Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter

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Indikation einer Sprachtherapie

Im Bereich der Sprachtherapie rechtfertigt die Indikation einer Therapie gleichzeitig die Zuweisung einer entsprechenden Heilmittelverordnung „Sprachtherapie“. Diese kann vom Kinderarzt oder HNO-Arzt/Phoniater ausgestellt werden. Über die Indikation für eine sprachtherapeutische Behandlung wird im besten Falle über ein Diagnostikschema entschieden, wie dies beispielsweise mit der Interdisziplinären S2k-Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen (SES) (AWMF 2011) vorliegt. Diese Diagnostik bis hin zur Ausstellung einer Heilmittelverordnung mit Diagnoseschlüssel und Spezifizierung der Therapieziele beinhaltet festgelegte Kriterien, anhand derer die spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten des jeweiligen Kindes eingeschätzt werden. Glück (2013a) argumentiert, dass aus der Indikation zur Sprachtherapie allein weder das individuelle funktionelle Bedingungsgefüge noch entsprechende Therapieschwerpunkte und -ziele ableitbar sind, sondern erst nach einer entsprechenden Feindiagnostik. Die differenzierte Erfassung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Stärken und Schwächen eines Kindes erfolgt somit häufig erst nach der Indikationsstellung durch den Arzt.

Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs

Im Bildungsbereich (Schule) ist eine analoge „Zuweisung“ von spezifischen Unterstützungsmaßnahmen für das jeweilige Kind zu finden. Dies wird im Sinne der KMK-Empfehlungen als „sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Sprache“ oder beispielsweise als „sonderpädagogischer Unterstützungs- und Beratungsbedarf“ formuliert (KMK 1998). Der Zugang zu einer Unterstützung, die dem einzelnen Kind zu Gute kommt, ist in den einzelnen Bundesländern deutlich unterschiedlich geregelt. Neben niederschwelligen Unterstützungsangeboten in einigen Bundesländern auf der einen Seite gibt es auch Bundesländer, bei denen erst dann, wenn der Diagnostikprozess vollständig durchlaufen wurde und ein entsprechendes sonderpädagogisches Gutachten diesen Bedarf für ein individuelles Kind dokumentiert und begründet hat, spezifische Unterstützungsmaßnahmen durch entsprechende Fachkräfte realisiert werden können (z. B. Sprachheilpädagogen).

Förder-/Therapieplanung

Im Rahmen dieses Diagnostikprozesses werden differenzierte Informationen zusammengetragen, die nicht nur über eine Indikation entscheiden, sondern gleichzeitig vielfältige Informationen über das angezeigte methodische Vorgehen im Rahmen der sich anschließenden Unterstützung (Förderung/Therapie) bereitstellen. Im Kontext der Diagnostik im schulischen Setting beinhaltet die gutachterliche Zusammenstellung bereits entsprechende Fördervorschläge und somit wichtige Aspekte für die Förder-/Interventionsplanung (vgl. Kap. 2.2.2).

Diese Ausrichtung prägt bereits das gewählte diagnostische Vorgehen, das explizit auf die Generierung von spezifischen Ansatzpunkten für die Förderung hin ausgerichtet ist und im Bildungskontext unter dem Terminus „Förderdiagnostik“ thematisiert wird. Somit sollen nicht nur derartige diagnostische Methoden und Verfahren zum Einsatz kommen, die das Vorhandensein einer z. B. „Umschriebenen Sprachentwicklungsstörung (USES)“ bestätigen, sondern auch jene, die über qualitative Analysen bereits Ansatzpunkte für eine Intervention liefern. Beispielhaft ist hier der WWT 6 –10 (Glück 2011) zu nennen, der neben einer Einordnung der Ergebnisse eines Kindes zur Altersvergleichsgruppe über die qualitative Analyse differenzierte Aussagen beispielsweise zu den Bewältigungsstrategien des Kindes zulässt.

Schöler (2008) verweist in diesem Zusammenhang auf die Gefährlichkeit des Begriffes „Förderdiagnostik“ und mahnt, dass sog. „förderdiagnostische“ Verfahren nicht die zunächst notwendige Diagnose ersetzen (vgl. auch Kany/Schöler 2009).

