Mit Baťa im Dschungel

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EDITA

Ungarn und dieser Zug sind nur noch dunkle, ferne Träume. Sie bleiben zwar immer ein Teil von mir, doch tagsüber kann ich sie verdrängen und vergessen, vielleicht weil wir schließlich alle glücklich in Paris zusammentrafen und später auf dem riesigen Luxus-Überseedampfer an Bord gingen, der Île de France. Unser Ziel war zunächst Nordamerika. Wir hatten noch keine Vorstellung davon, wie radikal sich unser Leben verändern würde. Mit uns ging auch Frau Waldesová an Bord, der die Flucht gelungen war. Ihren Mann hatte die Gestapo gefasst. Sie war eine sehr liebe Frau. Der Waldes-Familie gehörten die KOH-I-NOOR-Werke. Sie erinnerte mich an die weiße Frau aus den Sagen, war etwas füllig, aber doch rätselhaft, wanderte nächtelang wie ein Spuk durch das Schiff und war traurig. Sie redete überhaupt nicht, und vielleicht aß sie auch nicht, denn im Speisesaal sah man sie nur selten. Manchmal grüßte sie mich leise und unterhielt sich kurz mit mir, wollte wissen, ob ich gerne zeichnete, welche Sprachen ich gelernt hätte und ob ich mich auf Amerika freute. Sie selbst freue sich nicht darauf. Ich freute mich auch nicht. Sie hatte merkwürdig schillernde, wie gläserne Augen, die Augen einer Frau, die sich leergeweint hat. Bei unserer Verabschiedung im Hafen von New York reichte sie mir eine schlaffe Hand im schwarzen Lederhandschuh. Nie werde ich ihr trauriges Lächeln vergessen. Ich war frei, ich war jenem Zug entkommen, sie aber würde niemals frei sein, das würde ihre Trauer nicht zulassen.

Und dann, nach einiger Zeit, als wir schon dachten, dass wir langsam, aber sicher zu Amerikanern würden, als wir uns an die Hochhäuser, die verrückte Geschwindigkeit vor Ort und die pathetische, etwas großspurige Art der Menschen gewöhnt hatten, verkündete Vater, dass wir weiterreisen würden, nach Lateinamerika. Wir schifften uns in Los Angeles ein und fuhren zunächst nach Mexiko. Unter anderen Umständen hätte ich das Leben, das für uns begann, sicher aufregend gefunden, aber so empfand ich diese ganze Reiserei, das Kofferpacken, Abschiednehmen, die jeweils neuen Unterkünfte, die neuen Gesichter, das neue Klima, den veränderten Himmel und den unendlichen Horizont nur als bedrückend. Ich sprach es jedoch nie aus, verstellte mich wie die anderen und redete mir ein, dass ich mich eben darauf einlassen musste. Es galt, bloß nicht zu klagen, nicht auf der Stelle zu treten, sich nicht vor der Zukunft zu scheuen und sich nicht mit dem zu quälen, was man hinter sich ließ. So erklärte es uns Vater immer wieder. Eine tausendfach heraufbeschworene Begeisterung wird Wahrheit. Manchmal aber auch nicht. Manchmal gerät sie zur Heuchelei.

An einem Tag hielt unser Schiff in einer schönen Küstenstadt. Ich weiß nicht mehr, ob es Acapulco war oder Puerto Vallarta, ich habe auch keine Lust, auf einer Karte oder im Tagebuch nachzuschauen – so als wollte ich diese Erinnerung im Ungewissen belassen, den Nebel in ihr bewahren, der sich am Morgen über dem Meer erhob, als diese kleinen Jungen wie glänzende braune Aale von den hohen Felsen herabsprangen. Sie mussten warten, bis der Schwall des Wassers bis zum Rand der Klippe rauschte, und aus größtmöglicher Höhe abspringen. Ihre Körper glänzten schokoladig in der Sonne, das Spritzen der salzigen Tropfen, das Getöse der Wellen. Sobald das Wasser sich ins Meer zurückzog, zog es auch sie zu einem anderen Felsen, und von dort kletterten sie über die kantigen Vorsprünge wieder zu der gleichen Stelle hinauf. Wie Raubvögel warteten sie auf den geeigneten Augenblick, um sich kopfüber in die Wassermasse zu stürzen, aus der sie womöglich nicht wieder auftauchen würden. An diesem Tag aber tauchten sie immer wieder auf, und ich sah ihnen wohl den ganzen Nachmittag lang zu, bis die Sonne unterging und die dunklen Schatten der Wellen die bunten Streifen am Himmel verschluckten.

