Gespräche jenseits der Zeit

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der erste Philosoph

Während Sie so dahin gehen, begegnen Sie einem Mann, dem Sie ansehen, dass er zu seiner Erdenzeit einen starken Willen und Disziplin hatte und dem Unabhängigkeit, Freiheit und Sparsamkeit ein zentrales Anliegen waren.10 Nach der Begrüssung fragen Sie ihn, was für ihn in seinem Erdenleben wichtig gewesen sei. Er antwortet: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“11 Beide Dinge dürften nicht im Überschwänglichen noch im Dunkeln oder ausserhalb des eigenen Blickfeldes gesucht oder vermutet werden. Er habe versucht den Sternenhimmel und seine „Welten über Welten“ und „Systeme von Systemen“ mit seinem unsichtbaren Selbst, seiner Persönlichkeit, zu verknüpfen, in einer Welt, die zwar unendlich sei, aber nur durch den Verstand wahrgenommen werden könne. Diese Verknüpfung sollte aber nicht bloss als zufällig verstanden werden, wie die Sterne am Sternenhimmel, sondern sie sollte als allgemeine und notwenige Verknüpfung erkannt werden.

Sie staunen ab solch erhabener Wortwahl und vermuten, auf einen Philosophen gestossen zu sein. Ein Philosoph der versucht, seine innere Welt mit der Erhabenheit des Universums zu verknüpfen und sich über das moralische Gesetz und die Naturbeobachtung definiert. Vielleicht kann er Ihnen Auskunft geben über den viel gehörten Begriff der Aufklärung. Sie fragen ihn, was er unter Aufklärung verstehe. Der Mann schaut Sie verlegen an, überlegt und sagt zögernd, Aufklärung sei das, was in dieser neuen Welt stattfände: das Erkennen, was wirklich ist. Früher – zu seiner Erdenzeit – hätte er so geantwortet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“12 Er fügt bei, dass er rückblickend damals nur Teile der wahren Aufklärung begriffen habe.

Sie laden den Fremden ein, noch mehr von seinen Ideen und Vorstellungen zu erzählen. Und er ist so freundlich und versucht Ihnen seine Gedankengänge zu erklären. Er stellt aber zu Beginn klar, dass seine Schriften noch nie sofort verstanden worden seien. Die Klarheit der neuen Welt habe ihm zwar bereits geholfen seine Gedanken einfacher zu formulieren, doch er sei erst verhältnismässig kurze Zeit hier und deshalb könnte es sein, dass er sich immer noch kompliziert und umständlich ausdrücken werde. Er nehme sich aber gerne Zeit für Sie und Ihre Rückfragen – da Zeit ja in dieser neuen Welt keine Rolle spiele.

Vier Fragen hätten ihn zeitlebens umgetrieben: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Zuerst habe ihn interessiert, was eigentlich Wirklichkeit sei und wie die Realität erkannt werden könne. Es sei ihm um die sogenannte Metaphysik gegangen. Durch sein langes Nachdenken und Forschen sei er zum Schluss gekommen, dass wir Menschen die wahre Wirklichkeit der Welt nie wirklich erkennen könnten, weil unsere Erkenntnis immer von unserer Wahrnehmung und unserem Verstand abhängig sei. Alle menschliche Erkenntnis beginne immer mit Betrachtung und Anschauung, darauf würden Begriffe formuliert und schliesslich würden Ideen daraus gemacht. Das heisst, wir müssen erkennen, dass wir Menschen die Welt nicht rein objektiv betrachten können. Es sei eine „Revolution der Denkart“13 notwendig: Dass wir die Erkenntnis nicht mehr nach den Gegenständen richten, sondern umgekehrt die Gegenstände sich nach der Erkenntnis richten sollten. Diese neu erkannte menschliche Subjektivität müsse aber nicht zwingend negativ bewertet werden. Sie könne auch positiv verstanden werden: als schöpferischen Grund des kritischen Denkens. Diese „Revolution der Denkart“ erfordere aber eine „neue Geburt“ der Metaphysik, welche auf der Kritik der reinen Vernunft aufbaue. Wie dies zu geschehen habe, habe er Zeit seines Lebens nicht umfassend herausgefunden. Deswegen habe er später das Zentrum seines Schaffens von der theoretisch-spekulativen Philosophie (der reinen Vernunft) zur angewandten Philosophie (der praktischen Vernunft) verschoben. Er sei davon überzeugt gewesen, gerade im Gebiet des Praktischen das Unbedingte finden zu können, das er im Felde des Theoretischen vergebens gesucht habe.14 Die reine Vernunft allein könne spekulativ keine Gewissheiten begründen, deswegen könne ihr Wert nur im praktischen Gebrauch liegen. Womit wir bei der zweiten Frage angelangt seien: Was soll ich tun? Er habe die Antwort auf seine Frage im sogenannten kategorischen Imperativ zusammengefasst. Dieser hindere den Menschen daran, nach Willkür und Laune zu handeln. Er laute: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“15 Maximen seien subjektive Grundsätze, erklärt er. Man könne es auch anders formulieren: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest.“16 Damit der Mensch gemäss dem kategorischen Imperativ handeln könne, benötige er Freiheit.

