Mit Baťa im Dschungel

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LJUBODRAG

(Schwiegersohn Jan Antonín Bat’as, Ehemann von Ludmila Bat’ová, Vater von Dolores Bat’a Arambašić)

Ich bin Schuhmacher gewesen. Dann Partisan. Anschließend wieder Schuhmacher. Später Farmer. Und ich denke nicht gerne an früher. Lieber bin ich auf dem Pferderücken unterwegs oder küsse ein dralles Frauenzimmer. Keine Sorge also, dass ich zu geschwätzig werden könnte. Aber aufrichtig will ich schon sein. Ich vermisse die milde Adria, die nicht so weit ist wie das brasilianische Meer. Vermisse die Berge und den Schnee und kann auch unseren Himmel nicht vergessen, der ein völlig anderes Blau hatte. Dafür habe ich hier Ludmila gefunden. Und ich hab sie geheiratet – dass es nicht die romantischste aller Anbahnungen war, was soll’s. Anfangs war ich wohl nur eine geeignete Partie, aber dann konnte ich sie mit meiner temperamentvollen Art für mich einnehmen. Oder wie man es auch nennen mag. Die Leute wollen immer alles irgendwie nennen. Ihm einen Namen geben. Es in Schubladen stecken, die sie begreifen, obwohl es, wenn man etwas wohin steckt und benennt, noch überhaupt nicht heißt, dass man es auch begreift. Ludmila war mir ein echter Gefährte. Sie war wie geschaffen für mich, und ich hoffentlich auch für sie. Letztlich war sie nämlich auch so eine wilde Seele wie ich, auch wenn sie geglaubt hatte, dass ihre Kindheit und Jugend, die sie mit Klavierstunden und Tanznachmittagen, polierten Champagnerflöten und weißen Handschuhen und Kleidchen und Flitterkram von Dior verbracht hatte, sie zu etwas völlig anderem prädestinierten. Aber zum Glück hat das Schicksal sie mir zugespielt, und bei mir kam zum Vorschein, was Lidka alles konnte: schießen wie ein Mann, besser reiten als ich und einen Reifen wechseln, wenn der Jeep auf einem der Schlaglochwege eine Panne hatte. Eine Frau, die die Ärmel hochkrempeln und, wenn es drauf ankam, Befehle erteilen konnte. Eine mulher de comando, wie die Brasilianer sagen. Ich mag sie so sehr und würde ihr alles verzeihen, sogar diesen Pianisten, diesen Klavierling, der sich auf der ganzen Welt wichtigtut und die Tasten hoch- und runterklimpert, dass mir der Kopf davon schwummert. Der aufgeblasen durch die Zeitungen paradiert, aus denen Lidka dann jedes noch so kleine Artikelchen ausschneidet. Jeden Fitzel über den blassen Wicht klebt sie in ein rotes Heft und bemüht sich gar nicht erst, es vor mir zu verbergen. Mir wär’s lieber, sie würde es heimlich tun und nicht direkt vor meiner Nase, aber dazu ist sie in ihrer Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit nicht fähig. Manchmal könnte sie sich ein bisschen mehr wie meine Ehefrau verhalten und nicht wie jener Gefährte, von dem ich vorhin so lobend gesprochen habe. Aber das wäre wohl zu viel verlangt. Rudolf Firkušný … ein Name wie von einem Zirkusplakat! Aber ich bin hier, und Lidka ist hier bei mir, es kann also nichts passieren. Um uns der Dschungel, die Sonne, die jeden Zweifel verbrennt, mein Hund Kazan, mein Strohhut und mein Vieh. Was wollte ich da mehr? Genau so etwas habe ich mir schließlich erträumt, als ich im Gefängnis saß, mit zerschlagenen Zähnen und einem Hunger, dass ich die Kakerlaken hätte verputzen können, von denen es dort wimmelte. Und ich habe sie auch verputzt. Ich schwor mir, wenn ich da jemals lebendig herauskäme, wollte ich mich niemals über mein Leben beschweren. Und ich hab mich auch nicht beschwert und mir immer wieder gesagt, dass ich eben lebe, so gut ich kann. Oder so annähernd. Und nachdem ich Lidka geheiratet hatte und Dolores geboren war, wünschte ich mir nichts mehr weiter. War nie hinter dem großen Glück und großen Plänen her. Dafür hatten wir bei uns Jan Antonín. Sicher, es war schlimm, dass ihm die Roten in der Heimat alles weggenommen und ihn zum faschistischen Ungeheuer erklärt hatten, trotzdem konnte ich dafür nie so ein großes Mitleid aufbringen. Er hatte zu essen, konnte im Grunde machen, was er wollte, wenn auch sein Geld wohl nicht dafür reichte, alle, an denen ihm etwas lag, nach Lateinamerika zu holen und hier ein neues Zlín aufzubauen. Gut, na und? Es war eine Tragödie, ein Kummer so groß und massiv wie meine weißen Nelore-Rinder, dabei hätte er doch einfach alles in den Wind schießen und ganz von vorn beginnen können, hätte sich mit seinem dummen Neffen in Kanada einigen und allen Streit beilegen können. Aber da wäre er wohl nicht der Chef gewesen. Der Gigant!