Zlín und der Krieg lagen unendlich weit weg, hinter diesem Vorhang aus Ozean, der sich nach jedem neuen Tag wieder absenkte, als sollte das Theater nie eine letzte Vorstellung erleben.

Meine lebhafteste Erinnerung habe ich jedoch von Panama. Von einer Nacht in Panama. Wir wohnten in einem Hotel mit erbärmlichen Betten, über denen grau gewordene, löchrige Moskitonetze hingen, die keinerlei Schutz boten vor den vielen Mücken und Kakerlaken. Genau genommen war es kein richtiges Hotel, mehr eine Art Landhaus auf Stelzen, das irgendwelchen Dänen gehörte. Zum Abendessen grillten sie für uns am Strand Fisch in Salzkruste. Die Fische hatten scharfe Schuppen, die Haut ließ sich nicht gut vom Fleisch entfernen, und ich hatte Sorge, ich könnte so eine Schuppe verschlucken und daran ersticken. Auf meinem Grabstein würde dann stehen: Erstickt in Panama. Jan lachte mich nur aus. Nachts herrschte eine schreckliche Hitze, tagsüber war es noch heißer. Vater war mit Herrn Šváb, dem Leiter der panamaischen Betriebe, unterwegs, um die Bat’a-Verkaufsstellen zu kontrollieren und sich mit den jeweiligen Geschäftsführern zu treffen. Ich verbrachte den ganzen Tag mit Lesen oder lernte Spanisch und Portugiesisch aus englischen Lehrbüchern. Wenn ich keine Lust mehr darauf hatte, wanderte ich am Strand entlang, oder besser gesagt humpelte, denn die feuchte Luft tat meinen Hüftgelenken nicht gut, die höllisch wehtaten – es war der Auftakt für weitere Tage, von denen kein einziger schmerzfrei sein würde. Der Strand mit seinem schwarzen Sand war auf triste Weise wunderschön. Über mir flogen Pelikane, die auf der Jagd nach den Fischen mit den scharfkantigen Schuppen waren. Sie schwebten eine Weile über die Wasseroberfläche hinweg, senkten dann ihren Schnabel nach unten und schossen pfeilschnell ins Wasser. Wenn sie wieder auftauchten, flogen sie schwerfällig davon, so voll war der Hautsack unter ihrem Schnabel mit Fischen und Wasser. Meist setzten sie sich auf die morschen, salzverklebten, mit Muscheln und Algen behangenen Holzpfähle, und das Wasser floss zu beiden Seiten des Schnabels wie aus einem Sieb heraus. Dann rissen sie den Schnabel jäh nach oben und die gefangenen Fische glitten ihren Schlund hinab. Ich fragte mich, ob die scharfen Schuppen sie nicht auch beim Schlucken störten, aber es machte nicht den Eindruck. In dem Moment kam mir die ganze Natur mit ihrem ewigen Kreislauf der Nahrungsketten widerwärtig kalt und berechnend vor. In den Tropen war alles ständig am Fressen oder am Gefressenwerden. Zum Abendessen bekamen wir große schwarze Bohnen mit Reis und zum Nachtisch in Palmöl gebackene grüne Bananen. Mir wurde schlecht davon, mehr als von den Fischen. Jan und die anderen vertilgten alles ohne Probleme, und das kam mir ungerecht vor. Ich fühlte mich schwach, kränklich, schlaff, meine Hüftgelenke schmerzten, und mir fehlte jener gesunde Geist und Körper, auf den Vater doch so angewiesen war. Gleich nach Sonnenuntergang, als die Stechmücken und Tausende aufdringlicher kleiner Fliegchen zu schwärmen begannen, legte ich mich ins Bett, unter das kaputte Moskitonetz und hörte im Dunkeln zu, wie sich das Tosen des gegen die Klippen schlagenden Meeres mit dem Wehklagen einer jungen Frau vermischte. Es war nicht der leise, traurige Kummer der Frau Waldesová, sondern ein herzzerreißendes Schreien, ein Schluchzen und verzweifeltes Wimmern. Es handelte sich um die Frau eines amerikanischen Flugoffiziers, die im Haus nebenan wohnte. Sie hatte am Abend erfahren, dass der Bomber ihres Mannes ins Meer gestürzt und alle Insassen umgekommen waren. Und auf einmal war der Krieg überall, man konnte ihm nirgends entkommen. Der trennende Vorhang des Meeres hatte sich gehoben, nur dass keiner klatschte. Der Krieg fletschte seine Zähne und flüsterte mir in dieser Nacht ins Ohr, dass mein Glück in dem Zug reiner Zufall gewesen war, nur ein kleiner, kläglicher Zufall.

