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Das Problem, das das Vampirschloss zu lösen sich aufmachte, war folgendes: Wie kann man enormen Reichtum und Macht besitzen und trotzdem als marginal, als widerständig und als Opfer gelten? Die Lösung dafür gab es schon – in der christlichen Kirche. Deswegen kann das Vampirschloss auf all die infernalischen Strategien, die dunklen Pathologien und psychologischen Folterins­trumente zurückgreifen, die das Christentum erfunden hat und die Nietzsche in Genealogie der Moral beschreibt. Dieses Priestertum des schlechten Gewissens, das Nest der frommen Schuldtreiber, ist genau das, was Nietzsche meinte, als er voraussagte, dass etwas Schlimmeres als das Christentum bereits auf dem Weg sei. Und nun ist es da …

Das Vampirschloss ernährt sich von den Energien, Ängsten und Verletzlichkeiten junger Studenten, aber vor allem lebt es davon, das Leiden einzelner Gruppen – je »marginaler« umso besser – in akademisches Kapital zu verwandeln. Die am meisten gepriesenen Figuren des Vampirschlosses sind die, die einen neuen Markt des Leidens entdecken – und wer eine Gruppe findet, die noch unterdrückter und marginaler ist, als die zuvor, wird schnell in der Hierarchie aufsteigen.

Das erste Gesetz des Vampirschlosses: individualisiere und privatisiere alles. Obwohl man theoretisch immer für eine strukturelle Kritik ist, konzentriert man sich praktisch auf nichts anderes als individuelle Verhaltensweisen. Einige dieser Typen aus der Arbeiterklasse hatten keine so gute Erziehung und können manchmal etwas grob sein. Vergiss nie: Individuen zu verurteilen ist immer wichtiger als auf unpersönliche Strukturen zu achten. Die tatsächlich herrschende Klasse propagiert eine Ideologie des Individualismus, während sie zugleich dazu neigt, als Klasse zu handeln. (Vieles von dem, was wir »Verschwörungen« nennen ist eigentlich die herrschende Klasse, wie sie Klassensolidarität zeigt.) Das Vampirschloss, als nützlicher Idiot der Herrschenden, tut das Gegenteil: Es formuliert ein Lippenbekenntnis der »Solidarität« und »Kollektivität«, während es zugleich so tut, als ob die individualistischen Kategorien, die die Macht installiert, wirklich gelten. Weil sie kleinbürgerlich bis ins Innerste sind, verhalten sich die Bewohner des Vampirschlosses enorm kompetitiv, allerdings wird dies in der passiv-aggressiven Weise verdrängt, die typisch für die Bourgeoisie ist. Was sie zusammenhält, ist nicht Solidarität, sondern gemeinsame Angst – die Angst, dass sie die nächsten sind, die geoutet, entlarvt und verurteilt werden.

Das zweite Gesetz des Vampirschlosses: Denken und Handeln als sehr, sehr schwer erscheinen lassen. Es darf keine Leichtigkeit geben, geschweige denn Humor. Humor ist schließlich an sich schon nicht ernst, oder? Denken ist harte Arbeit, gemacht für Leute mit feinen Stimmen und gerunzelter Stirn. Wo Selbstbewusstsein ist, stifte Skepsis. Sag: Nicht so schnell, wir müssen genauer darüber nachdenken. Denk dran: Überzeugungen zu haben, ist repressiv und könnte zum Gulag führen.

Das dritte Gesetz des Vampirschlosses: So viel Schuld erzeugen, wie du kannst. Je mehr Schuld, umso besser. Menschen müssen sich schlecht fühlen: Es zeigt, dass man den Ernst der Dinge versteht. Es ist okay, Klassenprivilegien zu besitzen, wenn man sich schuldig fühlt und andere in einer niedrigeren Klassenposition dazu bringt, sich auch schuldig zu fühlen. Du hast viel für die Armen getan, oder?