Der Gigant hatte jedoch nie in einer Zelle der Gestapo gesessen, hatte nie einen schimmeligen Brotkanten in mickrige Stücke zerteilt und sie im funzeligen Tageslicht getrocknet, um etwas für schlechtere Zeiten zu haben, in der Schnauze nur noch ein paar Zähne, weil die anderen ein Nazi mit dem Gewehrkolben ausgeschlagen hatte. Ich gehörte zwar zum Widerstand, war aber nur ein kleiner Fisch, die Gestapo hatte eigentlich meinen Bruder Dragoslav gewollt, weil der die Gruppe befehligte. Wir waren ebenfalls eine Schuhmacherfamilie, Vater besaß einen Betrieb, und wir hatten den Bergpartisanen um Draža Mihailović feste Stiefel geliefert, und am Ende hatten Dragoslav und ich uns ihnen angeschlossen. Wir wurden jedoch verpfiffen, und bei einem gescheiterten Gefecht konnte ich nicht mehr rechtzeitig das Weite suchen. Dragoslav war schon immer flinker gewesen. Sie hielten mich für ihn, und ich habe es zwei Tage lang durchgestanden, keinen Mucks zu sagen, obwohl sie mich übel zugerichtet haben. Schließlich haben sie ihren Irrtum bemerkt: So ein dünner, finsterer Kerl kam, um mich zu begutachten, und schüttelte nur missmutig den Kopf. Einen Monat lang saß ich dann in der Zelle, hobelte immer dünnere Scheibchen vom Brot und fing Kakerlaken ein, deren Deckflügel zwischen den Zähnen knirschten. Dann haben sie mich gehen lassen. Sie erklärten nicht, weshalb, und ich hatte keine Ahnung, warum sie mich nicht einfach erschossen oder erhängten. Ich dachte, dass mich vielleicht jemand freigekauft hatte, aber bis heute habe ich nichts darüber erfahren. Ich forschte auch nicht weiter nach, packte nur diese wundersame Chance beim Schopf und grübelte nicht lange darüber. Denn langes Grübeln bringt einen nur selten weiter. Ich sammelte mein Schusterwerkzeug zusammen und machte mich zu Fuß über Italien nach England auf, wo ich mich den Alliierten anschloss. In der Zelle hatte ich mir auch geschworen, dass ich in einer möglichst weiten Landschaft leben würde, dass mich niemand mehr irgendwo einsperren würde. Aber dass ich mal achttausend Hektar brasilianischen Urwald besitzen würde, das hätte ich mir natürlich nicht träumen lassen.