1.1.5 Zielstellung: Verlaufskontrolle und Evaluation

Die diagnostische Erfassung der Fähigkeiten des Kindes wird als Grundlage für die Planung einer individuellen Förderung/Therapie genutzt. Um zu überprüfen, ob die dabei ausgewählten Therapieinhalte und -ziele und die dabei verwendeten Methoden nach einem gewissen Interventionszeitraum das jeweilige Kind noch optimal unterstützen, wird Diagnostik als Verlaufskontrolle implementiert. Dieser auch als Re-Diagnostik bezeichnete Prozess ermöglicht im Anschluss eine ggf. notwendige Adaption der Interventionsinhalte, -ziele und/oder -methoden.

Evaluation des Therapieerfolgs

Im Sinne evidenzbasierten Arbeitens kann als weiteres, grundsätzliches Ziel des Diagnostizierens die Überprüfung und das Erbringen eines Nachweises über den Therapieerfolg angesehen werden (Beushausen/Grötzbach 2011). Die Evaluation von Interventionsmaßnahmen ist somit ebenfalls eine mögliche Zielstellung diagnostischen Vorgehens. Insbesondere im Forschungskontext wird die Nachkontrolle zur Stabilität des Therapieerfolgs nach einem therapiefreien Intervall diagnostisch erfasst (follow up). In Bezug auf die ICF kann sich die Evaluation auch auf die Partizipation, das persönliche Wohlbefinden oder andere outcome-Maße beziehen.

1.2 Diagnostisches Handeln und professionelle Expertise

Sprachheilpädagogische Diagnostik ist zunächst einmal Diagnostik, bedient sich gleicher Methoden und hat somit auch die an sie gestellten Kriterien zu erfüllen. Somit gilt auch für die Sprachdiagnostik als professioneller Erkenntnis- und Entscheidungsprozess die folgende Anforderung: Sie „[…] verlangt den Einsatz wissenschaftlich begründeter Vorgehensweisen und Verfahren durch besonders befähigte Personen – die oder den Diagnostiker(in)“ (Glück 2013a, 106).

Als „Experte“, so Beushausen (2013, 30ff.), bringt eine Person interpersonelle Fähigkeiten (soziale Kompetenz, kommunikative Kompetenz), professionelle Fähigkeiten (berufsspezifisch – als Therapeut, Lehrkraft), problemlösende Fähigkeiten, technische Fähigkeiten (das besondere Wissen einer Disziplin) und die Fähigkeit zur Integration von Wissen und Erfahrung mit und „[…] zeichnet sich durch das bewusste und zielgerichtete Anwenden von spezialisiertem Wissen und Kenntnissen aus.“ (Beushausen 2013, 29) (bei Beushausen 2013 sind diese Fähigkeiten und ihre Entwicklung ausführlich dargestellt). Das Kennen und der Einsatz von Diagnostikverfahren lässt sich demnach den technischen Fähigkeiten zuordnen, wobei Experten in allen diesen Bereichen außergewöhnliche Leistungen zeigen (Beushausen 2013, 30).

Von Knebel (2007, 1082) beschreibt als eine von zehn Qualitätsmerkmalen sprachbehindertenpädagogischer Professionalität die sprachdiagnostische Fundierung. Diese umfasst sowohl konzeptionelles Grundlagenwissen (Welche Daten sind mit welcher Zielstellung zu erheben?) als auch methodisches Handlungswissen (Wie können diese Daten erhoben und beurteilt werden?).