JINDŘICH WALDES

(Freund Jan Antonín Bat’as, Gründer der Firma KOH-I-NOOR, König der Knopfindustrie, dessen Spuren sich in Havanna verlieren.)

Als die Nazis Jan Antonín zum zweiten Mal verhaften wollten, irgendwann im Juni des Jahres 1939, wurde er rechtzeitig von Dominik Čipera gewarnt, einem seiner Geschäftsführer, der Minister geworden war. Und nicht nur von ihm. Auch Hugo Vavrečka und alle seine engsten Mitarbeiter redeten ihm gut zu. Jan packte seine Koffer, um schnell zu seiner Fabrik im Elsass zu reisen, aber vorher rief er noch mich an. Und ich? Ich wollte das alles nicht glauben. Später in Dachau fragte mich Vojtěch Preissig immer wieder, was ich mir denn nur gedacht hätte. Er konnte es einfach nicht begreifen. Aber ich konnte mich gut begreifen. Erkenne dich selbst, so heißt es doch immer, nicht? Selbsterkenntnis war stets mein Vorzug, würde ich sagen. Und damals hatte mich schlicht die Wut gepackt. Es ist doch normal, dass man wütend wird, wenn sie einem alles wegnehmen wollen und jeder einen warnt, jeder sich Sorgen macht, was passieren wird … Ich war nur hundswütend. Weil keiner etwas unternahm. Alle waren starr vor Angst, sprachen sich falschen Trost zu oder packten ihre Koffer und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Ich schickte Ička mit den Kindern nach Amerika, wollte selbst aber bleiben, hier bei meinen Leuten, in meinem verratenen Vaterland. Ich weiß, im Nachhinein mag das lächerlich klingen, aber damals, als alle davonstoben wie die Ratten, Spinnen, Ameisen vor dem Hochwasser, damals erschien es mir richtig. Und, ja, vielleicht hoffte ich irgendwo in meinem tiefsten Innern, dass die Nazis einen Unterschied machen würden – wo mir doch früher eine ganze Welt gehört hatte, die jetzt ihnen gehörte –, dass sie einen Unterschied machen würden zwischen einem reichen und einem armen Juden. Čipera und VavreËka warfen Jan später vor, dass er mit mir telefoniert hatte, denn dadurch hätte alles auffliegen können. Aber Jan hatte eben ein gutes, großes Herz. Er wollte mir helfen, der ich so stur war, in der Heimat zu bleiben. Er wollte mich rausbringen, wie er auch rund dreihundert andere jüdische Familien rausgebracht hatte, die er in seine über die Welt verteilten Fabriken geschickt hatte, damit sie im Ausland Arbeit fanden und keine Visumprobleme hatten. Er hatte sie gerettet und wollte auch mich retten. Er glaubte, er selbst würde seinen Zlíner Leuten vom Ausland aus nützlicher sein, von dort könnte er eine größere Produktion sicherstellen und all jene unterstützen, die die Tschechoslowakei dann befreien würden. Und wer weiß, was er sich noch alles vorstellte … Aber ich wollte nicht fliehen. Wollte bei meiner Fabrik, meinen Arbeitern, meinen Bildern bleiben. Bei meinem Lebenswerk, wie der pathetische Jan Bat’a sagen würde. War es Naivität von mir? War es Mut? Weder noch. Ich war eben nur außer mir vor Wut. Ich erinnere mich, wie ich stundenlang durchs Zimmer marschierte und vor Zorn manchmal ein Glas in der Hand zerdrückte, worauf mir das Dienstmädchen die Hand desinfizieren und mit einem frischen Taschentuch verbinden musste. Die Scherben auf dem noch neuen Perserteppich … Manchmal rief ich das Mädchen gar nicht erst, sondern sah zu, wie kleine Blutstropfen durch meine geballte Faust sickerten. Es war offensichtlich, wie alles enden würde, und dennoch blieb ich. Aus blankem Trotz.