Nun hatte ich als Partisan nicht für die Kommunisten gekämpft, sondern für König Petar. Dragoslav und ich konnten uns also leicht ausrechnen, dass wir nach dem Krieg nicht sonderlich beliebt sein würden. Man musste nur einmal tief durch die Nase einatmen, und es stank bereits nach neuen Gräueln. Wir beide wollten ohnehin so weit weg wie möglich, wollten die Welt kennenlernen, anderen Schnaps, andere Frauen. Also ließ Dragoslav seinen Finger über der Weltkarte kreisen, und Brasilien gefiel uns nicht schlecht, weil es so riesengroß aussah und weil unserer Vorstellung nach viele Menschen dort barfuß gingen, denen wir Schuhwerk anfertigen konnten, wie unser Vater es uns beigebracht hatte. Nach diesem Krieg konnte uns nichts mehr schrecken. Wir fürchteten weder den Teufel noch irgendwelche Krokodile, Schlangen oder Urwaldindianer. Alles ließ sich überleben, wenn man nur ein Gewehr bei sich hatte und damit umgehen konnte. Und als wir im Hafen von Santos einliefen, kam uns zu Ohren, der legendäre Schuhmacherkönig Jan Antonín Bat’a habe die Stadt Batatuba gegründet und würde dort eine Fabrik aufbauen. Natürlich kannten wir ihn, denn auch in Jugoslawien hatte er vor dem Krieg Geschäfte und Fabriken besessen, gegen die Vaters Betrieb nur eine bescheidene Werkstätte war. Aber als wir Herrn Bat’a in Brasilien vorführten, was wir vom Metier verstanden, stellte er uns auf der Stelle ein. Er gefiel uns, ein Koloss von Mann mit sanften Augen, der aber ordentlich donnern konnte und das gleiche Temperament hatte wie wir. Und am besten gefiel mir seine Idee mit der Besiedelung des Urwalds. Er wollte riesige Flächen Land weiterverkaufen, die er während des Krieges von zwei Deutschen erworben hatte, den Brüdern Sloman, die ihre brasilianischen Besitztümer loswerden und ins Reich zurückkehren wollten. Sie hatten ihm ihre Firmen Comercial Alto Paraná S.A. und Cia de Viação São Paolo – Mato Grosso verkauft. Und weil der Zahlungsverkehr über die deutsche Banco Transatlántico Alemão verlief, die in der Tschechoslowakei eine Filiale in Olomouc besaß, bescherte ihm das später einen Eintrag auf der schwarzen Liste der Alliierten. So als hätte er Geschäfte mit Nazideutschland gemacht. Dabei waren die Sloman-Brüder keine Nazis, sie waren Auswanderer, die schon zu Beginn dieses aberwitzigen Jahrhunderts über den großen Teich gekommen waren. Und nachdem ihnen der Weizen nicht recht gedeihen wollte und sie genug vom Dschungel hatten, beschlossen sie nach Deutschland zurückzukehren. Aber wie’s der Teufel will, kam dem Handel zwischen Bat’a und ihnen der Krieg dazwischen. Und die konkurrierenden Schuhfirmen in Nordamerika und England hatten nichts dagegen, diesen aufdringlichen Mähren loszuwerden. Der tschechoslowakische Präsident wiederum, dieser duckmäuserische Beneš, kochte sein eigenes Süppchen, denn Jan Antonín war ihm schon vor dem Krieg auf die Nerven gegangen. Er ließ sich zwar von ihm dicke Pfründe für seine jämmerliche Londoner Exilregierung zahlen, aber er machte keinen Finger dafür krumm, den größten tschechoslowakischen Industriellen von dieser schwarzen Liste runterzubekommen, die ihn von allem Welthandel ausschloss. Sogar nach dem Krieg noch hat Beneš sich nicht darum gekümmert.