Die Diagnostik im Bereich Sprache und Kommunikation weist dabei eine hohe Komplexität auf, die durch die wechselseitige Abhängigkeit sozialer, kognitiver und linguistischer Funktionen entsteht. Im Sinne der ICF müssen Diagnostiker in der Lage sein, nicht nur die Funktionsebene zu prüfen, sondern ebenso Aktivität/Partizipation sowie Umwelt- und personelle Faktoren einzubeziehen. Nach Glück (in Vorb.) sind folgende Bereiche zu prüfen, welche die Komplexität des Gefüges deutlich machen:

■ hypothesengeleitete Prüfung der linguistischen Strukturebenen: phonetischphonologische, syntaktisch-morphologische, semantisch-lexikalische und pragmatisch-kommunikative Ebene

■ Erfassung der Laut- und Schriftsprache

■ Prüfung verschiedener Modalitäten (Produktion, Rezeption, Reproduktion und Reflexion)

■ Erfassung der Interaktion der (eingeschränkten) sprachlichen Kompetenzen mit Bildungsanforderungen

■ Abklärung sprachbasaler Voraussetzungen (insbes. periphere und zentral auditive Verarbeitung und Wahrnehmung, kognitive Basisprozesse)

■ Erfassung stützender oder hemmender Umweltfaktoren

Die Voraussetzung für eine professionelle sprachdiagnostische Tätigkeit ist nicht nur das Wissen über Sprache, Sprechen, Stimme, Schlucken und Kommunikation, sondern auch fundiertes Grundlagenwissen der Bezugsdisziplinen Medizin (anatomisch-physiologische Grundlagen zu Artikulation und Wahrnehmung), Neurolinguistik (Sprachverarbeitung und -produktion), Psychologie (Sprachentwicklung und kognitive Entwicklung), Linguistik, Soziologie und Pädagogik.

Die Tätigkeit von Diagnostikern hat gutachterlichen Stellenwert und verwaltungsrechtliche Konsequenzen (SMK 2005). Dies schließt die in diesem Rahmen getätigten Empfehlungen zur Art und zum Umfang der Förderung ein und greift so ggf. in entscheidendem Maße in die Lebensperspektive von Kindern und Jugendlichen ein (SMK 2005).

1.3 Notwendigkeit eines interdisziplinären Vorgehens

Kinder mit Sprachstörungen werden im Bildungssystem, im Gesundheitssystem und/oder via Komplexleistung nach den Sozialgesetzbüchern SBG IX (neu)/ Bundesteilhabegesetz (BTHG) und SGB XII in sprachtherapeutischen Praxen, (interdisziplinären) Frühförderstellen, Sozialpädiatrischen Zentren, heilpädagogischen Kitas und/oder durch sonderpädagogische Unterstützung im Unterricht in verschiedenen schulischen Settings versorgt (Sallat/Siegmüller 2016).

 

„Die diagnostischen Aufgaben in interdisziplinären Praxis-Teams […] verteilen sich über Ärzte, Psychologen und Sprachtherapeuten/Logopäden. Erstrebenswert ist, dass für die Sprachentwicklungsdiagnostik außerhalb solcher interdisziplinärer Einrichtungen Kooperationen zwischen ärztlichen, psychologischen und sprachtherapeutischen/logopädischen Praxen erfolgen, die eine ähnliche Aufgabenverteilung ermöglichen („Vier-Augen-Diagnostik“; Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2007)“ (AWMF 2011, 46).

Für die sprachheilpädagogische Diagnostik wird in der Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK 1998) eine interdisziplinäre Diagnostik zum Verständnis der sprachlichen Beeinträchtigung und zur Planung von abgestimmten Förderintentionen als hilfreich erachtet, wobei neben den sonderpädagogischen Lehrkräften „[…] z. B. auch Ärztinnen und Ärzte aus verschiedenen Fachgebieten wie Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Phoniatrie, Neurologie, Kieferorthopädie, Pädiatrie, Psychologinnen und Psychologen sowie Vertreterinnen und Vertreter medizinischtherapeutischer und sozialer Dienste beteiligt sein [können]“ (KMK 1998, 7).

Die Disziplinen Logopädie/akademische Sprachtherapie und die Sprachheilpädagogik gelten als sog. Integrationswissenschaften, die u.a. aus den Bereichen Medizin, Pädagogik, Linguistik und Psychologie Kenntnisse hinzuziehen (Grohnfeldt 2016).

