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Nein, ich hatte noch nie einen Job 348

Ich hätte erwähnen sollen, dass Ivor Southwood seinen eigenen Blog hat: Hier schreibt er über die gute Fee der Arbeit349; und hier etwas von Digital Ben350 zum selben Thema. Bens Eintrag ist traurig, auf die bestmögliche Art und Weise. Das Grundmotiv ist: Warum gelingt es allen anderen und mir nicht? Als ich arbeitslos war, war ich davon überzeugt, dass mich ein ontologischer Abgrund von der Arbeit trennt. Arbeit – so ähnlich wie »in einer Beziehung sein« – würde mir automatisch den Status einer echten Person verleihen. Aber die schreckliche Ironie bestand darin, dass man dieses Status nicht erreichen konnte. Es war genau andersherum: nur echte Personen bekommen Arbeit. Arbeitslos zu sein war nicht die Ursache der Scham; vielmehr war das Gefühl der Scham, das ich mit mir herumgetragen habe, als würde es zu meinem innersten Sein gehören, der Grund dafür, dass ich keinen Job bekomme. Meine Bewerbungen und die Vorstellungsgespräche hatten etwas absolut Hoffnungsloses an sich. Ich weiß, dass es unmöglich ist, dass sie den Job einem Insekt wie mir geben und wir beide wissen, dass ich es auch nicht könnte, selbst wenn ich wie durch ein Wunder den Job angeboten bekäme, aber … Es hat Jahre gedauert, bis ich begriffen habe, dass Vorstellungsgespräche ein ritualisierter Austausch sind, wo es darum geht, ob man die richtige Kommunikationsetikette beherrscht und wo man als Sonderling dasteht, wenn man die Wahrheit sagt. Wahrscheinlich wissen sogar die, die noch nicht im Schloss waren, dass man sich so nicht benimmt …

Doktorand zu sein war besser als arbeitslos zu sein – nicht zuletzt, weil eine Promotion (von mir und allen anderen) als Vermeidung von Arbeit begriffen wurde. (Ein Freund sagte mal zu mir, dass es den meisten Kreisen in Großbritannien einfacher wäre, zu sagen, dass man drogenabhängig ist, als sich als Doktorand einer Kunsthochschule zu outen.) Aber ich habe Arbeit nur deshalb »vermieden«, weil ich dachte, dass ich es nicht könnte. Ben schreibt:

»Ich weiß nicht genau, ob diese Eigenschaft, die mir fehlt, ein Privileg der herrschenden Klasse ist (wenn ja, dann lese man die hier versammelten Diskussionen der letzten Jahre351) oder eher etwas Typisches für die Arbeiterklasse – Geschäftigkeit und krumme Dinger, und dieser Anschein einer nicht richtig legitimen Tätigkeit. Vielleicht haben es die Leute an beiden Enden des Spektrums, aber nicht die dazwischen? Es ist wie mit diesen lächerlichen Büchern über Etikette aus der frühen viktorianischen Zeit – echte Aristokraten haben sich darüber keine Gedanken gemacht, sie haben einfach gemacht, was auch immer sie wollten (weil sie wussten, dass ihr Status in Stein gemeißelt ist und dass es sie völlig unberührt lässt, wenn man sieht, wie sie den falschen Löffel benutzen). Nur die aufstrebende Bourgeoisie hat sich diese arkanen Regeln und Gebräuche ausgedacht, um auf dem Weg nach oben die Oberhand zu gewinnen und diskret den Rest der Bevölkerung abzuhängen.«

Ich für meinen Teil habe absolut in einem Raum zwischen den Klassen gelebt. Wenn ich in Fabriken arbeitete, hat man mich entweder bedauert oder beleidigt. Jeder Job schien unmöglich: handwerkliche Arbeit aufgrund meiner nutzlosen Trägheit und die Jobs für Doktoranden, nun ja, weil ich nicht die Art Mensch war, die das machen konnte. Ich als Lehrer, Journalist oder Rechtsanwalt – sicher nicht.