Nun hatte der Chef sich vorgestellt, dass kleinere Siedler aus ganz Brasilien hierherströmen, von ihm Land kaufen und Rinder züchten würden. Von diesen Rindern würden die Batamanen dann qualitätvolles Leder beziehen, denn gutes Schuhleder, das nicht innerhalb einer Woche zerfiel und faulte, konnte man in Brasilien lange suchen. Dragoslav und ich sollten ihm dabei helfen. Ich war zunächst Leiter aller Bat’a-Verkaufsstellen in Brasilien, blieb also in der Schuhbranche. Und nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich es eines Tages mit einer eigenen Farm versuchen würde. Erst nach Jan Antoníns Tod, als Lidka die Ländereien in Mato Grosso do Sul erbte, sollte aus mir ein Cowboy werden. Und damit hatte ich mein Ding gefunden! Schon als ich seine schöne Tochter heiraten durfte, kam ich mir vor wie in einem alten Mittelaltermärchen. Und letztlich war es auch so: In der Gegend, in die wir kamen, gab es kein anderes Verkehrsmittel als Pferd oder Flusskahn. Jan Antonín hätte damals seinen ganzen Besitz verkaufen und bis an sein Lebensende von dem Geld leben können. Aber das war nicht seine Art. Und ich ließ mich auf seine verrückten Ideen ein und brach mit ihm in den Urwald auf, um Schuhe zu verkaufen und eine regelrechte Utopie zu verwirklichen.

 

Im Urwald aber wollte ich dann gar nicht mehr Schuhmacher sein. Der Dschungel wickelte mich mit seiner ganzen dunkelgrünen Energie und seinem würzigen Duft um den kleinen Finger. In diesem lebensprallen Gewirr konnte man in der einen Sekunde das Wesen aller Dinge erahnen und in der nächsten Sekunde alles verlieren, weil irgendwo im Halbdunkel die Schwanzspitze einer Schlange aufblitzte und man schon Gift in der Wade hatte. Ich wollte mich dieser Kraft stellen, wollte sie zugleich bändigen und in Frieden mit ihr leben. Ich wollte die Macht des Chaos in mir aufnehmen. Sie beherrschen und mich von ihr beherrschen lassen. Mir wurde bewusst, dass ich vom unendlichen Paradies und der Hölle zugleich ein eigenes Stück bekommen hatte, und ich war zufrieden. Mit allem versöhnt, rundum erfüllt. Ich brauchte nur morgens aufzuwachen und das Schreien und Krächzen der roten Aras mit den blauen Flügeln zu hören, und mich überkam eine verdammte Lebenslust. Ich schnappte mir die Machete und zog mit den Indios aus Paraguay los, die ich extra angeheuert hatte, und wir hackten uns durch den Dschungel. Stundenlang arbeiteten wir uns voran. Schipperten über den Fluss, beguckten Tukannester und schlugen unter dem freien Himmel unser Lager auf. Wenn die Stechmücken sich auf uns stürzten wie die Geier aufs Aas, zündete ich mir eine Virginia an und dachte daran, dass ich nie wieder in einer stinkigen Zelle dahinvegetieren würde und statt den Kakerlaken jetzt ein saftiges Rindersteak über dem Feuer hatte. Die zierliche Indiofrau eines jungen Maurers aus Paraguay, der hier mit mir sein Glück versuchte, hatte es für uns vorbereitet. Ich lauschte dem Klappern des Zinngeschirrs, kratzte das letzte Stückchen fettigen Fleischs aus dem Kessel und stellte mir Lidka vor, wie sie über das gerodete, grüne Weideland galoppierte, einen Cowboyhut tief in der Stirn, mit kariertem Hemd und den engen Reithosen, die ihr so gut standen. Die Königin des brasilianischen Dschungels, oh ja!

