Regionalentwicklung

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1.3.3Konstruktivistische Ansätze

Während das essenzialistische Verständnis davon ausgeht, eine Region habe ein nicht unmittelbar erfassbares ‚Wesen‘ und das positivistische Verständnis postuliert, es gäbe einen ‚realen‘ Raum, der sich auf Grundlage empirischer Messung von unterschiedlichen Merkmalen regionalisieren lässt, so haben konstruktivistische Ansätze einen gänzlich anderen Ausgangspunkt: Aus dieser Perspektive sind Regionen das Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Demnach ist eine Region nicht, sie wird vielmehr gemacht. Die Beschreibung ‚Region‘ wird damit zu dem Ergebnis von Sinn- und Bedeutungszuschreibungen (Burr 2003, Werlen 2007, Kühne 2013). Diese beziehen sich entweder auf die alltäglichen Logiken des Handelns oder von Systemen, wie zum Beispiel den institutionalisierten Prozessen der Planung. Was von wem als Region bezeichnet wird, hat also nichts mit einem ‚Wesen‘ zu tun und ist auch nicht mit objektiven Indikatoren herzuleiten, sondern basiert darauf, was Menschen als Region bezeichnen. Infolge gesellschaftlicher Konventionen sind wir nicht daran gewöhnt, Region als Prozess (also konstruktivistisch), sondern als Gegenstand zu verstehen, sie erscheint „uns nicht als soziale Konstruktion, sondern als Wirklichkeit“ (Ipsen 2006: 31).

Das Erkenntnisinteresse konstruktivistischer Regionalforschung bezieht sich also nicht auf die Frage, welche essentiellen Eigenschaften eine Region habe (essenzialistische Perspektive). Ebenso wenig wird die Frage gestellt, welche Strukturen und Funktionen in welcher von anderen Räumen unterscheidbarer Konstellationen zu finden seien (positivistische Perspektive). Vielmehr ist konstruktivistische Regionalforschung auf Fragen bezogen wie:

 Welche Kriterien werden zur Abgrenzung von Regionen sozial akzeptiert ?

 Wem wird die Kompetenz zugeschrieben, Regionen abzugrenzen ?

 Welche Bedeutungen werden einer – wie auch immer definierten – Region zugeschrieben ?

 Wie werden räumliche Ab- und Ausgrenzungsprozesse durch die Definition von Regionen begründet ?

 Wem nützt welche Form der Regionalisierung, wer befürchtet Nachteile ?

Im Fokus der konstruktivistischen Perspektive steht also besonders der Prozess (Regionalisierung), weniger das Ergebnis (Region). Wenn im Zuge von Grenzliberalisierungen neue Räume entstehen, wenn in Deutschland Metropolregionen eingeführt werden oder wenn auf europäischer Ebene Makroregionen implementiert werden – immer dann lassen sich Prozesse der (Neu-)Regionalisierung untersuchen. Das oben diskutierte Fallbeispiel der Makroregion Alpen (EUSALP) ist hierfür ein typisches Beispiel.


Tab. 2 Zusammenfassung grundlegender Unterschiede von Essentialismus, Positivismus und Konstruktivismus in Bezug auf „Region“
EssentialismusPositivismusKonstruktivismus
WortherkunftLat. essentia‚ ‚Wesen‘(positive) Tatsachen als Grundlage wissenschaftlicher ErkenntnisGegenstände werden durch Vorgang der Betrachtung relevant, also konstruiert
RegionsdefinitionRegion als beobachterunabhängige Ganzheit, selbstständiges Eigenwesen, ‚Superorganismus‘Einheit, die sich aufgrund bestimmter räumlicher, quantifizierbarer Verteilungen von Objekten unterscheidet (beobachterunabhängig)Region als Ergebnis von Sinn- und Bedeutungszuschreibungen
Fokus‚Wesenskern‘ äußert sich in wahrnehmbaren Phänomenen wie Bauernhausformen oder DialektStrukturen mit empirischen Methoden objektiv beschreibbar. Ziel: möglichst genaues Abbild der Realität Region (z. B. Verteilung von Unternehmen, Bevölkerung etc.)Prozesse der Konstruktion einer Region, welche Argumente geglaubt werden, welche Akteure sich durchsetzen.
Beispielhafte VertreterHerrmann Lautensach (1886–1971)Walter Christaller (1893–1969), Dietrich Bartels (1931–1981)Lucius Burckhardt (1925–2003), Benno Werlen (*1952)