Hat irgendjemand die Agonie dieses Zustands der Arbeitslosigkeit besser in Worte gefasst als Morrissey? Die nutzlose jouissance der Ablehnung dessen, was sowieso unmöglich war: »No, I’ve never had a job / because I’ve never really wanted one // Nein, ich hatte noch nie einen Job / weil ich nicht wirklich einen wollte«, »No, I’ve never had a job because I’m too shy … // Nein, ich hatte noch nie einen Job / weil ich zu schüchtern bin … « Manchmal ich, dass die implizite politische Position in diesen wenigen frühen Songs von The Smiths zu den wichtigsten gehörte, die es in den 1980er Jahren gab. Sie sangen »England gehört mir und es schuldet mir ein Leben« (»England is mine and it owes me a living«), während drei Millionen Menschen arbeitslos waren und die Bergarbeiter streikten … Sie lehnten das männliche Schicksal des fordistischen Arbeiters in dem Moment ab, als dieses Schicksal der Arbeiterklasse verweigert wurde (»No, we cannot cling to the old dreams anymore« // »Nein, wir können an den alten Träumen nicht mehr festhalten«) … Man lehnte im Grunde all die proletarischen Predigten über die Würde der Arbeit ab … Wenn es bei Morrissey militante Dysphorie gab, dann hier … und diese Dysphorie war absolut zentral für die Militanz: Unfähigkeit als Verweigerung. Scheitern als negative Fähigkeit. Ich bin lieber ich, traurig und schüchtern, anstatt ein erfolgreicher kommunikativer Kapitalist … All dies geschah, als der an Wilde erinnernde Trotz noch linkisch und unbeholfen war und nicht als eine groß verkündete postmoderne Wende daherkam. »There are brighter sides to life / and I should know because I’ve seen them / but not very often // Das Leben hat auch gute Seiten / ich sollte es wissen, denn ich hab sie gesehen / aber nicht sehr oft«. Die Pointe ist natürlich jenes »aber nicht sehr oft«. Ohne dieses Moment wäre die Widerstandsgeste ein leeres Sich-auf-die-Brust-klopfen; es wäre so »cool« wie »Wham Rap« … Aber mit ihm gibt es genug Fingerzeige auf andere Welten, andere Daseinsformen, zu denen bei derzeitigem Stand der Dinge niemand besseren Zugang hat als die arbeitslosen Dysphoriker … Und niemand sieht die Totalität des Kapitals – die Art und Weise wie Arbeit, sexuelle Beziehungen und Waren miteinander verbunden sind und sich bedingen – niemand kann das besser sehen, als jemand, der von Arbeit ausgeschlossen ist …

Morrissey symbolisierte das Begehren nach einer proletarischen Bohème genau in dem historischen Moment – nach den Sechzigern, nach Glam, nach Punk und Postpunk –, als deren Möglichkeit verschwand. Es gibt ein wunderbares Kapitel in dem wunderbaren Buch Cool Capitalism von Jim McGuigan über die Geschichte der Bohème, die McGuigan mit Marcuses Idee der Großen Weigerung verbindet. Mir scheint, dass die Durchsetzung der Businessontologie in den letzten dreißig Jahren sich auch durch die Zerstörung der Bohème vollzog: Kunsthochschulen sind wieder Orte für die Privilegierten geworden; Printmedien für Musik wurden von Indie-Maga­zinen wie Smash Hits verdrängt; das Fernsehen ist populistischer Müll oder gehobene Durchschnittlichkeit geworden. Die Wirtschaftskultur, laut der man sich »gut verkaufen« muss (was ich, wie jeder vernünftige Mensch, immer noch für einen Ausbund an Vulgarität halte) hat diese erzwungene, makellose Positivität hervorgebracht, über die Ben und Ivor sprechen: die Große Akzeptanz statt der Großen Weigerung. Aus der Sicht von bestimm­ten Teilen der Arbeiterklasse war der Wunsch, Eintritt in die Bohème zu finden, schon immer falsch. Das ist noch immer so … viele in meiner Familie haben mich nie ermutigt, zu schreiben und halten es immer noch für ein »Hobby« und tun alles, was ihnen möglich ist, um mich in »richtige Arbeit« zu zwängen … Vergleich das mal mit den Bürgerkindern, die jahrelang unbezahlte Praktika machen …

Furcht und Elend im neoliberalen Großbritannien 352

Die Passage, die ich hier unten hin kopiert habe – die Einleitung zu einem Vortrag mit dem Titel »›Wir sitzen alle im selben Boot‹: Öffentlicher Raum und Antagonismus im kapitalistischen Realismus« – war der Versuch einer minimal fiktionalisierten, phänomenologischen Auf­frischungsübung, um einer mehrheitlich nicht-bri­ti­schen Leserschaft einen Eindruck davon zu geben, was es heißt, heute in Großbritannien unter dem kapitalistischen Realismus zu leben. Alles beruht auf echten Erfahrungen, auch wenn manche verdichtet und komprimiert wurden, und manche nicht meine eigenen sind.