Das vierte Gesetz des Vampirschlosses: Essenzialisiere. Obwohl die Bewohner des Vampirschlosses immer deklarieren, dass Identitäten fluide, plural und multipel sind – zum Teil, um ihren ausnahmslos reichen, privilegierten und bürgerlich-assimilatorischen Hintergrund zu verschleiern –, muss der Feind immer essenzialisiert werden. Da das Begehren, das im Vampirschloss herrscht, im Wesentlichen das des Priesters nach Exkommunikation und Verdammung ist, braucht es eine starke Unterscheidung zwischen Gut und Böse, wobei letzteres essenzialisiert werden muss. Man beachte die Taktik. X hat etwas gesagt / sich in einer bestimmten Weise verhalten – diese Bemerkungen / dieses Verhalten kann als transphob/sexistisch etc. aufgefasst werden. So weit, so gut. Aber auf den nächsten Schritt kommt es an. X wird dann als transphob/sexistisch bestimmt. Die ganze Identität wird durch eine unüberlegte Bemerkung oder ein falsches Verhalten definiert. Sobald das Vampirschloss seine Hexenjagd begonnen hat, kann das Opfer (das oft aus der Arbeiterklasse kommt und die passiv-aggressive Etikette der Bourgeoisie nicht gelernt hat) zuverlässig dazu gebracht werden, die Fassung zu verlieren und damit seine Position als Pariah / jüngstes Opfer zementieren.

Das fünfte Gesetz des Vampirschlosses: Denk wie ein Liberaler (denn du bist einer). Die Arbeit des Vampirschlosses, immer neue reaktive Empörung anzustacheln, besteht darin, immer wieder das Offensichtliche zu bestätigen: Das Kapital verhält sich wie das Kapital (es ist nicht sehr nett!), repressive Staatsapparate sind repressiv. Wir müssen protestieren!

Neoanarchy in the UK

Die zweite libidinöse Formation ist der Neoanarchismus. Damit meine ich auf keinen Fall Anarchisten oder Syndikalisten, die tatsächlich Arbeiter organisieren, wie die Solidarity Federation. Ich meine vielmehr jene, die sich als Anarchisten begreifen, aber deren Politik nicht viel mehr umfasst als Studentenproteste und Besetzung sowie Kommentare auf Twitter. Wie die Bewohner des Vampirschlosses kommen Neoanarchisten meist aus dem Kleinbürgertum, wenn nicht aus einer noch höheren Klasse.

Sie sind außerdem meist jung: in ihren Zwanzigern oder höchstens frühen Dreißigern, weswegen ihre neo­anar­chistische Position auf einem schmalen historischen Horizont beruht. Neoanarchisten kennen nichts anderes als den kapitalistischen Realismus. Zum Zeitpunkt der Politisierung der Neoanarchisten – und viele von ihnen wurden erst vor sehr kurzer Zeit politisiert, wenn man sich das Ausmaß an auftrumpfender Angeberei anschaut – war die Labour-Partei bereits von Blair ausgehöhlt und hatte sich dem Neoliberalismus mit einer kleinen Dosis sozialer Gerechtigkeit verschrieben. Doch das Problem mit dem Neoanarchismus ist, dass er, ohne es zu wissen, einen historischen Moment widerspiegelt, anstatt einen Ausweg aus ihm zu bieten. Er vergisst, oder hat tatsächlich nie gewusst, welche Rolle Labour in der Verstaatlichung großer Industrien und Infrastrukturen oder bei der Gründung der Nationalen Gesundheitsbehörde gespielt hat. Neoanarchisten werden behaupten, dass »parlamentarische Politik noch nie etwas geändert hat« oder dass »Labour schon immer nutzlos war«, während sie Demonstrationen für das Gesundheitssystem besuchen oder Kritiken über die Demontage der Reste des Sozialstaates retweeten. Darin liegt eine merkwürdige, implizite Regel: Es ist in Ordnung, gegen das Parlament zu protestieren, aber es ist nicht in Ordnung, ins Parlament oder die Massenmedien zu gehen, um von dort aus zu versuchen, etwas zu verändern. Die Mainstreammedien müssen verachtet werden, aber Question Time bei der BBC sollte man schauen und sich auf Twitter darüber beschweren. Purismus gleitet über in Fatalismus; lieber nicht von der Korruption des Mainstreams befleckt werden, lieber hilf­los »Widerstand leisten«, anstatt zu riskieren, sich die Hände schmutzig zu machen.