 

Das alles spielte nun keine Rolle mehr, hier, in dieser dunklen havannischen Bude am Hafen, wo es so furchtbar heiß war, wo mein ganzer Körper wehtat und kein Insulin zu bekommen war. Wo es mich schmerzte, dass ich am Ende doch hatte gehen müssen, wenn auch auf andere Weise, über den viel wahnsinnigeren Umweg des Konzentrationslagers. Ich dachte daran zurück, wie Jan mich kurz vor seiner Abreise noch von Zlín aus angerufen hatte. Wie seine feste Stimme mit diesem allerliebsten ostmährischen Akzent aus dem Hörer dröhnte, sodass ich ihn ein Stück vom Ohr weghalten musste. Er begann immer mit seinem leutseligen »Nu«, und dann redete er Tacheles. »Nu werd doch verdammt noch mal vernünftig, Jindřich, du weißt, dass uns alle der Strang erwartet, ob wir den Fritzen die Fabriken herausgeben oder nicht. Und du mit deinem Starrkopf!« – »Weil ich Jude bin?« – »Ganz genau, Jindřich, weil du ein Jude bist. Aber du bist auch ein mutiger Mensch, und ich versteh dich, und wie ich dich verstehe … Ich werde ihn dir nicht ausreden, deinen Patriotismus, ich empfinde ihn ja auch, Herrschaftszeiten, aber noch mehr fühle ich die Verantwortung für mein Lebenswerk, das weiterleben muss! Ich muss draußen retten und wiederaufbauen, was geht. Zu große Worte für dich? Sei’s drum. Nu, wir beide verstehen uns, ich habe dich nur warnen wollen. Čipera schlägt sicher keinen blinden Alarm.« Darauf meinte ich, ich dächte doch. Und dass es mir genau wie ihm um mein Lebenswerk gehe, um alles, was ich über die Jahre hinweg aufgebaut und entwickelt hätte. Die Deutschen würden sich doch den eigenen Ast absägen, wollten sie den Kopf der Fabriken ausschalten, die seien doch auf wirtschaftliche Erfolge aus, oder nicht? »Jindřich, das hier ist nichts Rationales, besonders nicht in deinem … hm, jüdischen Fall. Bitte, überleg’s dir noch einmal. Und natürlich kann Hedvička, deine hübsche Ička, mit den Kindern das gleiche Schiff nehmen wie wir. Ich achte auf sie, versprochen.« Ich vertraute ihm. Er hielt immer sein Wort, war ein redlicher Kerl.

Und nun war ich hier, in dieser schäbigen havannischen Absteige, wo mir eine Mulattin jeden Morgen etwas Wasser und Kokosmilch brachte, zum Trinken meinen Kopf stützte und meine Hand verband, wenn ich wieder vor Zorn eins ihrer schmierigen kleinen Gläschen zerdrückt hatte. Nur tropfte das Blut jetzt auf rissige alte Marmorfliesen. Zum Teufel mit meinem Glauben an die Heimat, mit meinem dummen Stolz! Mir ging es schrecklich schlecht, seit dieser deutsche Arzt, den ich nach Zahlung der Freikaufsumme von acht Millionen als Aufpasser auf die Schiffsreise mitnehmen musste, mir die Insulinspritze aufgezwungen hatte. Er war mit mir an Land gegangen und dann verschwunden, und ich blieb allein zurück. Seine kalten Hände, während er langsam den Metallkolben der Spritze aufzog. Die Nadel, die in meine Haut drang, verdammt, und dabei habe ich während der ganzen Überfahrt auf den Kerl achtgegeben, habe verflucht aufgepasst, dass ich im Speisesaal so fern wie möglich von ihm saß, dass ich kein einziges Stück Zucker aß und dass ich weder ihn noch irgendeinen anderen Arzt auf dem Schiff um Hilfe bitten musste. So viel Kraft hat mich das gekostet, völlig unnötigerweise! Ich hielt mich an Deck auf, beobachtete, wie sich tiefblaue, violette und rote Wolken zusammenballten und zu einem Gewitter anschwollen, und als es losging, zog ich mich nicht in die Kajüte zurück, sondern ließ mich von dem lauen Regenguss durchnässen, der die ganze Kälte von Dachau und Buchenwald aus mir herausspülte, sog die Wärme der schaukelnden Wellen und den salzigen Meeresduft und das Gelächter der hinter dem Schiff herziehenden Möwen in mich auf. Eine Freiheit, von der ich wusste, wie fragil sie ist, denn sie hatten mich zwar aus dem Lager entlassen, mussten sich jedoch darüber im Klaren sein, dass, sofern ich am Leben blieb, in allen Zeitungen der Welt bald Nachrichten aus Buchenwald stehen würden, weil die Welt endlich erfahren musste, was in den Lagern geschah. Und selbstverständlich hatte ich die Absicht, es überall lauthals zu verkünden. Davon sagte ich zwar nichts dem deutschen Arzt, in dem ich unzweifelhaft meinen Henker ausmachte, aber wir alle wussten, dass es das Erste wäre, was ich tun würde, sobald ich in New York an Land ging.