Jetzt: Die Karte funktioniert nicht. Die Maschine spürt deine Nervosität, ganz sicher. Sie weiß, dass die Karte nicht dir gehört. Du versuchst es nochmal. Nichts. Dasselbe rote Lämpchen. Die Karte gehört dir nicht, aber eigentlich solltest du Zugang zu dem Gebäude haben. Du musstest dir die Karte von jemandem anderen leihen, weil man nur zwischen 9 und 13 sich eine Karte besorgen kann und du da immer arbeitest.

Jemand ist hinter dir. Du fühlst dich unwohl. Werden sie merken, dass dir die Karte nicht gehört? Du versuchst es nochmal. Wieder nichts. Ein rotes Licht.

Dein Telefon klingelt. Die hast Probleme, es aus der Tasche zu bekommen. Als du es endlich in der Hand hast, war schon die Voicemail dran. Du merkst, dass der Anruf von einem deiner anderen Arbeitgeber kam. Eine dir vertraute Spannung erfasst dich: Was hast du nun wieder falsch gemacht? Aber es ist keine Zeit sich jetzt darüber Gedanken zu machen.

Du ziehst die Karte noch einmal durch. Endlich das grüne Licht. Du gehst durch die Tür.

Du eilst durch den Flur. In welches Stockwert solltest du nochmal? Du wühlst in deiner Tasche bis du den Zettel findest. Du bist im richtigen Stockwerk aber musst zum anderen Ende des Korridors. Du gehst zu dem Raum mit der Nummer. Doch auf einmal wird dein Fortschritt unterbrochen. Es gibt ein Schild, das dir den Zutritt verweigert: Da ist ein Büro, das den Korridor in zwei Teile teilt und wo du nicht rein darfst.

Es ist die Topologie eines Albtraums. Jedes Mal, wenn du fast da bist, gibt es ein neues Hindernis. Man muss aus dem Flur raus, die Treppen runter und die anderen Treppen hoch, immer wieder ein paar verschlossene Türen, wo man seine Karte durchziehen muss.

 

Inzwischen sind die fünf Minuten, von denen du dachtest, dass du sie noch hattest, verronnen.

Als du den Raum endlich erreicht hast, bist du schon zu spät. Du loggst dich am Computer ein. Oder zumindest versuchst du es. Der Log-in funktioniert nicht. Du versuchst es nochmal. Wieder kein Glück. Dann erinnerst du dich: Du benutzt die Zugangsdaten von einer der anderen Institutionen, an denen du arbeitest. Man verliert leicht den Überblick. Dir fallen die richtigen Zugangsdaten ein und du schaust schnell durch dein Postfach. Du siehst eine E-Mail von jemandem aus der Verwaltung. Ob du deine Kontoinformationen eingetragen hast? Ja, hast du, glaubst du zumindest. Vor Wochen. Aber natürlich bist du nicht sicher – vielleicht hast du nur gedacht, dass du sie eingetragen hast. Haben sie sie verloren? Du bekommst einen Angstschub: Bekomme ich diesen Monat keinen Lohn? Letztes Jahr, als du genau dieselben Formulare ausfüllen musstest wie dieses Jahr, wurde dir ein ganzer 50-Stunden-Vertrag nicht ausgezahlt, bis du auf den Fehler hingewiesen hast. Wird das nochmal passieren?

Aber es ist keine Zeit sich jetzt darüber Gedanken zu machen.

Es warten 70 Studenten auf dich.

So ist das Leben in Großbritanniens aufgeblähten und überfinanzierten öffentlichen Institutionen.

Willkommen in Liberty City. Je beschäftigter du bist, umso weniger siehst du.

Vor 10 Jahren: Das New-Path-Institute

Der Psychiater fragt dich, ob sich deine Stimmung verbessert hat.

Du sagst Nein.

Der Psychiater sagt, dass die Dosis erhöht werden muss.

Du antwortest nicht. Es geht nicht. Die Medikamente, die du nimmst und deine Krankheit bewirken, dass dein Wattehirn so langsam reagiert wie bei einem Zombie. Der Psychiater wirkt ganz weit weg, als ob du ihn durch ein Fischauge siehst.