Im Konstruktivismus werden Normen eher hinterfragt als eigens formuliert. Das Hinterfragen und in diesem Sinne Dekonstruieren von etablierten ‚Wahrheiten‘ ist eine häufige Zielsetzung dieser Perspektive. Auch das Aufzeigen von alternativen Entwicklungen kann hierbei ein Ziel sein: Dies bezieht sich beispielsweise darauf, wie Verfahren der Regionalentwicklung chancengerecht gestaltet werden können (Kühne 2011a und b, Kühne & Meyer 2015), d. h. Möglichkeiten zur verstärkten Einbindung von Personen aufzuzeigen, die in Regionalentwicklungsprozesse gemeinhin wenig eingebunden sind. Bereits dieses Beispiel verdeutlicht das Verhältnis zwischen einer konstruktivistischen Regionalwissenschaft und Bewohnern einer Region: Da Konstruktivisten davon ausgehen, dass ‚Wahrheit‘ das Ergebnis eines sozialen Aushandlungsprozesses ist und nicht im ‚Wesen‘ einer Region liegt oder es Ziel von Forschung sei, eine Region ‚wirklichkeitsgemäß‘ empirisch zu erfassen, begreifen sie die Interessen von anderen als grundsätzlich legitim.

Der konstruktivistische Blick auf Regionalentwicklung hat in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen und schreibt sich dabei ein in einen wichtigen Trend in den raumbezogenen Wissenschaften, der häufig als relational turn bezeichnet wird. Die Bedingtheit von raumbezogenen Entwicklungen durch Diskurse, Institutionen, Pfadabhängigkeiten, Machtkämpfe usw. wird in der internationalen Literatur sehr breit diskutiert (für viele Amin 2004, Murphy et al. 2015, Allmendinger et al. 2015). Dies lässt sich auch in weiteren Subdisziplinen der raumbezogenen Wissenschaft nachzeichnen wie beispielsweise in der (relationalen) Wirtschaftsgeographie (Bathelt & Glückler 2012). Tab. 2 fasst die grundlegenden Unterschiede der drei Ansätze knapp zusammen (s. z. B. Kühne 2013).

Wir haben nun die unterschiedlichen Arten der Regionsabgrenzung angesprochen (funktional, administrativ und diskursiv) – und soeben unterschiedliche konzeptionelle Perspektiven auf den Regionsbegriff reflektiert. Die erstere Debatte ist eher technischer, alltagsweltlicher Art; die zweite ist eher wissenschaftstheoretischer Art. Die beiden Debatten argumentieren insofern auf einem sehr unterschiedlichen Abstraktionsniveau, aber sie sind eng verbunden (s. Tab. 3):


Tab. 3 Abgrenzungsmöglichkeiten von Regionen und dominierende wissenschaftstheoretische Sichtweisen
Form der Regionalisierung
HomogenFunktionalAdministrativDiskursiv
Dominierendes WissenschaftsverständnisEssentialismusx
Positivismusxx(x)
Konstruktivismus(x)x

 Die essentialistische Perspektive bezieht sich meist auf das Homogenitätsprinzip (Dialekte, Hausformen etc.).

 Die positivistische Perspektive operiert in der Regel mit funktionalen Argumenten. Dies erfolgt in der Praxis häufig innerhalb von statistisch-administrativen Räumen (z. B. Wirtschaftsentwicklung auf NUTS-2-Ebene), kann aber natürlich auch mit georefenzierten Mikrodaten erfolgen (z. B. Twitter-Datensätze, Verkehrszählungen). Dabei werden sowohl das Homogenitätsprinzip als auch funktionale Verflechtungen berücksichtigt.

 Die konstruktivistische Perspektive basiert vor allem auf dem diskursiven Regionsbegriff.

1.4Normative Zugänge:
Wie entwickelt man Regionen ?