Womit wir bei der dritten Frage seien: Was darf ich hoffen? Diese Frage habe auch etwas mit Glauben zu tun. Sie wenden ein, dass ein Philosoph sich nicht mit Glauben beschäftigen solle – dafür gäbe es ja die Theologen. Ein Philosoph müsse sich ausschliesslich dem Denken und dem rationalen Argumentieren widmen, behaupten Sie. Er entgegnet, er habe den Eindruck, dass Ihre Vorstellung von Philosophie von der mathematischen Methode herkomme. Das sei äusserst gefährlich, denn die mathematische Methode neige zu Dogmatismus. Wahre Philosophie sei weder Dogmatismus noch pure Mathematik. Man könne Philosophie nicht so betreiben, wie man Mathematik betreibe, sonst werde Philosophie anmassend und zur reinen Spekulation. Die reine Vernunft benötige eine praktische Erweiterung, meint er. Erst der Glaube ermögliche es dem Menschen, zu erkennen, dass er obwohl der Endlichkeit verhaftet, gleichzeitig einer übersinnlichen Ordnung angehöre, welche ihm seine eigentümliche Würde gebe. Der Mensch sei somit Bürger zweier Welten.17 Diese übersinnliche Ordnung habe als Grundlage die drei sogenannten Postulate: Freiheit des Willens – damit sich der Mensch für das Gute entscheiden könne; die Unsterblichkeit der Seele – damit das Handeln des Menschen einen Sinn erhalte – und das Dasein Gottes – welches sich aus der Moral erschliesse. Der Sinn der Vernunft sei schlussendlich die Stützung des moralischen Glaubens. Der Moral wegen seien die drei Postulate wichtig: Sie weisen dem Menschen in seiner Suche nach dem, was zu tun sei, den Weg.

Und schliesslich zur vierten Frage: Was ist der Mensch? Die menschliche Natur habe einen Hang zum Bösen: „Er ist sich des moralischen Gesetzes bewusst, und hat doch die (gelegentliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen.“18 Der Mensch sei aber vernünftig bestimmt und könne deshalb durch eine gute Erziehung aufgeklärt werden. Diese sei äusserst wichtig und solle die Kinder zum selber Denken führen. Der Mensch sei fähig, gemäss dem auf der Vernunft basierenden moralischen Gesetz handeln zu wollen. Es ginge darum, nicht einfach moralisch zu handeln, weil einem eine Strafe angedroht werde, sondern weil man mittels Vernunft eingesehen habe, dass die Einhaltung des moralischen Gesetzes erstrebenswert sei.