Es ist darum kein Wunder, dass viele Neoanarchisten depressiv wirken. Diese Depressionen werden ohne Zwei­fel durch die Ängste des Lebens nach dem Studium noch verstärkt, da der Neoanarchismus, wie das Vampirschloss, an den Universitäten seinen natürliche Umgebung findet und mehrheitlich von Leuten, die gerade ihren Abschluss gemacht haben oder noch weiter an der Universität bleiben, vertreten wird.

Was tun?

Warum haben diese beiden Konfigurationen so überhandgenommen? Der erste Grund besteht darin, dass sie unter dem Kapital gedeihen konnten, weil sie seinen Interessen dienen. Das Kapital hat die organisierte Arbeiterklasse gebändigt, indem es das Klassenbewusstsein fragmentierte, weil es die Gewerkschaften unterworfen und gleichzeitig die »hart arbeitenden Familien« dazu verführt hat, sich auf ihre schmal definierten Interessen zu beschränken, anstatt auf die Interessen der größeren Klasse; aber warum sollte sich das Kapital um eine »Linke« kümmern, die Klassenpolitik durch moralisierenden Individualismus ersetzt und die, anstatt Solidarität zu fördern, Angst und Unsicherheit verbreitet?

Der zweite Grund ist das, was Jodi Dean kommunikativer Kapitalismus genannt hat. Vielleicht könnte man das Vampirschloss und den Neoanarchismus ignorieren, gäbe es da nicht den kapitalistischen Cyberspace. Das fromme Moralisieren des Vampirschlosses kennzeichnet eine bestimmte »Linke« schon seit Jahren – aber wenn man nicht Mitglied dieser spezifischen Kirche war, konnte man ihre Predigten vermeiden. Durch die sozialen Me­dien ist das nicht mehr der Fall und es gibt kaum Schutz vor den psychischen Pathologien, die diese Diskurse propagieren.

Was können wir also tun? Zunächst ist von enormer Wichtigkeit, Identitätspolitik abzulehnen und anzuerkennen, dass es keine Identitäten, sondern nur Begehren, Interessen und Identifikationen gibt. Ein wichtiger As­pekt der britischen Cultural Studies – die so beeindru­ckend und bewegend in John Akomfrahs Installation »The Unfinished Conversation« (derzeit [2013] in der Tate Bri­tain) und seinem Film The Stuart Hall Project inszeniert werden – bestand darin, dass sie sich dem identitären Essenzialismus widersetzt haben. Anstatt die Menschen in die Ketten bereits bestehender Kategorien zu zwängen, ging es darum, jede Artikulation als provisorisch und künstlich zu begreifen. Neue Artikulationen kann es immer geben. Keine davon ist essenziell. Leider handelt die Rechte mehr nach dieser Prämisse als die Linke. Die bürgerlich-identitäre Linke weiß, wie man Schuld erzeugt und eine Hexenjagd veranstaltet, aber sie weiß nicht, wie man Konvertiten macht. Aber darum geht es nicht. Das Ziel ist nicht, eine linke Position zu popularisieren oder Leute zu gewinnen, sondern in einer Position der elitären Überlegenheit zu bleiben, bei der die Überlegenheit als Klasse aber nun durch moralische Überlegenheit verdoppelt wird. »Wie kannst du es wagen, zu sprechen – wir sind es, die für die Leidenden das Wort erheben!«

 