In diesem Kapitel haben wir uns bisher vor allem mit der analytischen und konzeptionellen Dimension der Regionalentwicklung beschäftigt. Der Begriff Regionalentwicklung geht aber darüber hinaus, da er neben der analytischen Sicht auch einen normativen Gehalt umfasst. Während die analytische Sicht danach fragt, warum sich Regionen in welcher Weise entwickelt haben, so fragt die normative Sicht danach, was getan werden kann bzw. sollte, damit sich Regionen zukünftig ‚besser‘ entwickeln können – und dieses ‚besser‘ wird sehr unterschiedlich definiert (z. B. aus Perspektive einer Naturschützerin oder eines Bürgermeisters einer Abwanderungsgemeinde). Auf diese hochgradig politischen Fragen gibt es also keine einfachen Antworten: In der regionalen Dynamik kommen zahllose Einflussfaktoren zusammen, deren Einzeleffektive und additiven Konsequenzen kaum zu messen sind. Noch schwieriger ist es, den Einsatz von Instrumenten der Regionalentwicklung so zu organisieren, dass das gewünschte Ergebnis auch erreicht wird. Nicht jede rechtliche Vorschrift wird umgesetzt, manches Förderprogramm führt zu so genannten Mitnahmeeffekten (d. h. Maßnahmen würden ohnehin durchgeführt, die Fördermittel, die dafür zur Verfügung stehen, dann einfach ‚mitgenommen‘), manche Marketingmaßnahme verhallt ungehört. Aber selbst wenn die Maßnahmen als solche greifen, so führt dies nicht immer zu gewünschten Effekten der Regionalentwicklung. Wenn beispielsweise einzelne Gemeinden in einer Abwanderungsregion stark auf Neubaugebiete und familienfreundliche Infrastrukturen setzen und hierbei auch Fördergelder von übergeordneten Ebenen abrufen – dann mag das Zuwanderungsplus zeitweise positiv für die Schulauslastung und das örtliche Einkommensteuer-Aufkommen sein, auch wenn zugleich die Kosten für die Infrastruktur steigen, wie z. B. für Straßen und Kanäle. Auf regionaler Ebene kann dies allerdings ein Null-Summen-Spiel sein, indem die benachbarten Gemeinden eine verschärfte demographische Problematik verspüren und ihrerseits Strukturhilfen einfordern. Die Gretchenfrage lautet vor diesem Hintergrund, wie viel steuerndes Eingreifen in regionale Entwicklung sinnvoll ist, und auf welcher räumlichen Ebene anzusetzen ist – im konkreten Beispiel der Baugebietsausweisungen stehen die Bauleitplanung der einzelnen Gemeinde, interkommunale Zusammenarbeit und die regionalplanerische Koordinierung als Optionen zur Verfügung.

 

Ein anderes prominentes Beispiel sind wirtschaftspolitische Entscheidungen: Bei drohenden Unternehmenskonkursen wird häufig diskutiert, ob die drohenden sozialen Auswirkungen in bestimmten Regionen nicht Anlass sind, um mittels staatlicher Intervention ‚das Schlimmste‘ zu verhindern. Im Falle des Baukonzerns Holzmann wurde dies 1999 bejaht, der Konzern ging 2002 dennoch in Konkurs; im Falle der Drogeriemarktkette Schlecker wurde dies 2012 verneint und der Konkurs griff unmittelbar; im Falle des Automobilherstellers Opel wurden staatliche Stützungen 2009 ebenfalls verneint, und das Unternehmen hat sich aus eigener Kraft stabilisiert. In jedem Fall ging die Entscheidung über öffentliche Unterstützung mit sehr kontroversen und hochrangigen Debatten in Medien und Politik einher. Auch hier stellt sich die Frage nach der Rolle der öffentlichen Hand.

An dieser Stelle blenden wir bewusst aus, welches die konkreten Ziele von normativer Regionalentwicklung jeweils sind: Ob es um wirtschaftliches Prosperieren geht, um soziale Ausgewogenheit, ökologische Stabilität, eine landschaftsgerechte Entwicklung – das bleibt hier zunächst offen. Auf diese Fragen kommen wir bei den Handlungsfeldern zurück (s. Kap. 3).

Unabhängig von konkreten Zielen kann man zwei Grundperspektiven auf die Entwicklung von Regionen unterscheiden – das Gleichgewichtspostulat und die Polarisierungsthese. Diese Perspektiven werden häufig in wirtschaftspolitischen Debatten in Bezug genommen, aber sie gehen weit darüber hinaus.