Die Geschichte der Menschheit zeige: Durch die Weitergabe des Erreichten von Generation zu Generation habe eine Vervollkommnung stattgefunden. Dadurch vollziehe die Natur ihren verborgenen Plan, alle ihre Anlagen in der Menschheit zu entwickeln. Der Mensch erstrebe die Gesellschaft und lehne sich doch gegen sie auf. Die Errichtung der vollkommenen gerechten bürgerlichen Gesellschaft sei die „höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung, weil die Natur [nur so] ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann“.19

Er erzählt Ihnen von seiner Idee eines ewigen Friedens zwischen den Menschen. Er habe darüber eigens eine Schrift verfasst.20 Für den Titel seiner Schrift habe er sich von einem holländischen Gastwirt inspirieren lassen. Der Wirt habe in seinem Gasthof ein Bild mit einem Friedhof und dem Spruch „zum ewigen Frieden“ aufgehängt gehabt. Er habe sich immer gefragt, ob die Aussage des Bildes, dass es ewigen Frieden nur auf einem Friedhof gebe, für alle Menschen gelte oder nur für die oft kriegsführenden Staatsoberhäupter oder nur für die vom Frieden träumenden Philosophen. Er habe die Schrift über den ewigen Frieden im Alter von 71 Jahren geschrieben. Er sei damals bereits vom Lehrverbot der preussischen Zensurbehörde betroffen gewesen und habe nicht mehr an der Universität Königsberg unterrichten dürfen. Der Grund für das Verbot sei sein Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“21 gewesen. Er habe mit der Schrift über den ewigen Frieden etwas Neues wagen wollen: Er habe den Text in Form eines Friedensvertrages verfasst, damit seine Gedanken auch von einem breiteren Publikum verstanden würden – zumindest erhoffte er sich dies. Übrigens, meint er, hätten 18 Monate später22 Preussen und die Französische Republik einen Friedensvertrag abgeschlossen, der da hiess: Frieden von Basel.

Sie wollen nun wissen, ob und wie ein ewiger Frieden zwischen den Menschen möglich sei. Er beginnt zu erklären, dass Frieden kein natürlicher Zustand sei. Im Gegenteil, die Menschheit sei grundsätzlich immer von Krieg bedroht. Wenn gerade kein Krieg herrsche, bedeute dies noch lange nicht, dass Frieden sei.

 

Um Frieden zu schaffen und zu erhalten, sei das gegenseitige Vertrauen zwischen den Staaten notwendig. So sei es sinnlos, über einen Friedensvertrag zu verhandeln, wenn die eine Seite bereits an den nächsten Krieg denke. Die Kriegsgefahr werde erhöht, wenn es zu grosse Berufsarmeen gäbe, die Staaten sich gegenseitig verschuldeten oder sich bestimmte Staaten in die Verfassung und Regierung anderer Staaten gewalttätig einmischten.

Zur Erhaltung des Friedens müsse ein Staat republikanisch organisiert sein. Das bedeute: Die Freiheiten der einzelnen Menschen müssen garantiert sein und die Bewohner müssen einer gemeinsamen Gesetzgebung verpflichtet werden. Jeder Bewohner eines Staates müsse seine persönliche (gesetzlose) totale Freiheit aufgeben und die vernünftige Freiheit vorziehen, sprich sich dem geltenden Recht verpflichten. Dies erhöhe die Sicherheit eines Staates. Zudem müssen alle Bewohner vor dem Gesetz gleich sein. Weiter müsse in einem solchen Staat die gesetzgebende Gewalt von der ausführenden Gewalt getrennt sein.

Jeder Staat sollte vom anderen fordern, eine eigene republikanische Verfassung einzuführen. Zwischen den einzelnen Staaten bräuchte es ein von den Staaten anerkanntes Recht: das internationale Recht oder Völkerrecht. Das Völkerrecht sollte auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein. Das Weltbürgerrecht beinhalte das Besuchsrecht (allgemeine Hospitalität), hingegen kein eigentliches Gastrecht. Der freie Handel zwischen den Staaten fördere den (ewigen) Frieden.

Die republikanische Verfassung sei die einzige Staatsform, die den Menschenrechten entspreche. Aber es sei auch die am schwierigsten einzuführende und die am schwierigsten zu erhaltende Form, fügt er an. Rein rational betrachtet, sei es am einfachsten, wenn alle Völker in einem Staat vereint seien. Aber die Natur habe es anders gewollt. Sie möchte scheinbar, dass die Völker getrennt seien: Denn es gäbe verschiedene Sprachen und verschiedene Religionen. Doch gleichzeitig vereinige die Natur auch die Völker durch ihren gegenseitigen Egoismus, der Ausdruck finde im Handelsgeist und in der Macht des Geldes. Der Handel aber könne nicht stattfinden, wenn Krieg zwischen den Nationen herrsche. Und so schaffe die Natur selbst die Grundlagen für den ewigen Frieden.