Aber dann legten wir in Havanna an – es sollte nur für eine Nacht sein – und ich sah die Stadt, die ich immer schon hatte sehen wollen. Bin gierig in sie eingetaucht, in die abendliche Brise mit den Wellenspritzern, die über die Mole nieselten. Mich überkam so eine dunkle Vorahnung, dass ich womöglich zum letzten Mal einen Hafen und eine abendliche Stadt besuchte, und ich wanderte unruhig an den Kneipen entlang, lauschte der sanft rhythmischen, einlullenden Musik, die aus ihnen drang wie der Duft von scharf gewürztem, gebratenem Fleisch in dicker Tomatensoße. Ich betrachtete die Volantröcke der Tänzerinnen, die gewachsten Schnurrbärte ihrer Galane und wünschte mir so sehr, ich hätte nicht die Zuckerkrankheit und die Albträume von den Lagern und wäre nicht fünfundsechzig Jahre alt. Am liebsten hätte ich eines dieser Mädchen dafür bezahlt, dass es einfach nur mit mir auf ein Zimmer ging, sich an mich schmiegte und mich beruhigte, dass es mir die spanischen Schlaflieder vorsang, die mir ein spanischer Republikaner im Konzentrationslager beigebracht hatte. Er sang sie jeden Abend in der Baracke und ich kann sie nicht vergessen. Arrorró mi niňo, arrorró mi sol. Das Mädchen würde mir über den Kopf streichen und meine Tränen abwischen, dann würden wir draußen vor der Tür des Mietshauses mit den Jugendstilornamenten eine Zigarre zusammen rauchen, und am nächsten Morgen würde ich nirgendwohin eilen, sondern einen starken Kaffee mit vier Stück Zucker und süßen Reisauflauf mit Zimt zu mir nehmen. Das alles ging mir durch den Kopf, und ich konnte mich noch immer nicht entscheiden, in welcher Bar ich den ersten Drink zu mir nehmen würde. Ich kam an Tavernen vorbei, in denen Matrosen grölend lachten und ihre Karten auf die vom Salz zerfressenen Eichentische klatschten, an Luxusrestaurants, in die einzukehren ich keine Lust hatte, obwohl ich es mir hätte leisten können, an Tanzlokalen mit roten Lampions am Eingang, aus denen laute und zugleich ruhige Salsamusik drang, unterlegt vom Takt der scharrenden Schuhsohlen auf hölzernem Boden. Neugierig blickte ich in eines dieser Lokale hinein und stellte fest, dass es offenbar noch zu früh war. Das Orchester spielte zwar schon, aber nur ein einziges seltsames Paar drückte sich im Saal aneinander. Ein alter Mann führte ein junges Mädchen, vielleicht seine Enkelin, die ein eng anliegendes, langes weißes Kleid trug. Sie bewegten sich wie zwei Gespenster, er war einen Kopf kleiner als sie, weil sie hohe rote Absatzschuhe trug. Doch der Alte führte sie mit sicherem Griff, gab die Schritte und den Ton ihres vollendeten Tanzes vor. Ich hätte hineingehen und ein Teil dieses Bildes werden können. Hätte mich an einen der Tische setzen und mir eine gekühlte Limonade mit Rum oder einen Tequila bestellen können, das alles hätte ich tun können. Doch von diesen vielen Möglichkeiten drehte sich mir der Kopf und meine Knie wurden weich. Ich konnte keinen Schritt weiter tun.