Diagnostik im Bereich Sprache und Kommunikation erfolgt aufgrund der vielfältigen Aufgaben im Feld Sprache – Sprechen – Stimme – Schlucken i.d.R. interdisziplinär. Es ist notwendig, die Expertise unterschiedlicher Bezugsdisziplinen in den diagnostischen Prozess einzubeziehen.

Medizin – Pädiatrie

Dies betrifft zum einen natürlich den Bereich der Medizin. Gerade Pädiater sind im Rahmen der Risikoabschätzung im Hinblick auf die weitere Entwicklung eines Kindes und somit des „Krankheitswerts“ von Sprach(entwicklungs)störungen verantwortlich (Sallat/Siegmüller 2016, 252). Die Einbettung der Symptomatik in die Gesamtentwicklung des Kindes (inkl. der Abgrenzung zu anderen Entwicklungsstörungen), die Verordnung von Therapiemaßnahmen (ambulant/stationär) und nicht zuletzt die Diagnosestellung für den Bereich der Frühförderung wird im Bereich der Medizin verantwortet (Sallat/Siegmüller 2016, 252).

Medizin – Phoniatrie/HNO

Der Bereich der Phoniatrie/Pädaudiologie beschäftigt sich explizit mit den Ursachen, der Diagnostik und natürlich der Intervention bei Stimm-, Sprech- und Sprachstörungen. So steht er für (differential-)diagnostische Fragestellungen, z.B. via Audiometrie. Natürlich fallen beispielsweise auch die Diagnostik im Kontext der Versorgung mit Cochlea-Implantaten (CI) und bei Schluckstörungen in den Bereich der HNO.

Linguistik

Die notwendige linguistische Expertise wird durch die diagnostischen Fachkräfte immanent eingebracht und sollte unbedingt abgesichert werden. Dies betrifft die gezielte Auswahl und Bewertung der Güte eingesetzter diagnostischer Verfahren ebenso wie die qualitative Analyse von Spontansprachdaten des Kindes.

Psychologie

Die Einbeziehung psychologischer Expertise wird notwendig, wenn dies eine vorliegende Primärbeeinträchtigung notwendig macht und/oder falls die sprachliche Beeinträchtigung als Begleitsymptomatik bereits im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes entsprechende diagnostische Aufgabenstellungen erzeugt.

„Die mehrschrittige interdisziplinäre Diagnostik erfordert eine sinnvolle Kooperation zwischen den beteiligten Berufsgruppen“ (AWMF 2011, 46). Diese ist bislang vor allem in entsprechend strukturell aufgestellten Einrichtungen möglich (interdisziplinäre Frühförderstellen, Sozialpädiatrische Zentren). Sallat/Siegmüller (2016) proklamieren mit ihrer Gegenstandszentrierung einen Gegenpol zur Institutionszentrierung, die bislang als ein möglicher Grund für fehlende Kooperationen angesehen wird. Sie lehnen sich dabei an das Mehrperspektivenmodell für interdisziplinäre Diagnostik gemäß von Knebel (2012) an.

Bezogen auf die gewünschte Interdisziplinarität im pädagogischen Handlungsfeld mahnt von Knebel (2012, 527), dass „fachfremde Erkenntnisse nicht ungeachtet ihrer Herkunft und ohne Anpassung an die sprachbehindertenpädagogischen Verwendungsinteressen importiert werden, weil dadurch das ursprünglich pädagogische Anliegen von Diagnostik und Förderung aus dem Blickfeld zu geraten droht.“ Es geht daher um die unverzichtbare Bezugnahme, ausgehend von einem „klar definierten und theoretisch fundierten pädagogischen Standpunkt „Sprachheilpädagogik“ (von Knebel 2012, 527).

2 Diagnostisches Vorgehen

Das diagnostische Vorgehen ist zunächst als Prozess zu kennzeichnen, als Abfolge einzelner Maßnahmen, die zur Gewinnung diagnostisch relevanter Informationen führen (Schmidt-Atzert/Amelang 2012). Dafür kommen unterschiedliche Methoden zum Einsatz (Beobachtung, Befragung, Elizitationsverfahren), um die diagnostische(n) Fragestellung(en) zu beantworten (vgl. Kap. 3). Zur diagnostischen Expertise gehört im Rahmen eines hypothesengeleiteten Vorgehens die Auswahl der verwendenden Methoden und Verfahren genauso, wie deren professionelle Durchführung, Auswertung und Interpretation.