Als auf meinem Landstück der Urwald besiegt war, beließ ich zu Ehren des so zähen Gegners etwa dreißig Prozent der Wildnis in ihrem vorherigen Zustand. Das Getier sollte darin leben dürfen, wie es ihm beliebte. Zwar warnten mich alle Schlaumeier vor den Jaguaren, aber für Jaguare gab es die Flinte, außerdem wagten sie sich nicht zu den brandgerodeten Weiden vor. Ab und zu erwischte mal einer ein Rind, aber dann war es nicht schwer, ihn aufzuspüren, dafür hatte ich meine Indianer. Und auf dem restlichen Land säte ich Gras aus, das zähe, dicke Halme hatte und so wohlgenährt aussah wie meine weißen und schwarzen indischen Stiere mit ihren Hörnern, für die sich selbst Beelzebub nicht schämen müsste. Und ich baute ein kleines Haus, mit einem roten Ziegeldach wie bei uns in der Heimat, strich es eigenhändig gelb an und zeigte es Lidka. Und Lidka nickte. Ein Moment, der so glücklich war wie der, als ich aus meiner Zelle herauskam. Und dann machte ich weiter. Haute, schlug und hackte mit meiner gewetzten Machete, schoss auf Anakondas, machte duftende Holzkohle aus den tropischen Riesenbäumen, die auf meinem Grundstück keinen Platz hatten. Ich war ein Raubtier, voll der kraftvollen Säfte dieses unendlichen Landes, das mein Land war. Ich verspürte nicht die Trauer des Verbanntseins, nicht die Scham und die Gewissensbisse der widerrechtlichen Eroberer, es war mein Leben und nur meines, und ich hatte nicht die Absicht, es mir durch irgendwelche Eifersüchteleien, Erinnerungen oder andere Spezialitäten verweichlichter Städter mit zarten weißen Händchen verhunzen zu lassen. Ich war kein lächerlicher Lala, der zurückblickte!

Trotzdem musste ich dann eines Tages zurückblicken. Als ich nämlich mit Lidka in die Staaten reiste und mir aus Höflichkeit diesen Tastenhelden anhören musste. Er gab in New York ein Konzert und ich brachte es nicht über mich, Lidka den Konzertbesuch zu verbieten. Also gingen wir dorthin, die ganze Familie. Ich ließ mir nichts anmerken, tat so, als wäre alles vergessen und vorbei, aber insgeheim verspürte ich das tiefe Verlangen, dem Kerl mit dem Bullenkastriermesser die Eingeweide herauszuholen. Und dann wollte Lidka auch noch mit ihm sprechen! Ich wusste, wenn ich jetzt Nein sage, würde es alles nur schlimmer machen. Aber natürlich wurde ich gar nicht erst nach meiner Meinung gefragt, weshalb ich sie auch nicht äußern konnte. Dann verschwand Lidka für eine Ewigkeit mit ihm hinter der Bühne, so lange wie ein endloser Sommer, Herbst und Winter zusammen, und ich dachte, ich komme nie mehr über diese Sekunde völliger Ohnmacht hinweg. Es fühlte sich an wie bei meiner Verhaftung, wie als mir ein SS-Mann in den Magen trat, es war die Todesstrafe, die die ganze Zeit meiner Gefangenschaft über mir geschwebt hatte. Und dann war’s auf einmal vorüber. Als hätten sie mich freigelassen, als hätte ich mich selbst befreit.

LUDMILA

Augen und Briefe

Rudi hat mir gestern geschrieben. Einen Brief, der so resigniert wie gefasst klingt. Ich bin außer mir. Wie kann er nur so wenig kämpfen? Wie kann er solche Briefe schreiben!? So voller Liebe, hinter der ich Gleichgültigkeit spüre. Ich spüre sie auf wie ein Jagdhund den Fuchs, der zitternd im Dunkel des Holunderbuschs kauert und nicht weiß, in welche Richtung er fliehen soll. Auch Rudis Schrift sieht danach aus. Klein, zusammengedrängt, schwer leserlich, und auch der Schmerz lässt sich nur schwer herauslesen, über den er so ergeben und gefasst schreibt, dass er papieren wirkt. Ist das überhaupt wahr oder nur eine verfeinerte Art von Höflichkeit? Warum kann die Weltbegabung Rudolf Firkušný nicht der Räuber Nikola Šuhaj sein, der mich entführt, der sich durch Flüsse und Meere, Ozeane und Kontinente hindurchschlägt, um sich mit mir in einer kalten Höhle zu verstecken, wo wir über einem Feuer Fladen rösten und das noch rohe Fleisch des Wildes verzehren, das wir über Berg und Tal gehetzt und dann mit bloßer Hand erlegt haben?