Ich erinnere mich, wie ich an einer feuchten, nach kaltem Schimmel riechenden Hausmauer entlang hinabrutschte. Ich leckte an dem Schimmel, kostete seinen Geschmack. Eine Frau kam aus dem Haus geeilt, kräftig gebaut, mollig, mit braungebrannten Armen. Mit diesen Armen gestikulierte sie wie eine Italienerin, und wie eine echte Mamma hob sie mich hoch, drückte mich an ihre Brust und schleifte mich hoch in ihr Zimmer im ersten Stock. Nur Arrorró mi niňo, arrorró mi sol sang sie nicht. Sie roch nach Zimt und brenzligem Fett, als hätte sie sich von Kopf bis Fuß mit diesem Duft eingerieben, der mich erregte und mir zugleich den Atem benahm. Ganze Sippschaften von ebenso lauten Menschen, die nach Palmöl und Knoblauch und gekochtem Reis rochen, kamen mich begutachten, fuchtelten mit ihren braunen, muskulösen oder üppigen Armen und wussten sich keinen Rat mit mir. Wie lange bin ich dort gewesen? Wie viel Zeit verging? Ich hielt mir einen meiner Druckknöpfe vors Auge wie ein Monokel und versuchte dadurch meine Aussichten zu erkennen. Dachte zurück an eine andere Schiffsreise vor fast dreißig Jahren, eine Überfahrt nach Nordamerika, als die wunderbare Schauspielerin Elisabeth Coyens sich aus reiner Langeweile und Übermut zunächst ein Herrenlorgnon, das sie von jemandem geliehen hatte, vors Auge hielt, dann ein Modell unseres Patentknopfs, und wie sie dabei gelacht hatte. Und Kupka, der damals mit uns fuhr, malte das Ganze, und daraus entstand dann die schönste Druckknopf-Reklame, die die Welt je gesehen hatte. Damals habe ich gerne überheblich verkündet: »Die Welt gehört dem, der sie sich nimmt.« Und nun sah es danach aus, dass die Welt sich alles zurückholte und mir kein bisschen gehörte. Und ebenso erinnerte ich mich daran, was mir mein lieber Malerfreund František Kupka einmal schrieb, als ich versuchte, ihn und auch Vojtěch Preissig aus Frankreich wieder nach Hause zu locken, denn ich fand, als tschechische Künstler sollten sie ihrer Heimatnation etwas geben und nicht nur im Ausland gefeiert werden. Kupka schrieb mir damals: »Mein Ich ist nicht auf meinen Körper beschränkt, es befindet sich schon weit weg im All.«

Zu dem Zeitpunkt verstand ich überhaupt nicht, was er meinte, aber jetzt, nach meinem Tod, war ich auf einmal fähig, nicht nur in der Heimat vorbeizuschauen, sondern auch bei Jan Antonín in Brasilien. Sie wissen schon, der Geist weht, wohin er will. Ich sah ihn am 20. September 1941 an der Schreibmaschine sitzen und Verse schmieden. Sah, wie sich auch in ihm eine müde Resignation breitmachte, wie er aber mir zuliebe seinen Stil des ewigen Aufbegehrens beibehalten wollte. Seine Verse rühren mich noch immer, auch wenn jeder Kritiker sie zu Recht zerreißen würde, denn Jan verstand anders als ich nicht viel von Kunst. Schade, dass er seine Zeilen nicht auf meiner Beerdigung vortragen konnte, denn in Havanna fand keine Beerdigung statt. Ich war einfach verschwunden. Wohin? Hat mich die Mulattin auf einem Leiterwagen zum öffentlichen Leichenhaus gekarrt, oder hat sie mich lieber mithilfe ihres Matrosenfreunds auf eine Nussschale verfrachtet und in der Bucht aufs Meer hinaus gestoßen? War es eine Mondnacht? Und was tat in diesem Moment Hedvika, meine schöne Ička, die Kunstverständige, die Frau, die ich alleingelassen und nach Amerika geschickt hatte, die Frau, die weder gegen meine Wut noch gegen meinen dummen Stolz etwas ausrichten konnte? Ob sie in New York an einem Fenster stand und nicht schlafen konnte? Ich vermag es bis heute selbst nicht richtig zu beschreiben. Die Krankheit, den Schüttelfrost, das Fieber. Es ist bedauerlich, dass Jan mir das Gedicht nicht selbst vortragen konnte, und ärgerlich, dass er es überhaupt schrieb, dass die Nazis ihm einen so erbärmlichen Stoff zum Dichten lieferten. Aber hören Sie doch lieber selbst.