Du musst nicht antworten. Es geht nicht um deine Antworten.

Außerdem gibt es die höhnische Stimme in deinem Kopf, die dich die ganze Zeit anschreit.

Natürlich wirken die Medikamente nicht.

Natürlich wird’s dir nicht besser gehen.

Denn es ist alles in Ordnung mit dir.

Gib einfach auf.

Aber das ist leichter gesagt als getan.

Das Beste, worauf du hoffen kannst, ist ein Koma.

Nach der Beratung gehst du zurück ins Bett. Alles fühlt sich schwer an, wie wenn du unter Wasser bist und der ganze Druck auf dir lastet. Du liegst auf dem Bett und bist absolut davon überzeugt, dass das die Wahrheit ist – die nackte, ungeschminkte Realität. Merkwürdigerweise lindert dieses erbarmungslose, eisige Gefühl der Sicherheit deine Angst nicht oder beruhigt dich. Du kannst nicht ruhen, obwohl du katatonisch bewegungslos bist. Dein Herz hämmert. Die Schläge eines Presslufthammers aus einer Geschichte von Poe. Es wird schneller und lauter bis es nur noch von der Stimme in deinem Kopf übertönt wird.

Später sagst du zu der Schwester:

Das ist also die Behandlung? Medikamente und Einsperrung? Sie nicken. Im Hintergrund heult jemand.

Jetzt: Hektisch auf dem zu einem der anderen Orte, wo du arbeitest. Du musst ein paar Texte kopieren.

Als du im Flur angekommen bist, sind alle Türen verschlossen. Keiner da.

Das passiert schon zum zweiten Mal. Das letzte Mal hat der Kopierer nicht funktioniert.

Du hättest früher kommen sollen. Aber du hattest nicht genug Zeit.

Geschlagen, aber entschlossen, dass die zwei Stunden dauernde Fahrt hin und zurück nicht umsonst war, gehst du in die Bibliothek und benutzt die Übergangskarte, die man dir gegeben hat, weil dein Vertrag noch nicht fertig ist. Du nimmst ein paar Bücher aus dem Regal und versuchst sie auszuleihen. Keine Chance. Deine Bibliothekskarte ist noch nicht fertig.

Können Sie später wiederkommen?

Ja, du kannst später wiederkommen.

Im Zug auf dem Weg nach Hause. Es ist so eng, dass man klaustrophobisch wird. Du hast solche Angst davor, dass dir dein iPod oder dein Telefon geklaut wird, dass es fast eine Erleichterung wäre, wenn es passiert.

Erschöpft und immer noch stehend, weil kein Sitzplatz frei ist, überlegst du in dem Buch in deiner Tasche zu lesen. Doch die Versuchung der kostenlosen Zeitung ist zu groß. Die Schlagzeilen fixieren sich auf deinen müden Kopf wie Raubtiere, die ein verletztes Tier ausgemacht haben. Die kleinen ödipalen Promigeschichten ziehen dich an. Alles stürzt in der universellen Form des Klatschblattes zusammen. Klatsch und Gerede überdeckt alle anderen Nachrichten. Politik als Familiensitcom. Es gibt nichts außer Ambitionen, Intrigen und Neid. Du bist gelangweilt, selbst wenn du fasziniert bist.

Vor 6 Jahren: Im Büro des Betriebspsychiaters.

Du sollst zeigen, dass du geistig gesund bist.

Denn – wie die Verwaltung freundlich erklärt hat – du hast in der Vergangenheit unter Stress gelitten. (In dir blitzt der Gedanke auf – nicht, dass sie sich um dich gekümmert hätten, als es dir schlecht ging.) Doch jetzt machen sich die Leute Sorgen.

Die Wut gegenüber der Verwaltung kann nur ein Zeichen sein, dass es dir nicht gut geht. Ein bisschen aus dem Gleichgewicht.

Machen Sie sich keine Sorgen. Niemand möchte ihnen etwas Böses. Wir sind da, um zu helfen.

Du sagst zu dem Betriebspsychiater:

Wenn ich sage, dass sich die Verwaltung gegen mich verschworen hat, beweist das dann, dass ich verrückt bin?