Die Ablehnung von Identitätspolitik kann jedoch nur gelingen, wenn die Bedeutung der Klasse wieder hervorgehoben wird. Eine Linke, die im Kern nicht an Klasse orientiert ist, kann nichts anderes als eine liberale Lobbygruppe sein. Klassenbewusstsein hat immer einen Doppelcharakter: Es bedeutet ein Wissen um die Art und Weise, wie Klasse Erfahrung formt und strukturiert, und ein Wissen um die besondere Position, die wir innerhalb der Klassenstruktur einnehmen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es nicht um eine Anerkennung durch die Bourgeoisie geht, noch nicht einmal um die Zerstörung der Bourgeoisie. Es ist die Klassenstruktur – eine Struktur, die alle verletzt, selbst die, die von ihr profitieren – die zerstört werden muss. Die Interessen der Arbeiterklasse sind die Interessen von allen; die Interessen der Bourgeoisie sind die Interessen des Kapitals, was wiederum die Interessen von niemandem sind. Unser Kampf muss auf die Konstruktion einer neuen und überraschenden Welt zielen, nicht auf die Erhaltung von durch das Kapital geformten und verzerrten Identitäten.

Wenn das wie eine verbotene und abschreckende Aufgabe wirkt, dann stimmt das. Es ist jedoch möglich, viele präfigurative Dinge im Jetzt zu unternehmen. Tatsächlich sind diese Aktivitäten mehr als präfigurativ – sie könnten zu einem Teufelskreis führen, einer selbsterfüllenden Prophezeiung, in der die bürgerlichen Formen der Subjektivität demontiert werden und eine neue Universalität hervorbringen. Wir müssen lernen oder neu erlernen, wie Verbundenheit und Solidarität entstehen können, anstatt dass wir die Arbeit des Kapitals übernehmen, indem wir uns verurteilen und beschimpfen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir immer einer Meinung sein müssen – im Gegenteil, wir müssen Bedingungen schaffen, in denen es Uneinigkeit geben kann, ohne die Angst des Ausschlusses und der Exkommunikation. Wir müssen strategisch darüber nachdenken, wie wir die sozialen Medien nutzen – und nie dabei vergessen, dass es sich, trotz des Egalitarismus, den die libidinösen Ingenieure des Kapitals propagieren, dabei im Moment um das Terrain des Feindes handelt, auf dem es um die Reproduktion des Kapitals geht. Doch das bedeutet nicht, dass wir dieses Gebiet nicht besetzten können, um darauf Klassenbewusstsein zu fördern. Wir müssen aus der »Debatte«, zu der wir vom kommunikativen Kapital ständig überredet werden, ausbrechen und uns daran erinnern, dass es um den Klassenkampf geht. Das Ziel ist nicht, ein Aktivist »zu sein«, sondern der Arbeiterklasse dabei zu helfen, sich selbst zu aktivieren – und zu transformieren. Außerhalb des Vampirschlosses ist alles möglich.

Zu nichts gut 354

Seit ich ein Teenager war, leide ich immer wieder an Depressionen. Einige dieser Phasen waren enorm lähmend – ich habe mich selbst verletzt, mich zurückgezogen (ich konnte monatelang in meinem Zimmer bleiben und das Haus nur verlassen, um mich zu melden oder das wenige Essen, dass ich verzehrte, zu kaufen) und war in der Psychiatrie. Ich glaube nicht, dass ich mich davon erholt habe, aber es freut mich zu sagen, dass sowohl die Zahl als auch die Schwere der depressiven Phasen in den letzten Jahren abgenommen haben. Zum Teil hat das mit Veränderungen in meiner Lebenssituation zu tun, aber auch mit einem anderen Verständnis meiner Depression und ihrer Ursachen. Ich teile meine Erfahrungen nicht, weil ich glaube, dass sie etwas Besonderes oder Einmaliges sind, sondern um zu zeigen, dass einige Formen der Depression am besten in unpersönlichen und politischen Begriffen verstanden – und bekämpft – werden können, statt in individuellen und »psychologischen«.