1.4.1Das Gleichgewichtspostulat

Die liberale, (neo-)klassische Sichtweise geht davon aus, dass räumliche Ungleichheiten und Krisensymptome nur kurzfristige, vorübergehende Erscheinungen sind, die sich in einer funktionierenden Marktwirtschaft automatisch auflösen. Diese Sichtweise ist der neoklassischen Ökonomie und dem politischen Liberalismus stark verbunden (Neck & Schneider 2013).

Grundlage dieser Sichtweise ist die ungehinderte räumliche Mobilität von Arbeit und Kapital – beides ‚sucht sich selbst‘ den optimalen Ort. In diesem freien Spiel der Kräfte sind regionale Krisen normale Erscheinungen, um für bessere, innovativere Dinge Platz zu schaffen. Schumpeter (1993 [1942]) bezeichnet diesen Prozess als „schöpferische Zerstörung“. Im Falle von Unternehmenskonkursen bzw. Branchenkrisen in bestimmten Regionen geht die klassische Sicht davon aus, dass entweder neue Investoren die Region als lohnenswerten Investitionsort für sich entdecken (Mobilität von Kapital) oder die unterbeschäftigten oder schlecht bezahlten Beschäftigten in anderen Regionen deutlich bessere Konditionen vorfinden (Mobilität von Arbeit). In beiden Fällen wäre damit langfristig die Krise überwunden und die Entwicklung der Region(en) verliefe letztlich positiv.

Das Stehaufmännchen symbolisiert, dass vorübergehende wirtschaftliche ‚Schräglagen‘ am besten ohne Eingreifen überwunden werden: Nach kurzer Unruhe wird automatisch das Gleichgewicht erreicht (Abb. 9). Je mehr man versucht, das aktiv zu beeinflussen, desto länger dauert es. Dies verweist auf die ‚unsichtbare Hand‘ des Marktes, die aus dieser Perspektive einem staatlichen Intervenieren im Prinzip vorzuziehen ist. Diese unsichtbare Hand hat allerdings wichtige Aufgaben, indem sie kartellartiges Handeln (Preisabsprachen, Monopolbildung) zu verhindern und – zumindest in gewissem Ausmaß – die Infrastruktur zu sichern hat, mit der die Mobilität von Arbeit und Kapital überhaupt möglich ist.


Abb. 9 Stehaufmännchen als Metapher der neoklassischen Ökonomie (verändert nach Várkonyi & Domokos 2006)

Dieses Gleichgewichtspostulat meint nicht, dass sich langfristig räumliche Gleichheit herausbildet: Im Gegenteil, Konzentrationsprozesse wirtschaftlicher und siedlungsgeographischer Art sind durchaus erwartet, denn räumliche Konzentration ist ein wichtiges Kennzeichen von Effizienz. Ein Gleichgewicht wird aber insofern erwartet, als dass Arbeitslosigkeit und Betriebsaufgaben keine räumlich fixierten Probleme sind bzw. bleiben.

Aus dieser Perspektive wäre die steuernde, staatlich lenkende Regionalentwicklung also sehr weit zurückzufahren. Allenfalls Rückbaustrategien für entleerte Gebiete und Mobilitätsbeihilfen wären zu sichern, um bei extremen Strukturwandelprozessen Übergänge zumindest rudimentär zu gestalten. Ein solcher Ansatz wird unter dem Begriff der ‚passiven Sanierung‘ diskutiert.

In Europa sind kaum Fälle der passiven Sanierung zu finden, auch wenn der britische Staat sich in Regionen der Deindustrialisierung deutlich zurückhaltender gezeigt hat (z. B. in der Region Liverpool) als dies in Deutschland (z. B. im Ruhrgebiet) erfolgt ist. In den USA hingegen wird regionalen Krisen kaum mit Mitteln der Regionalentwicklung entgegengesteuert. Das prominenteste Beispiel ist wohl die Region Detroit, die durch den Niedergang der dortigen Automobilindustrie weit mehr als die Hälfte der Einwohner seit den 1950er-Jahren verloren hat und im Jahr 2013 als Stadt Konkurs anmelden musste, was unter anderem zu einer Art Schuldenschnitt führte. In Europa hingegen ist der Konkurs von subnationalen Gebietskörperschaften politisch kaum vorstellbar und rechtlich auch nicht möglich.