Rudi ist ein Künstler. Ein berühmter, auch wenn sein Stern noch im Aufgehen ist. Er schreibt mir auf dem feinen Briefpapier teurer amerikanischer Hotels. Und ich bin die Tochter eines Großunternehmers im Exil, des Pioniers eines weltweiten Schuhimperiums, den die Welt langsam, aber sicher vergisst. Noch schreibe ich auf ähnlichem Briefpapier wie Rudolf, aber mit der Zeit werde ich damit aufhören. Und mein Vater braucht mich, Vater liebt mich und liebt mich mehr und inniger, als Rudi das je vermocht hat. Ganz gleich, dass es eine väterliche Liebe ist – sie ist einfach stark. Gebieterisch zwar, aber ich kann mich auf sie stützen, sie bricht nicht einfach wie die von mir gemalte, misslungene Birke unter dem Ansturm der Schneeflocken. Darum schreibe ich Rudi, was ich schreiben muss. Ich schreibe ihm, dass unser Versprechen nicht mehr gilt. Wir haben es uns gegeben, als ich noch ein junges Mädchen war und er ein Wunderkind am Klavier, das so sehr dem jungen Mozart glich. Und er? Er protestiert nicht. Nimmt es ergeben an. Voller Demut! Ich bin so wütend! Ich dachte, er würde mich umzustimmen versuchen, mit einem Satz wie »Liebste Lidka, tu das nicht«. Stünde dort doch nur: »Lidunka, ich beschwöre dich bei der Liebe Gottes, überlege es dir noch einmal!!!« Aber es steht nicht da. Das ist so demütigend. Das Einzige, was mir geblieben ist, ist unser gemeinsames Musizieren. Unser gemeinsames Lied, unsere Melodie. Das ist womöglich etwas Stärkeres als Vaters Liebe, als die Tatsache, dass Vater mich hier braucht, hier, im tropischen Exil, wo ich einen Mann heiraten soll, der sich bestmöglich um den Verkauf kümmert. Vielleicht muss ich ja noch nicht einmal heiraten, ich könnte auch das Unternehmen selbst leiten, wenn ihm die Kräfte dafür ausgehen. Das spricht Vater zwar nicht aus, aber ich bin mir dessen gewiss, bin mir gewiss, dass er sich sicher ist, dass ich seine wahre, die einzig wahre Erbin bin. Das spricht er freilich ebenfalls nicht aus. Aber er muss es wissen, denn mein Bruder Jan ist als männlicher Nachkomme zwar der rechtmäßige Erbe, aber letztlich hat er nichts von ihm geerbt. Ich meine, was die Begabung angeht. Immerhin kenne ich mich außer mit der Musik auch mit Zahlen, mit Menschen und mit Schuhen aus. Ich bin im Zeichen des Merkur geboren, des Gottes der Fülle und des Handels. Ich bin die Tochter meines Vaters, woran auch die Musik nichts zu ändern scheint. Vater muss es schon deshalb wissen, weil ich in Batatuba die Produktion gerettet habe. Es war ein schlechtes Jahr, Vaters Betriebe standen weiterhin auf der schwarzen Liste der Alliierten, und mein Cousin Tomík, der Sohn von Onkel Tomáš, dem Firmengründer, begann in Kanada seine Hörner zu zeigen und gegen Vater zu prozessieren … Es sah gar nicht gut aus. Da dachte ich mir aus den bunten Lederresten, die Vater eines Tages aus der Fabrik mitbrachte und wegwerfen wollte, diese Blümchensandalen aus. Sandalen, deren Riemchen oben verschlungen waren und eine kleine Blume bildeten, mehrfarbige Sandalen, die vor allem unglaublich günstig waren, da man sie aus Resten anfertigen konnte. So etwas hatte es in Brasilien vorher nie gegeben. Ich war so stolz auf mich! Die Sandalen gingen weg wie geschnitten Brot, und die Produktion war gerettet. Und damit wir alle! Auch Vater war stolz, wenn er mich auch eigentlich nie gelobt hat. Das mag mich gegrämt haben, nun gut, aber es war nicht so schlimm wie diese windelweichen Briefe von Rudolf.