Die Beschreibung der spezifischen Gestaltung des diagnostischen Prozesses im Kontext von Förder- und Therapieplanung (Kap. 2.1) wird ergänzt durch Ausführungen zur Diagnostik im Kontext schulischer, sprachheilpädagogischer Förderung (Kap. 2.2) und zur Diagnostik in der sprachtherapeutischen Praxis (Kap. 2.3). Abschließend werden ethische und rechtliche Grundlagen vorgestellt (Kap. 2.4).

2.1 Der diagnostische Prozess im Kontext von Förder- und Therapieplanung

„Beim Diagnostizieren handelt es sich nicht um einen einmaligen Akt, sondern um ein komplexes, mehrstufiges Vorgehen mit möglichen Rückkopplungsschleifen“ (Hesse/Latzko 2017, 63).

Der diagnostische Prozess ist nicht mit einem linearen Vorgehen gleichzusetzen. Durch das hypothesengeleitete Vorgehen kommt es zu Rückkopplungsschleifen. Es werden Hypothesen geprüft, ggf. verworfen und wiederum neue Hypothesen aufgestellt und verifiziert/falsifiziert. Dieses professionelle Vorgehen geschieht systematisch und schrittweise (Hesse/Latzko 2017).

Hesse und Latzko (2017, 64) beschreiben den diagnostischen Prozess in Anlehnung an Lukesch (1998) in einem Ablaufmodell, an dessen Beginn ein Problem und die daraus resultierende Fragestellung steht. Die sich anschließende Hypothesenbildung mit Feststellungs- und Erklärungshypothesen führt in der Folge zur Auswahl der Methoden für die anschließende Hypothesenprüfung. Das diagnostische Urteil (Diagnose) am Ende dieses Prozesses führt – je nach Zielstellung, Auftrag oder Setting zu einer ggf. angezeigten Förderung oder Therapie bzw. einer Beratung. Es kann im Anschluss an die Diagnose auch ein Gutachten erstellt werden (z.B. sonderpädagogisches Gutachten – vgl. Kapitel 2.2.2). Dieser Prozess ist aber, wie bereits angemerkt, keine „Einbahnstraße“, sondern es kann sein, dass das Ziel der Beantwortung der Fragestellung erst nach Rückkopplungsschleifen und somit ggf. mehreren Durchgängen der Informationsgewinnung erreicht wird (Schmidt-Atzert/Amelang 2012, 390).

Eine derartige Rückkopplungsschleife ist beispielsweise auch im diagnostischen Algorithmus zu Sprachentwicklungsstörungen in der AWMF-Leitlinie zu USES berücksichtigt. „Auch nach der Diagnose USES sichert eine Rückkoppelungsschleife – z. B. bei ausbleibendem Therapieerfolg – die Möglichkeit zur erneuten Differenzialdiagnostik“ (AWMF 2011, 49).

In Anlehnung an Berg (2007, 68) stellt Abbildung 2 in ähnlicher Weise den diagnostischen Prozess im Bereich Sprache dar.


Abb. 2: Diagnostischer Prozess im Bereich Sprache

2.2 Diagnostik im Kontext schulischer, sprachheilpädagogischer Förderung

Unterricht mit Kindern mit Förderbedarf im Bereich Sprache und Kommunikation ist als „diagnosegeleiteter Prozess“ (von Knebel 2007) zu verstehen, der potentielle (Sprach-)Barrieren identifiziert, um in der Folge eine uneingeschränkte sprachliche Bildung zu ermöglichen. Für eine professionelle, spezifische Unterstützung/Förderung ist es deshalb notwendig, den aktuellen, individuellen sprachlichen Entwicklungsstand und die spezifischen Bedingungen des Erwerbs sprachlicher Strukturen eines Kindes zu kennen (Wissen zur Lernausgangslage). Eine Diagnostik, die dieser Zielstellung folgt, liefert spezifische Ansatzpunkte, um Lernen – unabhängig vom Förderort – optimiert zu gestalten (Reber 2012).