Die Kritik an dem Gleichgewichtspostulat in der Regionalentwicklung ist vielstimmig: Zum einen ist umstritten, inwieweit empirische Fälle jeweils als Belege gelten können: Ist Detroit ein Gegenbeleg des Gleichgewichtspostulats, oder sollten nicht die weiteren Konsolidierungsentwicklungen abgewartet werden ? Aktuelle Untersuchungen finden hier Anzeichen einer an Einfluss gewinnenden Kreativwirtschaft (Kullmann 2012). Auf der anderen Seite: Die milliardenschweren Investitionen in das Ruhrgebiet – lange in Form von Steinkohlesubventionen, dann in die Inszenierung der Industriekultur – haben demographische und wirtschaftliche Abwärtstrends nicht verhindern, sondern allenfalls abschwächen können. Regionale Fallbeispiele sind nie als ganz eindeutige Beweise für oder gegen das Gleichgewichtspostulat verwendbar (s. aber Zademach 2014: 75 f.).

Neben dieser empirischen Diskussion ist eine ethische Diskussion zu führen, indem die räumliche Chancengerechtigkeit im Mittelpunkt steht (Weiteres siehe Kap. 3.2). In Übergangsphasen, in denen Regionen sich in der passiven Sanierung befinden, ist die Herstellung einer Chancengerechtigkeit für alle Bewohner in der Praxis eine große Herausforderung (z. B. im Hinblick auf die schulische Ausbildungsqualität).

1.4.2Die Polarisationsthese

Die Gegenthese zum Gleichgewichtspostulat geht davon aus, dass Entwicklungen zur Polarisierung tendieren. Eine wichtige Wurzel dieser Debatte findet sich beim britischen Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946), der mit seinen Arbeiten die keynesianische Perspektive begründet hat. Keynes hat auf volkswirtschaftlicher Ebene argumentiert und ein Eingreifen des Staates in Krisenzeiten gefordert. Die Polarisationstheorie hat in den 1950er-Jahren dann diese Perspektive weiterentwickelt im Hinblick auf den regionalen Maßstab und eine räumlich differenzierte Betrachtung (Myrdal 1957). Demnach kann ein negatives Ereignis in einer Region – z. B. die Schließung eines großen Betriebes – leicht zu weiteren Negativentwicklungen führen und gar in einer Abwärtsspirale münden (s. Abb. 10). Dabei kann eine ganze Branche und eine ganze Region in Mitleidenschaft gezogen werden. Um übertriebene und gefährliche Entwicklungen zu vermeiden, ist in dieser Denkschule ein rechtzeitiges Eingreifen der öffentlichen Hand vonnöten.


Abb. 10 Abwärtsspirale der keynesianischen bzw. polarisationstheoretischen Sicht

Umgekehrt kann ein positives Geschehnis, z. B. eine bedeutende Unternehmensansiedlung, auch einen dauerhaften Aufwärtstrend auslösen. Diese Annahme liegt zugrunde, wenn in strukturschwachen Gebieten oder auch in Entwicklungsländern Großinvestitionen getätigt werden, in der Hoffnung einen Impuls zu setzen, der sich langfristig und großräumig auswirkt.

Die keynesianische Sicht, die hier zugrunde liegt, vertraut in die Kompetenz und Wirksamkeit staatlichen Handelns. Während in der makroökonomischen Diskussion vor allem der Investitionszeitpunkt im Konjunkturverlauf diskutiert wird (sog. deficit-spending zu dem Zeitpunkt, wenn krisenbedingt ohnehin wenig Einnahmen zur Verfügung stehen), so ist auf der regionalen Ebene der räumliche Bezug gewissermaßen paradox: Es soll dort staatlich investiert werden, wo es nicht gut läuft; in den prosperierenden Teilräumen kann er sich zurückhalten.