Über die eigene Depression zu schreiben, ist schwer. Zum Teil beruht die Depression auf einer höhnischen »inneren« Stimme, die dir Selbstbezogenheit vorwirft – du bist nicht depressiv, du tust dir einfach leid, reiß dich zusammen – und diese Stimme reagiert sensibel darauf, wenn man an die Öffentlichkeit geht. Natürlich handelt es sich dabei nicht wirklich um eine »innere« Stimme – es ist der verinnerlichte Ausdruck realer gesellschaftlicher Kräfte, von denen einige ein Interesse daran haben, jede Verbindung zwischen Depression und Politik zu leugnen. Meine Depression ging immer mit der Überzeugung einher, dass ich wirklich zu gar nichts gut bin. Bis ich dreißig wurde, habe ich mein Leben damit verbracht, zu glauben, dass ich niemals arbeiten werde. In meinen Zwanzigern wechselte ich zwischen Promotion, Phasen der Arbeitslosigkeit und kurzen Jobs. In jeder dieser Rollen hatte ich das Gefühl, nicht dazu zu gehören – an der Universität, weil ich ein Dilettant war, der sich irgendwie durchgemogelt hat, und kein richtiger Wissenschaftler; in der Arbeitslosigkeit, weil ich nicht wirklich arbeitslos war, so wie die, die wirklich nach Arbeit suchten, sondern ein Drückberger; und in kurzen Jobs, weil ich fand, dass ich keine gute Arbeit machte und sowieso nicht in die Büros oder Fabriken gehörte und zwar nicht, weil ich »zu gut« dafür bin, sondern – ganz im Gegenteil – weil ich überqualifiziert und nutzlos war, weil ich jemand anderem den Job wegnahm, jemandem, der ihn mehr brauchte und mehr verdiente als ich. Selbst als ich in der Psychiatrie war, glaubte ich, dass ich nicht wirklich depressiv bin – ich tat nur so, um nicht arbeiten zu müssen oder, in der höllischen, paradoxen Logik der Depression, ich simulierte, um zu verbergen, dass ich nicht arbeiten kann und dass es in der Gesellschaft keinen Ort für mich gab.

Als ich schließlich eine Stelle als Dozent an einer Weiterbildungsinstitution erhielt, ging es mir eine Weile gut – aber diese Freude zeigte, dass ich das Gefühl der Wertlosigkeit noch nicht abgeschüttelt hatte, das bald wieder zu mehr Depression führen wird. Mir fehlte das Selbstbewusstsein von jemandem, der in diese Rolle hineingeboren wurde. Auf einer gar nicht so tief liegenden Ebene glaubte ich offensichtlich noch immer nicht, dass ich jemand sein könnte, der als Dozenten arbeitet. Aber woher kam dieser Glaube? Die vorherrschende Schule der Psychiatrie verortet die Ursachen solcher »Überzeugungen« in einer fehlerhaften Gehirnchemie, die man durch Medikamente korrigiert; die Psychoanalyse und von ihr beeinflusste Therapien suchen bekanntermaßen nach Ursachen in der Familiengeschichte, während die kognitive Verhaltenstherapie sich weniger für die Ursachen dieser negativen Überzeugungen interessiert, sondern sie einfach durch positive Geschichten ersetzt. Nicht dass diese Modelle vollkommen falsch wären, aber sie verfehlen – und zwar notwendigerweise – die wahrscheinlichste Ursache solcher Minderwertigkeitsgefühle: gesellschaftliche Macht. Die soziale Macht, die am meis­ten Auswirkungen auf mich gehabt hat, war Klassenmacht, obwohl natürlich auch Gender, Herkunft und andere Formen der Herrschaft zu demselben Gefühl der ontologischen Minderwertigkeit führen, das am präzises­ten in dem Gedanken zum Ausdruck kommt, den ich oben erwähnt habe: dass man nicht die Art Person ist, die die Rollen erfüllen kann, die die dominante Gruppe vorgesehen hat.