Sie sind beeindruckt von den vielen Überlegungen Ihres Gegenübers. Sie fragen Ihn, ob er zu seinen damaligen Ansichten heute in der neuen Welt noch stehen könne. Er sei damals viel zu kompliziert und viel zu abgehoben gewesen, bedauert er. Aber er sei sehr froh und dankbar, dass ihm bereits zu Lebzeiten die Erkenntnis geschenkt worden sei, dass mit dem Verstand nicht alles bewiesen werden könne. Gerade die Existenz oder Nichtexistenz von Dingen, die ausserhalb unserer Wahrnehmung liegen, könne nicht bewiesen werden. So sei er im Gegensatz zu anderen Philosophen davor bewahrt worden, die Existenz Gottes grundsätzlich zu verneinen. Denn in der neuen Welt sei es offensichtlich, dass Gott existiere.

Er habe die Idee gehabt, die sinnliche Wahrnehmung mit dem Verstandesdenken zu verbinden. Das bedeute, die Welt durch Beobachtung (empirische Methode) und rein denkerisch (spekulativ) zu begreifen. Seine Forschungen hätten ihm gezeigt, dass wir die wahre Wirklichkeit der Welt nie feststellen könnten, weil unsere Erkenntnis immer von unserer Wahrnehmung und unserem Verstand abhängig sei. Sie wollen von ihm wissen, an was man sich noch orientieren könne, wenn unsere Wahrnehmung scheinbar zutiefst subjektiv sei. Er antwortet, man solle sich am sogenannten Vernunftglauben im Denken orientieren.23 Man müsse das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.24 Denn Vernunftglaube sei nicht Erkenntnis im eigentlichen Sinne, sondern „gefühltes Bedürfnis der Vernunft“. Dieses Bedürfnis basiere auf Gefühl und Erfahrung. Wie er das meine, wollen Sie wissen. Er versucht, Ihnen seine Gedankengänge zu erklären: Um sich in irgendeiner Weltgegend orientieren zu können, müsse man eine Verbindung zwischen sich selber und einem anderen Objekt herstellen. Wenn man zum Beispiel den Sonnenstand ausmache und wisse wieviel Uhr es sei, könne man die Himmelsrichtungen bestimmen. Um dies machen zu können, bedürfe man aber des Gefühls eines Unterschiedes am eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand. Nur so könne festgestellt werden, in welche Richtung sich Osten und Westen fänden. Er nenne dies ein Gefühl, weil die beiden Himmelsrichtungen äusserlich keinen merklichen Unterschied aufzeigen würden, sondern einzig durch das eigene Wissen bestimmt werden könnten. Er fährt weiter und erzählt, dass auch die eigene Erfahrung zur Orientierung beitrage: Denn, wenn ein Mensch sich im Finstern in einem ihm bekannten Zimmer orientieren wolle, müsse er sich am Standort der ihm von früher bekannten Gegenständen orientieren. Es würde nichts bringen, wenn alle Gegenstände zwar vorhanden seien, aber an einem anderen Ort stehen würden. Die Gegenstände müssten exakt am aus seiner Erfahrung bekannten Ort stehen, um ihm Orientierung geben zu können. Sie verstehen noch nicht ganz. Also versucht er, seine Ideen mittels der Frage nach der Existenz Gottes zu erklären. Dazu nennt er zwei Gebräuche: Er spricht von einem „theoretischen“ und einem „praktischen“ Gebrauch. Zu ersterem meint er: „Wir müssen die Existenz Gottes annehmen, wenn wir über die ersten Ursachen alles Zufällige, vornehmlich in der Ordnung der wirklich in der Welt gelegten Zwecke, urteilen wollen.“ Zum Zweiten sagt er, dass der praktische Gebrauch der Vernunft in der Vorschrift der moralischen Gesetze bestehe. Beide führten auf die Idee des höchsten Gutes hin: der Sittlichkeit. Auf den Vernunftglauben zurückkommend, erklärt er, der theoretische (spekulative) Vernunftglauben könne durch alle natürliche Data der Vernunft und Erfahrung niemals in Wissen verwandelt werden. Der praktische Vernunftglaube hingegen sei ein Postulat der Vernunft: „Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Kompass, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren, der Mensch von gemeiner doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg, sowohl in theoretischer als praktischer Absicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung, zum Grunde gelegt werden muss.“