Karels Briefe waren ganz anders. Roh und voller männlichem Trotz und Schweiß. Er erzählte von dem japanischen Konzentrationslager, in dem er gesessen hatte. Berichtete, dass alle ihm bekannten Bat’a-Leute es überlebt hätten. Karel Aster, meine erste Liebe. Schon in Zlín hatte ich eine Schwäche für ihn, und nicht nur ich. Als wir uns dann in Amerika wiederbegegneten, folgte eine Zeit, die ich insgeheim »große amerikanische Verwirrung« genannt habe und aus der ich schnell wieder nüchtern hervorging, denn Karel war ein ausgemachter Frauenheld, ein Schürzenjäger, wie er im Buche steht. Es war in seinen Augen zu lesen, an seiner Körperhaltung zu erkennen, daran, wie er gleich und sofort alles wollte. Karel, der Eroberer. Trotzdem denke ich gern an ihn zurück. Er war ein famoser Kerl. Famos – ein Wort, das ich mit zwanzig fortwährend verwendete. Aber Karel war wirklich famos. Er war wie frisches Frühlingsgras, in das man sich nur hineinlegen musste, er roch nach Luft, dem Staub der Prärie, dem aufgewühlten Meer. Vielleicht als Einziger hat er daran geglaubt, dass ich großes Talent besitze und Konzertpianistin sein könnte. Alle anderen versuchten es mir eher behutsam auszureden, und nachdem ich Rudi auf Konzerten hatte spielen hören, redete ich es mir ebenfalls kleinmütig aus. Niemals würde ich so sein können wie er. Und mein Perfektionssinn – angeboren oder Ergebnis der Bat’a-Erziehung – gebot mir natürlich, nichts zu tun, was nicht vollkommen ist. Nur Karel sah in mir die Pianistin, die professionelle Musikerin, und als wir in Amerika waren, versuchte er für mich eine Musikhochschule zu finden. Aber auch seine Briefe waren verräterisch, die selbstbewusste Handschrift, die heißblütige Leidenschaft, die er mehr gekonnt stilisierte als wirklich empfand. Ich witterte hinter dieser Schrift den Herzensbrecher. Nicht dass ich so eine großartige Graphologin wäre, aber man sah es einfach. Wenn ich die Briefe nebeneinanderlegte, war es geradezu frappierend, wie Karels großspuriges Anpreisen seiner selbst neben der schmalen, fast unleserlichen Handschrift des genialen Pianisten ins Auge stach. Auch Karels Briefe waren in teuren Hotels und auf erstklassigem Briefpapier geschrieben worden. In der Garage hatte er ein teures Auto, im Bett eine schöne Frau. Und ich war weit weg, von beiden.