Jetzt: Du weichst der Kotze aus, dir fällt ein, dass du zu spät bist: Nur ein Idiot geht abends in einer provinziellen, englischen Stadt am Abend aus. Hier ist die Nacht der lebenden Toten.

Schreie wie aus Dantes Inferno. Und das sind nur die Leute, die Spaß haben.

In der Luft liegt die drohende Zombiegewalt.

Schau niemanden zu lange an.

Wenn man an der Notfallaufnahme vorbeigeht, sieht man all die laufenden Verletzten und die, die nicht mehr laufen. All die Opfer der britischen Happy Hour.

Du erinnerst dich daran, wie ein Arzt mal gesagt hat, dass die Nachtschicht vor zwanzig Jahren so langweilig war, dass die Ärzte Rollstuhlrennen veranstaltet haben. Heute nicht mehr. Nicht bei all den Messern, den Waffen, Schlägereien, Unfälle durch Alkohol, Magen auspum­pen…

Und all die Superbakterien, die in den Krankenstationen gedeihen … .

Du kommst zu Hause an, schaltest den Fernseher ein. Weichmachende, patrizische Stimmen, die Krokodilstränen weinen. Öffentliche Leistungen werden massiv ge­kürzt. 30 Prozent, 40 Prozent.

Eine neue Zeit der Knappheit.

Aristokraten und Millionäre sagen uns: Wir müssen alle unseren Teil beitragen.

Wir sitzen alle im selben Boot.

Raus aus dem Vampirschloss 353

Im Sommer habe ich ernsthaft überlegt, mich aus sämtlichen politischen Zusammenhängen zurückzuziehen. Erschöpft wegen völliger Überarbeitung und unfähig produktiv zu sein, zog ich durch die sozialen Netzwerke und spürte wie meine Depression und Ermüdung wuchsen.

Die »linke« Twitter-Sphäre ist häufig eine miserable, entmutigende Angelegenheit. Anfang diesen Jahres [2013] gab es ein paar prominente Twitterskandale, bei der vor allem sich als links bezeichnende Personen denunziert wurden und verurteilt wurden. Zum Teil war das, was sie gesagt hatten, bedenklich; aber trotzdem hinterließ die Art und Weise, wie sie persönlich angegriffen und fertig gemacht wurden, einen üblen Nachgeschmack: das miefige Gefühl des schlechten Gewissens und des inquisitorischen Moralismus. Der Grund, warum ich bei keinem dieser Vorfälle meine Stimme erhoben habe ist, und ich schäme mich, das zu sagen, Angst. Die Mobber waren am anderen Ende des Spielplatzes und ich wollte ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich ziehen.

Die offene Brutalität dieser Diskussionen wurde von etwas begleitet, das noch verbreiteter war und darum noch lähmender ist: einer Atmosphäre des höhnischen Res­sentiments. Das häufigste Objekt dieses Ressentiments ist Owen Jones und die Angriffe auf Jones – derjenige, der am meisten für die Entwicklung des Klassenbewusstseins in Großbritannien in den letzten Jahren ge­tan hat – waren ein Grund, warum ich so niedergeschlagen war. Wenn das passiert, wenn ein Linker erfolgreich den Kampf in die Mitte der britischen Gesellschaft trägt, warum sollte ihm irgendjemand in den Mainstream folgen? Ist die einzige Möglichkeit, diesen konstanten Tropf der Beleidigungen zu vermeiden, dass man in einer Position der machtlosen Marginalität bleibt?

Eines der Dinge, die mich aus meiner Depression herausholten, war der Besuch der Volksversammlung in Ips­wich, in der Nähe meines Zuhauses. Die Veranstaltung hatte als Reaktion den üblichen Spott und Hohn hervorgerufen. Man sagte uns, dass es nicht mehr als ein nutzloser Stunt sein wird, bei dem sich Medienlinke, einschließlich Jones, in einer erneuten Zurschaustellung von hierarchischer Promikultur feierten. Was tatsächlich bei der Versammlung geschah, war etwas völlig anderes als diese Karikatur. Die erste Hälfte des Abends, deren Höhepunkt eine leidenschaftliche Rede von Owen Jones war, wurde sicherlich von den prominenten Sprechern dominiert. Doch in der zweiten Hälfte sah man Aktivisten aus der Arbeiterklasse aus ganz Suffolk miteinander sprechen und sich unterstützen, man teilte Erfahrungen und besprach Strategien. Die Volksversammlung war kein weiteres Beispiel hierarchischer, linker Politik, sondern zeigte, wie das Vertikale mit dem Horizontalen kombiniert werden kann: Mediale Macht und Charisma zogen Leute an, die noch nie bei einer politischen Versammlung waren und wo sie mit erfahrenen Aktivisten sprechen und strategisch planen konnten. Die Atmosphäre war antirassistisch und antisexistisch, aber erfrischend frei von jenem paralysierenden Gefühl der Schuld und des Misstrauens, das die linken Twitterdebatten durchzieht wie ein scharfer, erstickender Nebel.