Klingt gut, sagen Sie, aber irgendwie würden Sie seine Gedankengänge immer noch nicht vollständig verstehen. Er versucht es nochmal: Auf die Frage nach der Existenz Gottes bezogen bedeute dies, dass vom Dasein des höchsten Wesens niemand durch irgendeine Anschauung zuerst überzeugt werden könne, sondern der soeben beschriebene Vernunftglaube vorher gehen müsse. Denn der Glaube sei ein subjektiv zureichendes, objektiv aber mit Bewusstsein unzureichendes Führwahrhalten und somit dem Wissen entgegengesetzt. Es ginge darum, erklärt er, zuerst zu prüfen, ob etwas widerspruchsfrei sei und dann eine Verbindung im Denken zu bekannten Gegenständen (d.h. zur Erfahrung) herzustellen. Nun aber trete „das Recht des Bedürfnisses der Vernunft ein, als eines subjektiven Grundes, etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objektive Gründe zu wissen sich nicht anmassen darf; und folglich sich im Denken, im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren.“

Er schaut Sie an und merkt, dass Sie seine Gedankengänge immer noch nicht nachvollziehen können. Also startet er einen weiteren Versuch: Sein ehemaliger Kollege Moses Mendelssohn habe vom „schlichten Menschenverstand“ gesprochen, den man zur Verteidigung gegen die eigenen „sophistischen Angriffe“ auf die Vernunft einsetzen solle. Nun beginnen Sie zu begreifen, was Vernunftglaube vermutlich ist: gesunder Menschenverstand und Bodenhaftung. Ihr Gesprächspartner stimmt Ihnen widerwillig zu und fährt fort: Wenn der Vernunftglaube nicht vorher ginge, sei aller Schwärmerei, Aberglauben, ja selbst „Atheisterei“ weit die Türe geöffnet.

Sie stellen fest, dass sich dieser Aufklärer einerseits von der Schwärmerei und dem Aberglauben emanzipieren will, andererseits aber auch vom Atheismus. Sie fragen nach, ob er sich schon zu seiner Erdenzeit so deutlich vom Atheismus distanziert habe oder erst seit seinem Aufenthalt in der neuen Welt. Denn zu Ihrer Erdenzeit hätten sich sehr viele Aufklärer als überzeugte Atheisten (oder Agnostiker) bezeichnet. Es gehörte geradezu zum guten Ton, sich kritisch zum Glauben und zu Gott zu äussern. Sie wollen deshalb von ihm wissen, was der historische Hintergrund seiner Gedanken sei.

Er sei erstaunt, zu hören, dass zu Ihrer Erdenzeit Aufklärung sehr oft mit „Atheisterei“ gleichgesetzt worden sei. Zu seiner Zeit sei das ganz anders gewesen, erklärt er. Sie, die Gelehrten der Aufklärung, seien damals geschockt gewesen, als nach dem Tode des berühmten Philosophen und Dichters Gotthold Ephraim Lessing25 bekannt wurde, dass dieser Anhänger des Spinozismus gewesen sei. Damals habe Spinozismus als Synonym für Pantheismus und Atheismus gegolten – zwei sehr negative Begriffe. Lessing sei ein vorbildlicher Aufklärer gewesen, der sich für religiöse Toleranz eingesetzt und den religiösen Dogmatismus kritisiert habe.26 Aber nun habe man feststellen müssen, dass Lessing scheinbar mehr Dichter und Bibliothekar als Philosoph gewesen sei. Denn ein kritischer Philosoph könne kein Spinozist sein. Das sei ausgeschlossen. Sie wollen wissen, was ein Spinozist denn sei.

