menschheit seit alters gehegt hat, Träume, die in Märchen ihren Ausdruck fanden, die reine Phantasie zu sein schienen, durch Menschenhand zur Wirklichkeit.‹«305

Francis Spufford, Rote Zukunft

Dieses Zitat aus dem außergewöhnlichen Buch Rote Zukunft von Francis Spufford erinnert uns daran, dass mit dem Kommunismus nicht nur eine bestimmte Ideologie besiegt wurde. Es verschwand auch der prometheische Traum des Modernismus, die menschliche Gesellschaft fundamental zu verändern. Michael Hardt schreibt, dass der »positive Inhalt des Kommunismus, der mit der Abschaffung des Privateigentums korrespondiert, die autonome menschliche Produktion von Subjektivität, die menschliche Produktion der Menschheit« ist, »ein neues Sehen, ein neues Hören, ein neues Denken, ein neues Lieben.«306

Die Ankunft dessen, was ich kapitalistischer Realismus genannt habe – die weitverbreitete Anerkennung, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt – bedeutete des­wegen das Ende dieser neuen produktiven, perzeptuellen, kognitiven und libidinösen Möglichkeiten. Es bedeutete, dass wir auf das altbekannte Sehen, Hören, Denken und Lieben zurückgeworfen wurden … für immer. Fredric Jameson hat vor langer Zeit gezeigt, dass die Postmoderne die kulturelle Logik des Spätkapitalismus ist und dass die Merkmale, die Jameson der Postmoderne zuschrieb – Pastiche, der Kollaps der Historizität – nun allgegenwärtig sind. Die einzige Zukunft, die das Kapital bietet, ist technologisch – wir messen die historische Zeit nicht in kulturellen Verschiebungen, sondern in technologischen Neuerungen, wir sehen dieselben alten Dinge auf immer besseren hochauflösenden Bildschirmen.

Die Wirklichkeit der Klasse dauert fort

Die Haltung des Realismus, die die vorherrschende Form des Kapitalismus erfordert, ist im Grunde depressiv. Die Verwaltung dieser kollektiven Depression muss verschiedene Schwellen überschreiten. Zunächst sollen wir sehr wenig erwarten: Nichts wird jemals wieder passieren. Dann sollen wir glauben, dass die Dinge, die vielleicht einmal passiert sind, nicht so großartig waren. Und schließlich akzeptieren wir, dass nichts jemals passiert ist oder wieder passieren wird. Je mehr diese Depression normalisiert wird, umso schwerer ist es, sie wahrzunehmen. Radikal heruntergeschraubte Erwartungen werden zur Gewohnheit. Die Zeit wird flach.

Diese verallgemeinerte Depression ist ein Grund, warum seit der Finanzkrise 2008 so wenig geschehen ist. Und dennoch ist die Depression selbst sowohl Symptom als auch Ursache von etwas anderem: dem Zerfall von Klassensolidarität. Wir müssen weit zurück ins 19. Jahrhundert gehen, um einen Moment zu finden, an dem das Klassenbewusstsein so schwach wie heute war. Nicht nur das Kapital, sondern auch Teile der Linken nach 1968 sind der Auffassung, dass Klasse eine veraltete Kategorie ist, mit der die Vielfältigkeit und die Komplikationen des 21. Jahrhundert nicht verstehbar sind. Und dennoch sind diese Komplikationen in gewisser Hinsicht ein Trugschluss, sie verdecken die Fortdauer einer Klassenstruktur, in der die Mehrheit der Bevölkerung als minderwertig gilt. Die Wirklichkeit der Klasse hält an, aber ohne Klassenbewusstsein. Beveryl Skeggs und Helen Woods Arbeit über das Reality TV sowie Owen Jones Analyse der »Dämonisierung der Arbeiterklasse« zeigen, dass Klasse sogar dort in der zeitgenössischen Kultur zum Vorschein kommt, wo sie verleugnet wird.

 

Seit den 1960er Jahren hat sich die Linke gespalten, und zwar in einen autoritär-nostalgischen Leninismus, der an einem Parteibegriff und einer Klassenpolitik festhält, deren his­torischer Moment vorüber zu sein scheint, und einer vermeintlich »neuen« Linken, die Institutionen und die Zentralität des Klassenkampfes ablehnt und all ihr Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen legt, sich autonom zu mobilisieren und soziale Verhältnisse jenseits der Kapitalismus zu schaffen.