Und dann ist da Russell Brand. Ich bin schon lange ein Bewunderer von Brand, einem der wenigen Spitzencomedians heute, die aus der Arbeiterklasse kommen. In den letzten Jahren gab es einen graduellen aber gnadenlosen Prozess der Verbürgerlichung der Fernsehkomik, mit lächerlichen, aufgeblasenen Einfaltspinseln wie Michael McIntyre und einem traurigen, faden Haufen junger Karrieristen, die die Bühne beherrschen.

Am Tag bevor Russell Brands inzwischen berühmtes Interview mit Jeremy Paxman bei Newsnight gesendet wurde, sah ich seine Stand-up-Show im Messiah Complex in Ipswich. Die Show war dezidiert pro-migrantisch, pro-kommunistisch, anti-homophob, voller proletarischer Schläue und ohne Angst, sie zu zeigen und außerdem queer in einer Art und Weise, wie es die Popkultur früher einmal war (das heißt, sie hatte nichts zu tun mit der trübgesichtigen, identitären Frömmelei, die uns die Moralisten der poststrukturalistischen »Linken« aufzwängen). Malcolm X, Che, Politik als psychedelische Dekonstruktion der herrschenden Realität: Das war Kommunismus als etwas Cooles, sexy und proletarisch, statt einer Predigt mit erhobenem Zeigefinger.

Am Abend nach dem Interview war klar, dass es einen Bruch gegeben hatte. Für einige von uns, war Brands mit forensischer Genauigkeit vollzogener Sieg gegen Paxman wirklich bewegend, fast wie ein Wunder; ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gesehen habe, dass jemandem aus der Arbeiterklasse der Raum gegeben wurde, durch Intelligenz und Vernunft einen Vertreter der herrschenden Klasse zu schlagen. Das war nicht Johnny Rotten wie er Bill Grundy anschreit – ein antagonistischer Akt, der Klassenklischees eher zementierte als herausforderte. Brand hingegen überflügelte Paxman – und es war der Einsatz von Humor, der Brand von Griesgrämigkeit eines Großteils der Linken unterschied. Brand sorgt dafür, dass Menschen sich gut mit sich fühlen; die moralisierende Linke hingegen ist darauf spezialisiert, dass sich Leute schlecht fühlen und ist nicht zufrieden, bis alle Köpfe hängen, voll Schuldbewusstsein und Selbst­hass.

Die moralisierende Linke hat schnell dafür gesorgt, dass es nicht um Brands einzigartige Subversion der Diskussionskonventionen von Mainstreamdebatten oder seine Behauptung, dass es eine Revolution geben wird, ging. (Nur die verstopften Ohren der narzisstischen, kleinbürgerlichen »Linken« konnten hier heraushören, dass Brand die Revolution anführen möchte – worauf sie mit dem typischen Ressentiment antworteten: »Ich brauche keinen aufgeblasenen Prominenten, der mich anführt.«)

 

Für die Moralisten war die wichtigste Geschichte Brands persönliches Verhalten – vor allem sein Sexismus. In der fieberhaften, an die Zeiten McCarthys erinnernden Atmosphäre, die die moralisierende Linke geschaffen hat, bedeuten Bemerkungen, die als sexistisch ausgelegt werden können, dass Brand ein Sexist ist, was dann wiederum auch heißt, dass er misogyn ist. Hier ist die Schablone, fertig ist das Urteil.

Es ist richtig, dass sich Brand, wie jeder von uns, für sein Verhalten und seine Sprache Verantwortung übernehmen muss. Doch eine solche Debatte sollte auf der Grundlage von Verbundenheit und Solidarität stattfinden, und vielleicht nicht in erster Linie in der Öffentlichkeit – obwohl Brand, als er von Mehdi Hasan zu dem Thema befragt wurde, genau die gutgelaunte Bescheidenheit zeigte, die den steinernen Gesichtern seiner Kritiker abgeht.