Der Ausdruck Spinozist habe seinen Ursprung beim niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza. Dieser habe mit seiner „Philosophie der Immanenz“27 die Frechheit gehabt, mit allen religiösen Traditionen als Quellen philosophischer Erkenntnis vollständig zu brechen, ohne vorher ein ordentliches Studium an einer aufgeklärten Universität absolviert zu haben. Und vor allem seine konsequente Abkehr von aller Transzendenz habe Ihr Gesprächspartner mit seiner eigens entwickelten Transzendentalphilosophie nicht hinnehmen können. Ob Sie eigentlich noch nie etwas von diesem Baruch de Spinoza gehört hätten, will er wissen. Das sei ein Häretiker und Atheist gewesen, der ein monströses und inkohärentes Denksystem entwickelt habe, das irrationale Züge trage. Grosse Aufklärer seiner Zeit, wie Gottfried Wilhelm Leibniz28, hätten sich, obwohl zuerst interessiert, später klar von Spinoza und seinem Denken distanziert.29 Sichtlich aufgebracht stellt Ihr Gesprächspartner fest: Eigentlich habe er sich nie mit Spinoza auseinandersetzen wollen, wenn da nur nicht dieser polemische Jacobi gewesen wäre. Aber der Reihe nach:

Es sei der deutsche Kaufmann, Schriftsteller und spätere Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi30 gewesen, der in einem seiner veröffentlichten Briefe „Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn“31 schrieb, dass Lessing gegen Ende seines Lebens gesagt haben solle, dass er „entschiedener Spinozist“ gewesen sei. Jacobi und der berühmte Berliner Aufklärer Moses Mendelssohn32 standen schon länger in persönlichem Briefkontakt – wie so viele damalige Gelehrte und Aufklärer. Als Jacobi erfahren habe, dass Mendelssohn ein Werk über Lessing schreiben wolle, habe er sich dazu gedrängt gefühlt, über dessen Nähe zum Spinozismus zu informieren. Mendelssohn sei erstaunt gewesen und habe deshalb mehr Informationen verlangt. Darauf habe Jacobi eine ausführliche Darstellung darüber verfasst und diese Mendelssohn geschickt. Plötzlich sei aber der Kontakt zwischen beiden abgebrochen und Jacobi habe befürchtet, dass Mendelssohn die privaten Briefe in einem Buch veröffentlichen könnte. Deshalb habe er gleich selber einen Teil der Briefe mit dem brisanten Inhalt veröffentlicht. Mendelssohn publizierte kurze Zeit später einen Teil seiner privaten Vorlesungen zur Metaphysik „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes“33 in welcher er den Pantheismus thematisierte34 und die „Axiomata“ seiner rationalistischen Demonstrationsmethode darlegte: Es gebe drei Methoden der Beweisart: Die äussere sinnliche Welt als Beweis der Existenz Gottes; Zeugnisse des inneren Sinnes („Ich bin, also ist Gott“); und „ein Gott ist denkbar, also ist ein Gott auch wirklich vorhanden“. Durch die veröffentlichten Briefe erfuhr die damalige Gelehrtenwelt, welches Verhältnis Mendelssohn, Lessing und Jacobi zum Spinozismus hatten:

Lessing: „(…) Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht geniessen. Ἓν καὶ Πᾶν! [Ein und alles!] Ich weiss nichts anders. (..)“

Jacobi: „Da wären Sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden.“

Lessing: „Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weiss ich keinen anderen.“

Jacobi: „Spinoza ist mir gut genug: aber doch ein schlechtes Heil das wir in seinem Namen finden!“

 