Jindřich Waldes ist gestorben

Auf die Zahlung von Lösegeld hin

nach zwei Lagerjahren entlassen.

Wie für Nutzvieh zahlt man heute

für die Freiheit grundlos gefangner Menschen.

So auch für Waldes.

Nachdem er endlich freigekauft

von Frau und Kindern in Amerika

aus ungerechter Haft,

 

verstarb er auf dem Weg.

»Vor Ankunft« im Hafen

auf dem Ozean, wo die Freiheit winkte,

verstarb er »jäh«, bevor er reden konnte.

Von welchen Schrecken hätte er erzählt,

wäre er nicht unterwegs gestorben,

ehe der letzte seiner Wächter

ihn verließ?

Was hatte Jindřich Waldes verbrochen?

Was, außer tschechischer Jude zu sein?

Außer überall auf der Welt

tschechische Fabriken zu errichten?

Warum musste er »jäh« sterben?

Vor der Ankunft auf freier Erde?

Warum just in jenem Moment, da

er frei reden und schreiben konnte?

Mein lieber Jan, das wüsste ich selbst gerne – nur allzu gerne, das kann ich dir sagen. Aber ich kann mich nicht erinnern, ob mir der Deutsche auf dem Schiff Gift untergejubelt hat oder ob schon die Insulinspritze ausreichte, ob die üppige Mulattin, die schwarze Bohnen mit Reis für mich kochte, nur die Salatblätter schlecht gewaschen hatte und ich an einer Darminfektion starb, oder ob mir jemand in der Hafengegend, in der Nacht, als wir vom Schiff gehen mussten, in einer dunklen Gasse eine Kugel in den Hinterkopf jagte, bevor er mir die goldene Uhr abnahm. Es ist seltsam, dass ich das nicht weiß, ich glaube, ich habe es einfach verdrängt, damit ich mich nach meinem Tod nicht damit beschäftigen musste. Und letztlich ändert es ja auch nichts an der Sache. Was ich verbrochen hatte? Natürlich nichts. Genauso wenig wie du. Ich war nur der »Knopfkönig« oder auch »der Bat’a der Knöpfe«. Ich habe lediglich einen Patentknopf erfunden, in Böhmen und ganz Europa hochmoderne Fabriken gebaut, mich in den Vereinigten Staaten durchgesetzt, Tausenden von Menschen Arbeit verschafft, mich um ihre Bildung gekümmert, darum, dass sie Auslandserfahrungen sammeln und Sprachen lernen konnten, damit sie keine ahnungslosen böhmischen Hanseln blieben, die nicht wussten, wie man anständig ein Dessert löffelt. Und ich kaufte Kunst, ausschließlich tschechische Kunst! Mir war es wichtig, dass wir uns selbst wertschätzten. Dass wir anerkannten, was wir hatten und konnten. Genau wie du streife ich gelegentlich durch Prag, und ich schaue mir die verrückte Villa des Kohlenbarons Tykač an, die sich jetzt auf meinem Grundstück erhebt, ein Betonungetüm an der Stelle meiner Gemäldegalerie. Dass sich der Kerl nicht schämt? Am liebsten würde ich ihm eine Dauerkarte fürs Museum besorgen, wo er jede Woche hingehen und sich bis zur Schließungszeit Meisterwerke anschauen müsste, bis er schließlich kapierte, was schön ist und was nicht. Ich sitze im Havlíček-Park auf den Stufen, die neben meinem Garten entlangführen, und denke an unsere Villa Marie zurück, die der Gauner offenbar ohne Genehmigung abgerissen hat, um an der Stelle seinen eigenen Klotz zu errichten. Die Kultivierung des tschechischen Volkes durch Kunst ist mir wohl nicht besonders gut gelungen … Ich weiß, dass auch du heimlich deine Prager Wohnung aufsuchst, die man dir weggenommen hat. Dass du durch die Zimmer wanderst und dich darüber grämst, dass deine Enkelin, wenn sie nach Prag kommt, im Hotel wohnen muss. Du hast übrigens noch ein Gedicht geschrieben, das mir etwas besser gefällt, denn ich komme darin recht gut weg, was mir natürlich schmeichelt. Obwohl aller Ruhm vergänglich ist, wie ich feststellen musste. Als František Kupka einmal voller Bewunderung über meine Erfolge, über meine Zweigstellen in Dresden, Paris, Warschau und New York seufzte: »Du bist ein mächtiger Riese, ich neben dir nur ein kleiner Hänfling«, da meinte er das wohl ernst. Doch heute ist er der Riese, über den die ganze Welt spricht, die ich so gerne heraufbeschworen habe. Mich hat man vergessen.