»Ich glaube nicht, dass ich sexistisch bin, aber ich muss an meine Großmutter denken, der wunderbarste Mensch, den ich jemals gekannt habe. Sie war ein Rassist und ich glaube nicht, dass ihr das bewusst war. Ich weiß nicht, ob es bei mir nicht noch einen kulturellen Rest gibt, ich weiß, dass ich proletarische Sprachformen, wie ›Darling‹ oder ›Bird‹, sehr liebe und wenn Frauen glauben, dass ich sexistisch bin, dann sind sie in einer besseren Position, das zu tun, als ich, also werde ich daran arbeiten.«

Bei Brands Intervention ging es nicht darum, irgendeine Führungsrolle zu übernehmen; es war eine Inspiration, ein Aufruf zum Kampf. Und mich zumindest hat er inspiriert. Ein paar Monate zuvor wäre ich noch stumm geblieben, als die moralische und säuerliche Salonlinke sich in Rufmord­kampagnen erging und Brand in ihren Affen­tribunalen vorführte – wobei die »Beweise« meistens aus den rechten Medien kamen, die immer gern zur Verfügung stehen –, aber diesmal war ich auf einen Konflikt vorbereitet. Die Reaktion auf Brand wurde schnell genauso wichtig wie das Interview mit Paxman selbst. Wie Laura Oldfield Ford schrieb, schaffte der Moment Klarheit. Und eine Sache, die für mich klar wurde, war die Art und Weise, wie in den letzten Jahren große Teile der selbsterklärten »Linken« das Problem der Klasse verdrängt hat.

Klassenbewusstsein ist fragil und flüchtig. Das Kleinbürgertum, das die Universitäten und die Kulturindustrie dominiert, beherrscht eine ganze Reihe subtiler Mechanismen der Ablenkung und Umschiffung, die dafür sorgen, dass das Thema gar nicht erst aufkommt und selbst wenn es einmal angesprochen wird, geben sie einem das Gefühl, dass man eine schreckliche Unverschämtheit begangen hat, dass man gegen die Etikette verstoßen hat, als man es erwähnte. Ich halte inzwischen seit Jahren Vorträge auf linken und antikapitalistischen Veranstaltungen, aber ich habe in der Öffentlichkeit kaum über Klasse gesprochen – oder wurde danach gefragt.

Doch als das Thema wieder aufgetaucht war, konnte man nicht anders als es überall in der Brand-Affäre zu sehen. Mindestens drei Linke, die auf eine Privatschule gegangen waren, haben Brand schnell verurteilt und in Frage gestellt. Andere haben uns erzählt, Brand könne gar nicht zur Arbeiterklasse gehören, weil er Millionär ist. Es ist alarmierend, wie viele Linke den Impuls hinter Paxmans Frage zu teilen scheinen: »Woher hat diese Per­son aus der Arbeiterklasse die Autorität, das Wort zu er­heben?« Ebenso beunruhigend, ja erschütternd, ist, dass sie zu glauben scheinen, Leute aus der Arbeiterklasse müssen arm, unbekannt und machtlos sein, wenn sie nicht ihre »Authentizität« verlieren möchten.

Jemand hat mir einen Post über Brand auf Facebook weitergeleitet. Ich kenne die Person nicht, die ihn geschrieben hat und ich möchte ihren Namen nicht nennen. Worum es geht, ist, dass der Post symptomatisch für eine Arroganz und Herablassung ist, die man offenbar zur Schau stellen kann, obwohl man sich immer noch als links bezeichnet. Der ganze Ton war selbstgefällig, als ob ein Lehrer die Hausaufgaben eines Kindes benotet oder ein Psychiater einen Patienten diagnostiziert. Brand ist offensichtlich »enorm instabil … eine schlechte Beziehung oder ein Rückschlag in der Karriere reichen, um wieder in Drogenabhängigkeit oder schlimmeres zu verfallen«. Obwohl die Person behauptet, dass sie Brand »wirklich mag«, kommt es ihr niemals in den Sinn, dass einer der Gründe, warum Brand vielleicht »instabil« ist, diese herablassende, scheinbar über den Dingen stehende »Beurteilung« der »linken« Bourgeoisie ist. Außerdem gibt es da diese schockierende aber zugleich entlarvende Nebenbemerkung, in der die Person beiläufig auf Brands »lückenhafte Bildung« und die »Fehler im Vokabular, die für Autodidakten charakteristisch sind und bei denen man oft zusammenzuckt« verweist – mit denen, wie die Person generös erklärt, sie »gar kein Problem« habe – wie nett von ihr! Es handelt sich hier nicht um einen kolonialistischen Bürokraten, der im 19. Jahrhundert darüber schreibt, wie er versucht, ein paar »Eingeborenen« die englische Sprache beizubringen oder einen viktorianischen Schulmeister an einer privaten Einrichtung, der einen Jungen mit einem Stipendium beschreibt, sondern um einen »Linken« von vor ein paar Wochen.