Auf den Vorschlag eines Lesers von Kapitalistischer Realismus begann ich, die Arbeiten von David Smail zu lesen. Smail – ein Therapeut, aber einer, der die Frage der Macht ins Zentrum rückt – bestätigte meine Hypothesen über Depression, über die ich gestolpert war. In seinem wichtigsten Buch The Origins of Unhappiness beschreibt Smail, wie die Markierungen durch Klasse als etwas gedacht wird, das unauslöschlich ist. Wer sich von Geburt an für minderwertig hält, für den wird Reichtum selten genug sein, um das Gefühl der Wertlosigkeit, das sie so früh gezeichnet hat – entweder in ihren Augen oder den Augen anderer –, abzuschütteln. Jemand, der sich aus der gesellschaftlichen Sphäre, in die er »gehört«, herausbewegt, wird immer mit dem drohenden Gefühl des Schwindels, der Panik und der Angst zu kämpfen haben:

»… isoliert, abgeschnitten, umgeben von einem feind­seligen Raum, hast du plötzlich überhaupt keine Ver­bindungen mehr, bist ohne Stabilität, hast nichts, was dich stützt oder festigt; eine schwindelerregende, krank machende Unwirklichkeit nimmt von dir Besitz; dir droht ein völliger Verlust deiner Identität, ein Gefühl des vollständigen Betrugs; du hast kein Recht hier zu sein, hier und jetzt, in diesem Körper, so angezogen; du bist nichts und ›nichts‹ ist genau das, was du glaubst, zu werden.«355

Seit einiger Zeit ist die erfolgreichste Taktik der herrschende Klasse, Leute verantwortlich zu machen. Jedes Mitglied der niederen Schichten soll glauben, dass seine Armut, der Mangel an Möglichkeiten oder die Arbeitslosigkeit, seine Schuld ist und nur seine. Individuen machen lieber sich selbst verantwortlich als gesellschaftliche Strukturen, von denen man ihnen sowieso erzählt, dass sie nicht existieren (sie sind nur Ausflüchte, auf die sich Schwache berufen). Was Smail »magischen Voluntarismus« nennt – der Glaube, dass es in jedem Individuum liegt, zu allem zu werden, was es möchte – ist die herrschende Ideologie und inoffizielle Religion der zeitgenössischen, kapitalistischen Gesellschaft, propagiert von »Experten« des Reality-TVs und Businessgurus sowie von Politikern. Magischer Voluntarismus ist sowohl Wirkung als auch Ursache des historisch niedrigen Klassenbewusstseins. Es ist die Kehrseite der Depression – jener zugrundeliegenden Überzeugung, dass wir alle auf unsere Weise verantwortlich sind für unser eigenes Elend und es deswegen verdient haben. Die langfristig Arbeitslosen unterliegen dabei einem ganz besonders perfiden Double-Bind: Einer Bevölkerung, der ihr Leben lang erzählt wurde, dass sie zu nichts gut ist, wird zugleich gesagt, dass sie alles schaffen kann, wenn sie nur will.

Wir müssen die fatalistische Unterwerfung der britischen Bevölkerung unter die Austerität als eine Folge der absichtlich kultivierten Depression verstehen. Diese Depression kommt in der Akzeptanz zum Ausdruck, dass es noch schlimmer wird (für alle, außer einer kleinen Elite), dass wir froh sein können, einen Job zu haben (so dass wir nicht darauf hoffen, dass die Löhne der Inflation angepasst werden) und dass wir uns den kollektiven Luxus des Sozialstaates nicht leisten können. Kollektive Depression ist das Ergebnis des Projektes der herrschenden Klasse, uns erneut zu unterwerfen.

Schon lange haben wir akzeptiert, dass wir nicht die Art Menschen sind, die handeln können. Das ist kein fehlender Wille, genauso wie niemand, der an Depressionen leidet, einfach aus ihr »herauskommt«, indem er sich »zusammenreißt«. Die Erneuerung des Klassenbewusstseins ist eine wirklich wichtige Aufgabe und zwar eine, die sich nicht auf bestehende Lösungen berufen kann – aber egal was unsere kollektive Depression uns sagt, es kann gelingen. Neue Formen der politischen Partizipation zu entwickeln, verfallene Institutionen wieder zu neuem Leben zu erwecken, privatisiertes Leid in politische Wut zu verwandeln: All das kann geschehen, und wenn das gelingt, wer weiß, was dann möglich ist?