 

Und dann sind hier, nach langen Jahren mit meinem starken Mann Ljubodrag, die Augen dieses Malers aufgetaucht. Schwarze Schlitze in Tälern von Falten. Ich spüre sie immer noch auf mir. Wie sie jede Linie meines Körpers erforschen, wie sie, nun ja, sich an mir ergötzen und, ja, wie angenehm mir das ist. Zweimal die Woche hat er mich vor meiner minderjährigen Tochter mit den Augen ausgezogen. Es war schön, wieder einmal verehrt und vergöttert zu werden. Ich weiß, Ljubodrag verehrte und vergötterte mich, aber auf eine wilde, raue, wenn auch zärtliche Weise. Als würde er das ganze Leben mit mir leidenschaftlich Tango tanzen. Es gab gleichsam nichts daneben. Seine Liebe war Liebe, und fertig. Ljubodrag wollte mich nicht auf einem Gemälde verewigen, er hatte kein Bedürfnis nach Erinnerung und Ewigkeit. Ljubodrag liebte und lebte voller Intensität und kannte keine Feinheiten der Verführung, keine Zweifel, nicht die Raffinesse künstlerischer Betörung. Er mochte mich am liebsten nackt oder in Reithosen auf dem Pferd. Freilich hat der Maler kein Wort geäußert, obwohl er es gekonnt hätte, denn wir sprachen Deutsch, damit Dolores es nicht verstand. Es war das erste Mal nach langer Zeit, dass ich wieder gerne mit jemandem Deutsch sprach. Als Ljubodrag und ich uns in Batatuba kennengelernt hatten, hatten wir anfangs auch Deutsch miteinander geredet, wir hatten ja beide in Wien studiert und fanden auf diese Weise die österreichische Art der Aussprache, die weichen, abgerundeten Laute wieder, doch als Ljubodrag dann kühner wurde, wechselten wir ins sinnlichere Französisch mit seinen schmeichelnden Nasalen. Dieser Maler hier aber verkörperte das Wienerische selbst. Es war, als würde ich wieder in die Zeit vor dem Krieg eintauchen, als wir regelmäßig nach Brünn fuhren, wo in Geschäften und Restaurants Deutsch gesprochen wurde, in die Zeit, als Mozart und Beethoven für mich nur auf Deutsch existierten. Ich konnte dem nahezu perfekten Deutsch dieses Malers nicht widerstehen, obwohl ich mir hundertmal gesagt hatte, wie sehr ich diese Sprache hasste und was die Deutschen unserer Familie und ganz Europa angetan hatten. Auch wenn ich wusste, dass eine Sprache nichts dafür kann. Nun, da wir so fern von Europa waren, hatte ich das Gefühl, dass dieser Malermund und das Deutsche, das so weich und ein wenig lispelig aus ihm herausperlte, mich Europa näherbrachte.

Ich erinnere mich, wie er mit ernster Miene murmelte, für meine Augen gebe es keine passende Blaunuance, denn so ein Blau habe er noch nie gesehen. Er müsste dafür eigens einer Siamkatze die Augen herausholen und zur Farbe anrühren. So wie er ihr auch die Härchen ausreißen und neue Pinsel daraus binden müsste, um die Feinheit meiner Haut zu treffen. »Haben Sie zu Hause so eine Katze, die man auf dem Altar Ihrer Schönheit opfern könnte?« Ich schüttelte mich vor Abscheu und warf ihm vor, er würde Dolores Angst machen. Da lachte er nur.

Hätte ich ihm das Bild am Ende überlassen, dann wäre es so gewesen, als hätte ich mich ihm hingegeben. Als würde ich ihm gehören. Ich würde in seinem Zimmer hängen und mich von seinem gierigen Künstlerblick betasten lassen. Ich glaube, auch deshalb kam es zwischen uns zu diesem Kampf. Um mich und um das Bild. Natürlich hatte er bei mir nicht die geringste Chance. Er war ein halbes Jahrhundert älter als ich, und es gab nichts, was mich an ihm angezogen hätte. Bis auf diese Leidenschaft, die mich wie kaum etwas zuvor erregte. Bis auf seine Augen und diese Hände, die so schmal und zierlich waren wie die Krallen eines seltenen Vogels.