Lessing: „Ja! Wenn Sie wollen! … Und doch … wissen Sie etwas besseres?“35

Jacobi erklärte darauf, dass der Spinozismus die vollkommenste Gestalt einer jeden dogmatischen Metaphysik sei und das einzige folgerichtige System aller Begriffsphilosophie. Aus der Gefahr eines blinden Naturmechanismus und eines fatalistischen Atheismus könne aber nur ein „salto mortale“ in den Glauben retten, d.h. das unmittelbare Gefühl der Gewissheit, welches keiner Beweisgründe bedürfe. Dazu nannte er Argumente aus der Transzendentalphilosophie Ihres Gesprächspartners. Mendelssohn habe darauf mit der Veröffentlichung seiner Schrift „An die Freunde Lessings“36 reagiert und den schwärmerischen Offenbarungsglauben Jacobis kritisiert. Er verteidigte seinen verstorbenen Freund Lessing und erklärte, dass dieser sich nur einem „geläuterten Spinozismus“ verbunden gefühlt habe, welcher deutlich zwischen Schöpfer und Schöpfung unterscheidet. Spinoza selber sei zwar kein Fatalist, aber ein Pantheist gewesen, der keinen ausserweltlichen und personifizierten Gott kannte. Mendelssohn habe Kritik am klassischen Spinozismus geübt und die Philosophie der Aufklärung klar und deutlich vom Spinozismus unterschieden:

„Alles ist Eins, sagt der Pantheist. Wir sagen Gott und die Welt; er: Gott ist auch die Welt. Das Unendliche, sprechen wir, hat alles Endliche, Eins dieser Viele zur Würklichkeit gebracht; jener hingegen: das Unendliche umfasset alles, ist selbst alles, ist Eins und zugleich Alles. (…) Wir trennen also Gott von der Natur, schreiben jenem ein ausserweltliches, so wie der Welt ein aussergöttliches Wesen zu.“37

Im Gegenzug warf Mendelssohn Jacobi Atheismus vor, weil dieser sich weigere Verstandesbeweise zur Existenz Gottes vorzulegen. Diese heftige Debatte zwischen Jacobi und Mendelssohn – bei welcher beide Seiten aus unterschiedlichen Gründen den Spinozismus kritisierten – sei in aller Öffentlichkeit geführt worden. Sie nahm durch den plötzlichen Tod Mendelssohns an Dramatik noch zu.38 Er habe den Tod Mendelssohns sehr bedauert. Denn Mendelssohn sei ein sehr guter Freund gewesen, den er gerne in seinen Vorlesungen an der Königsberger Universität zitiert habe. Er habe auch Mendelssohn seinen jüdischen Respondenten Marcus Herz herzlich empfohlen.39 Mendelssohn zur Ehre habe er seine Aversion gegenüber religiösen Gebräuchen und öffentlichen Spektakel für einmal überwunden: Er habe den Zeremonien anlässlich seines Begräbnisses beigewohnt. Mendelssohn sei ein wichtiger Vertreter der Aufklärung gewesen, welcher sich gegen ein allzu elitäres und esoterisches Verständnis von Aufklärung eingesetzt habe und immer wieder die wichtige Rolle des gesunden Menschenverstandes und einer verständlichen Sprache betont habe.40 Auch habe Ihr Gesprächspartner später festgestellt, dass Mendelssohns Ideen zum Verhältnis zwischen Aufklärung und Kultur sehr weise gewesen seien. So schrieb Mendelssohn im Aufsatz „Über die Frage: was heisst aufklären?“41: „Missbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie. Missbrauch der Kultur erzeuget Üppigkeit, Gleissnerei, Weichlichkeit, Aberglauben und Sklaverei. Wo Aufklärung und Kultur mit gleichen Schritten fortgehen; da sind sie sich einander die besten Verwahrungsmittel wider die Korruption. Ihre Art zu verderben ist sich einander schnurstracks entgegengesetzt.“