Die Kritik auch an diesem Ansatz ist mannigfaltig: Staatliche Steuerungsmaßnahmen könnten demnach Prozesse des Strukturwandels verzögern und Innovationen letztlich verhindern. Staatliches Handeln hat eine recht lange Vorlaufzeit – zwischen dem Eintreten einer Krise, der Organisation des keynesianischen Handelns (wie z. B. einem Investitionsprogramm für Infrastruktur) bis zum Eintreten der Wirkungen können Jahre vergehen und an der Problemstellung vorbeizielen. Darüber hinaus wird kritisiert, dass staatliches Eingreifen stets der Gefahr ökonomischer Ineffizienz unterliegt, da es mit hohen Verwaltungskosten, z. B. für die Erhebung von Steuern und Überwachung der Ausgaben verbunden ist.


Abb. 11 Betriebsschließung bei wichtigstem Arbeitgeber einer prosperierenden Region – Reaktionsmöglichkeiten aus Perspektive des Gleichgewichts- und des Polarisationspostulats (verändert und ergänzt nach Braun & Schulz 2012: 109)

Am Rande sei vermerkt, dass die Polarisationstheorien in einigen Punkten Nähe zur neomarxistischen Perspektive haben (z. B. die Regulationstheorie). Diese geht davon aus, dass Trends dazu neigen, sich zu verschärfen, vor allem im negativen Sinne. Im Unterschied zu den Polarisationstheoretikern halten neomarxistische Denker dies aber nicht für ein Krisensymptom, das mit staatlicher Intervention zu heilen ist. Sie halten dies vielmehr für wesentliches Kennzeichen kapitalistisch organisierter Staaten. Diesen wird zugeschrieben, dass sie auf sogenannten Akkumulationsregimen beruhen, die sich aus der Organisation der Produktion und Kapitalflüsse ergeben. Diese Akkumulationsregimes führen langfristig zwingend zur Überakkumulation, also zur Krise. Diese kann vorübergehend überwunden werden, indem eine räumliche oder institutionelle Expansion der Akkumulationsregimes erfolgt: Die Globalisierung wird als ein solcher Expansionsschub gedeutet. Die zunehmend weltweite Organisation von Wirtschaftsprozessen ermöglicht Akkumulationen von Kapital, die in einem vor allem nationalstaatlich organisierten Wirtschaftssystem nicht möglich wären. Ein Beispiel ist die Immobilienwirtschaft, die durch Finanzialisierung der Branche eine Internationalisierung und spekulationsbasierte Umsatzerhöhung erreicht hat. Ein Platzen von Finanzblasen wie 2008 in den USA lässt sich insofern als Überakkumulation deuten, die am Ende nicht zu vermeiden ist (Aglietta 1976, Hirsch & Roth 1986, Moulaert & Swyngedouw 1989, Ipsen 2002 und 2006, Ossenbrügge 2011). Eine Entwicklung (auf regionaler oder internationaler Ebene), die Überakkumulationen und Systemkrisen vermeidet, wäre in dieser Sichtweise nur außerhalb der markwirtschaftlichen, kapitalistischen Staatsorganisation vorstellbar. Hier besteht der wesentliche Unterschied zur keynesianischen Perspektive: Dort sind Krisen durch geschicktes Agieren zu überwinden; in der neomarxistischen Denkweise sind Krisen zwingender Bestandteil des kapitalistischen Systems, das insgesamt abgelehnt wird.

Stellt man die liberale und die keynesianische Sicht gegenüber, lassen sich zahlreiche Unterschiede im Hinblick auf die Regionalentwicklung benennen. Hier ist zunächst auf die betrachtete Maßstabsebene zu verweisen. Die liberale Sicht denkt wenig kleinräumig. Ein wirtschaftlicher Strukturwandel auf regionaler Ebene stellt aus dieser Sicht kein wirkliches Problem dar – hier wird in aller Regel ein Bereinigungsprozess angenommen, der durchaus sinnvoll ist. Wichtig ist, dass ‚auf das Ganze gesehen‘, also eher großräumig und langfristig, die Wirtschaftsleistung wächst. Die keynesianische Sicht hingegen tendiert dazu, auch kleinräumigere und kurzfristige Probleme zu adressieren.

 

Beide Perspektiven halten es für wünschenswert, dass Krisen in der regionalen Entwicklung zu überwinden sind. Allerdings unterscheidet sich der Weg dorthin erheblich. Abb. 11 illustriert dies in stark vereinfachter Form.