Wie gehen wir damit um? Zunächst ist es nötig, die Merkmale des Diskurses und das Begehren zu identifizieren, das uns auf diesen düsteren und demoralisierenden Weg gebracht hat, wo die Klasse verschwunden ist, überall Moralismus herrscht und Solidarität unmöglich ist, aber Schuld und Angst omnipräsent sind – und zwar nicht, weil wir von der Rechten terrorisiert werden, sondern weil wir zugelassen haben, dass bürgerliche Formen der Subjektivität unsere Bewegung vergiften. Ich glaube, es gibt zwei libidinös-diskursive Konfigurationen, die diese Situation hervorgebracht haben. Sie nennen sich links, aber – wie die Brand-Affäre gezeigt hat – es gibt viele Hinweise darauf, dass die Linke – verstanden als Akteur im Klassenkampf – so gut wie verschwunden ist.

Im Vampirschloss

Die erste Konfiguration habe ich das Vampirschloss genannt. Im Vampirschloss ist man darauf spezialisiert, Schuld zu erzeugen. Man wird angetrieben von dem pries­terlichen Wunsch danach, zu exkommunizieren und zu verurteilen, dem akademisch-pedantischen Begehren, der erste zu sein, der einen Fehler entdeckt und der Hipster-Lust dazuzugehören. Wenn man das Vampirschloss angreift, besteht die Gefahr, dass es so aussieht – und man wird alles dafür tun, damit dieser Eindruck entsteht –, als ob man auch den Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Heterosexismus attackiert. Aber das Vampirschloss ist nicht der einzig legitime Ausdruck dieser Kämpfer, sondern man muss es als bürgerlich-liberale Perversion und Aneignung der Energie dieser Kämpfe verstehen. Das Vampirschloss wurde in dem Moment geboren, als der Kampf darum, nicht durch Identitätskategorien definiert zu werden, in die Suche nach »Identitäten« umschlug, die von dem bürgerlichen, großen Anderen anerkannt werden.

Das Privileg, das ich als weißer Mann sicherlich genieße, besteht zum Teil darin, dass ich mir meiner Ethnizität und meinem Geschlecht nicht bewusst bin und es ist eine ernüchternde und erhellende Erfahrung, auf diese blinden Flecke aufmerksam gemacht zu werden. Doch anstatt für eine Welt zu kämpfen, in der alle von Identitätszuschreibungen befreit sind, möchte das Vampirschloss die Leute wieder in Identitäten hineinzwängen, wo sie für immer den Regeln der herrschenden Macht unterworfen sind, wo ihr Selbstbewusstsein verkümmert und sie aufgrund einer solipsistischen Logik isoliert werden, die darauf beharrt, dass wir uns nicht verstehen, wenn wir nicht zur selben Identitätsgruppe gehören.

Mir ist ein faszinierender, magisch-inversiver Projektions- und Verleugnungsmechanismus aufgefallen, der dafür sorgt, dass die bloße Erwähnung von Klasse automatisch so wirkt, als würde man die Bedeutung von Herkunft und Geschlecht herunterspielen. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, da das Vampirschloss ein in letzter Instanz bürgerliches Verständnis von Herkunft und Geschlecht benutzt, um Klasse zu verdecken. In all den absurden und traumatischen Twitterdebatten über Privile­gien zu Beginn dieses Jahres [2013] war es auffällig, dass die Diskussion über Klassenprivilegien vollkommen abwe­send war. Die Aufgabe besteht immer noch darin, Klasse, Geschlecht und Herkunft zur Sprache zu bringen – doch der fundamentale Impuls des Vampirschlosses ist es, Klasse von anderen Kategorien abzulösen.