Schließlich ließen sie ihn gehen

aus dem Lager – nach Zahlungen und zähen

Verhandlungen. Nun bringt ihn ein weißer Flieger

zum Wiedersehen.

Zwei Jahre hielten sie ihn fest. Warum?

Das kann keiner verstehen.

Ein Jude war er, von den Pragern geschätzt. So mag

es gehen.

Knöpfe und Spangen produzierte er dreißig Jahre lang

unermüdlich in Prag und der Welt.

Jude war er. – Das kam ihn teuer zu stehen.

In Europa besaß und Amerika

Fabriken dieser Mann,

obwohl es einst ganz schlicht

in einem Schuppen begann.

Er war ein edler Mensch,

zahlte die Tschechen gut,

förderte und bildete sie

anders als mancher Jud.

Die tschechischen Fertigkeiten

baute im Ausland er aus

und brachte damit Wohlstand

dem verarmten Volk nach Haus.

Und neben seiner Arbeit

war er zugleich Mäzen.

Die große Kunst der Tschechen

wusste er zu verstehen.

Die Galerie der Waldes

war überall bekannt

als regelrechte Schatzkammer

im Aus- und Innenland.

Nach dem Verrat von München

war kaum mehr Hoffnung in Sicht.

Doch obwohl ihn jedermann warnte –

fliehen wollte er nicht.

Nur Mitte März, da fuhr er

nach Regensburg und Paris,

doch kehrte er zurück

ins Land, das er nicht verließ.

Bewunderer auf ewig

von Waldes wollen wir sein,

und sein so sinnloses Schicksal

bereitet uns Trauer und Pein.

Als die weißen Flügel ihn trugen

zu den Seinen übers Meer,

blickte der Tod auf ihn nieder.

In Hades’ Armen landete er schwer.

In Hades’ Armen landete er schwer? Dieser Jan ist doch völlig meschugge! Er mag ja in irgendwelchen Armen gelandet sein, aber ich habe mich einfach nach der Zahlung von acht Millionen Protektoratskronen an die Nazis in Luft aufgelöst. Jan musste eben immer noch einen draufsetzen und dem Hades in die Arme sinken. Doch auch das letzte Gedichtchen, das er zwei Tage später schrieb, hat mich ergriffen. Dieser Schusterbursche! Ich muss mir nur schnell eine Träne wegwischen, dann werde ich es Ihnen vorstellen. Es heißt Für Frau Waldesová.

Das Herz dieses großen Mannes,

ich weiß, dass es weiterbesteht,

denn die ewige Hand des Universums

berührt den, der für es vergeht.

So viele Menschen auf Erden,

Gott, wenn man daran nur denkt,

muss man sich dafür schämen,

wer diese Welt heute lenkt.

Es sind die, die schmieren, belügen,

Brandstifter, Mörder im Frack,

Herrenprotze, die alle belügen.

Es herrscht nur noch das Pack.

Waldes war ein Jude.

Und ein Tscheche, jawohl.

Er geriet ins Wespennest derer

mit dem Hakensymbol.

Als seine Lieben ihm Freiheit erkauft,

ließ man ihn aus dem Lager hinaus.

Zum Tier degradiert, starb er

im Albatros. – Aus.

Ein Jude war er? Ein Mensch, ein Tscheche.

Hat Arbeit vergeben. Patriotisch gedacht.

Aus begabten Künstlern große gemacht.

Weine ich ihm nach, dem Juden?

Hört ruhig meine Klagelieder.

Einer wie Waldes

kommt nicht so schnell wieder.

War er mein Meister? Mein Vorbild im Leben?

Ja, ein Mensch von edlem Streben,

ein fleißiger Mann und ein Mann von Welt,

im Dienste der Menschheit ein sturer Held.

Gib du ihm neue Arbeit, Gott.

Den Mörder führe zum Schafott.

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