Diese Binarität muss dringend aufgebrochen werden. Es gibt kein Zurück zur alten leninistischen Partei genauso wenig wie es ein Zurück zum fordistischen Kapitalismus gibt. Doch der naive Autonomismus hat gezeigt, dass auch er kein Patent auf den derzeitigen historischen Moment hat. Antikapitalismus und die mit ihm zusammenhängenden Strategien – Besetzungen und Demonstrationen – haben dem Kapital keine großen Probleme bereitet. 1968 wurde gepredigt, dass es nicht die Strukturen sind, die auf die Straße gehen – aber wenn uns der Antikapitalismus etwas gezeigt hat, dann die Tatsache, dass der Aktivismus auf der Straße kaum Einfluss auf die Strukturen hat.

Es gibt kein Begehren nach Kapitalismus

Wir müssen uns nicht mehr zwischen Klassenpolitik und Anti-Autoritarismus entscheiden, genauso wenig wie wir uns zwischen Gramsci, Deleuze oder Guattari entscheiden müssen, zwischen hegemonialen Zugang und einer Politik des Begehrens. Tatsächlich müssen wir uns diesen falschen Alternativen absolut verweigern, wenn wir erfolgreich sein wollen. Klassenpolitik muss erneuert und wieder aufgenommen werden, sie darf nicht wiederbelebt werden, als sei nichts geschehen. Im Sinne Gramscis müssen wir Institutionen wieder ernstnehmen. Noch immer wird unser Sinn für die Wirklichkeit in den Mainstreammedien produziert; und trotz all der Rede vom Dahinwelken des Staates hat das Parlament vermittels des Militärs, dem Gesundheits- und dem Sozialsystem immer noch die Macht über Leben und Tod. Doch diese Institu­tionen können nicht von innen erneuert werden – es ist notwendig, von außen, die Institutionen neu zu denken und unsere Kräfte dort zu sammeln.

Zugleich ist Begehren nicht als vitalistische Energie zu verstehen, die spontan entsteht, sobald die Körper von den Institutionen befreit sind. Stattdessen ist Begehren immer das Ergebnis libidinöser Steuerung – und im Moment wird unser Begehren durch die Armee des Kapitals, von PR-Strategen, Marken- und Werbespezialisten, mani­puliert. Die Linke muss ihre eigenen Maschinerien des Begehrens kreieren. Es stimmt, dass wir, auf den ersten Blick, einen Nachteil haben, wenn wir an die unglaublichen Ressourcen des Kapitals denken, mit denen es auf unser Begehren einwirkt. Aber trotzdem gibt es kein Begehren nach Kapitalismus, genauso wie die Kultur aus libidinösem Material besteht, das keine intrinsische Beziehung zum Kapital hat – deswegen muss das Kapital ablenken, deprimieren und uns süchtig machen, damit wir weiter gefangen und beherrscht bleiben.

Aber wenn wir uns nicht mehr negativ, über unsere Ablehnung des Kapitals, definieren, was wird dann der Name unseres positiven Projekts sein? Ich glaube nicht, dass wir die alte Bezeichnung »Kommunismus« dafür wieder hervorholen können. Das Wort ist irreversibel mit schrecklichen Assoziationen verbunden, für immer gekettet an die Alpträume des 20. Jahrhunderts. Noch ist unser Begehren namenlos – aber es ist real. Unser Begehren richtet sich auf die Zukunft – auf eine Flucht aus den Sackgassen in den Ebenen des Kapitals und seiner endlosen Wiederholungen – und es kommt aus der Zukunft – aus eben jener Zukunft, in der neue Wahrnehmungen, Begehren, Erkenntnisse wieder möglich sein werden. Bisher können wir diese Zukunft nur als Schimmer wahrnehmen. Aber es liegt an uns, diese Zukunft herzustellen, die – auf einer anderen Ebene – bereits auf uns einwirkt: Es entsteht ein neues kollektives Subjekt, eine neue Art und Weise, in der ersten Person Plural zu sprechen. Irgendwann auf diesem Weg wird der Name für unser neues Begehren erscheinen und wir werden ihn erkennen.