Moses Mendelssohn habe mit seiner philosophischen Abhandlung „Über die Evidenz der metaphysischen Wissenschaft“42 den ersten Preis der „Königlichen Academie“43 gewonnen. Der Aufsatz Ihres Gesprächspartners erhielt lediglich den zweiten Preis. Gewisse Gelehrte bezeichneten Mendelssohn auch als „einen zweiten Spinoza“ allerdings ohne dessen Irrtümer.44 Da in der Pantheismus-Debatte durch den plötzlichen Tod Mendelssohns der klassische Vertreter der Aufklärung weggefallen sei und Jacobi noch stärker begonnen habe, die Transzendentalphilosophie Ihres Gesprächspartners zu kritisieren, konnte dieser nicht mehr länger vornehm schweigen. Er sei deswegen gezwungen gewesen, einzugreifen, auch wenn dieser Disput absolut nicht seiner Vorstellung des Ideals der „dialogischen Struktur der Aufklärung“ entsprochen habe. In seinem Artikel „Was heisst: sich im Denken orientieren?“ habe er Klartext schreiben müssen:

„Es ist kaum zu begreifen, wie gedachte Gelehrte in der Kritik der reinen Vernunft Vorschub zum Spinozismus finden konnten. (…) Männer von Geistesfähigkeit und von erweiterten Gesinnungen! Ich verehre eure Talente und liebe euer Menschengefühl. Aber habt ihr auch wohl überlegt, was ihr tut, und wo es mit euren Angriffen auf die Vernunft hinaus will?“45

Er habe in seinem Artikel die Vernunft verteidigen wollen und deshalb klargestellt, dass in seinem Werk „Kritik der reinen Vernunft“46 kein Spinozismus vorhanden sei. Denn, wie bereits gesagt, sei Spinozismus zu seiner Zeit ein philosophischer Kampfbegriff gewesen, um Philosophen mit dem Pantheismus-Etikett und damit des Atheismus zu beschuldigen. Im Pantheismusstreit seien seine Ideen der „Grenzbestimmung des reinen Vernunftvermögens“ von Jacobi missbraucht worden. Deshalb wollte er klar stellen, dass seine „Kritik der reinen Vernunft“ im Gegensatz zu den Schriften des Philosophen Baruch de Spinoza keineswegs dogmatisch und atheistisch, sondern vernünftig sei. Man müsse schon klar zwischen Wissen und Glauben unterscheiden und nicht eine neue Art Metaphysik einführen, in welcher man „sogar mit dem Mathematiker in Ansehung der Strenge des Beweises wetteifert“47. In seinem Werk „Die Kritik der reinen Vernunft“ habe er klar bewiesen, dass die Tafel der reinen Verstandesbegriffe alle Materialien des reinen Denkens enthalten müsse; der Spinozismus spräche von Gedanken, die doch selbst denken. Der Spinozismus gäbe vor, die Unmöglichkeit eines Wesens einzusehen, dessen Idee aus lauter reinen Verstandesbegriffen bestehe. Dies führe geradezu zu Schwärmerei. Es gäbe aber kein einziges sicheres Mittel, alle Schwärmerei mit der Wurzel auszurotten, als jene Grenzbestimmung des reinen Vernunftvermögens, habe er deutlich formuliert.

Er habe aber später einsehen müssen, dass er sich damals zu wenig mit dem vielfältigen Werk des Philosophen Baruch de Spinoza auseinander gesetzt habe.48 Vielleicht sei mehr Positives in dessen Werk zu finden, als er gedacht habe. Bei den jungen Philosophen zu seiner Erdenzeit sei eine Art Spinoza-Begeisterung ausgebrochen.49 Auch Jacobi sei zeitweise sehr an Spinoza interessiert gewesen.50

Um wieder auf den Pantheismusstreit zurückzukommen meint er, es sei allgemein bekannt gewesen, dass Lessing als leitender Bibliothekar und Herausgeber einer Zeitschrift mehrere religionskritische Fragmente des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus51 veröffentlicht habe. Dies habe zum Streit mit der lutherischen Orthodoxie in der Gestalt des Hauptpastors Johann Melchior Goeze52 geführt: Der sogenannte Fragmentenstreit. Eine weitere Kontroverse die im Umfeld Lessings entstanden sei. Diesmal ging es um das Verhältnis zwischen den Ideen der Aufklärung und der orthodoxen lutherischen Theologie. Mit anderen Worten: Lessing wollte mit seiner Äusserung einmal mehr einfach ein wenig provozieren. Dies sei ihm definitiv gelungen. So seien halt diese Schriftsteller.