„Wir praktizieren Diagnostik um der Förderung willen. Es geht darum, Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler an unterschiedlichen Förderorten zu entwickeln, um sie möglichst optimal in ihrer Lernentwicklung zu begleiten und zu unterstützen“ (Heimlich et al. 2013, 4).

Die diagnostische Erfassung von sprachlichen Fähigkeiten im schulischen Kontext übernehmen i.d.R. Sprachheilpädagogen – Sonderpädagogen, die für den Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation spezifisch ausgebildet sind. Auf der Grundlage der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zum Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation (KMK 1998) hat ihre diagnostische Tätigkeit die Aufgabe, „[…] Art und Umfang des sonderpädagogischen Förderbedarfs auf der Basis einer Kind-Umfeld-Analyse zu erheben. Dabei werden insbesondere die sprachlichen Handlungskompetenzen des Kindes vor dem Hintergrund seiner persönlichen Lebenssituation und der schulischen Anforderungen beschrieben, pädagogisch interpretiert und als spezifisches Förderbedürfnis ausgewiesen“ (KMK 1998, 6).

Exkurs Kind-Umfeld-Analyse: Die Kind-Umfeld-Analyse wurde u.a. von Sander und Hildeschmidt im Kontext der Etablierung schulischer Integration von Schülern mit Unterstützungsbedarf entwickelt (Hildeschmidt/Sander 1993). Sie versteht sich als breiter Ansatz, der sich von einer allein kindzentrierten Diagnostik abhebt und auch relevante Umwelteinflüsse (personelle und materielle Gegebenheiten) erfasst sowie hemmende und förderliche Bedingungen in der Schule und in schulrelevanten Umfeldern analysiert (Bundschuh/Winkler 2014, 350). Diese Aspekte finden sich heute auch in der ICF (DIMDI 2005). Somit steht nicht nur das Kind mit seinen Verhaltensmerkmalen im Fokus, sondern auch das Zusammenspiel von Personen und materialen Bedingungen in dem System, zu dem das Kind gehört (Bundschuh/Winkler 2014, 350). So bringt eine biographisch angelegte Kind-Umfeld-Analyse zum Ausdruck, „[…] dass und wie die jeweilige Umwelt als Variationsquelle und Einflussfaktor der sprachlichen Entwicklung der Einzelnen in der Perspektive der Entwicklung ihrer sprachlichen Handlungsfähigkeit qualifiziert ist“ (Welling 2007, 970).

 

Reber/Schönauer-Schneider (2014) formulieren hierzu ein trichterförmiges Vorgehen. Ausgangspunkt sind gezielte Beobachtungen der spontansprachlichen Äußerungen der Schüler im Schulalltag, die zu ersten Hypothesen über Stärken und Schwächen im Bereich der sprachlichen Fähigkeiten führen. Soweit dies möglich ist, können im Anschluss Gruppenüberprüfungsverfahren zum Einsatz kommen, wie sie beispielsweise für den Bereich Sprachverständnis mit dem MSVK (Elben/ Lohaus 2000) vorliegen, welche die Erstellung eines Klassenprofils für bestimmte sprachliche Bereiche ermöglichen (Reber/Schönauer-Schneider 2014). Dies ergänzend werden kriteriengeleitete Schülerbeobachtungen angestellt, die hypothesengeleitet bestimmte Aspekte in den Blick nehmen. Hierzu liegen Checklisten und Beobachtungsraster unterschiedlicher Qualität vor. Hieraus kann es sich in der Folge ergeben, dass die Lehrkraft anhand dieser zusammengestellten Vorinformationen spezielle Diagnostikverfahren für die Einzeltestung einsetzt (vgl. auch Abb. 3).


Abb. 3: Diagnostisches Vorgehen zur Erfassung der sprachlichen Voraussetzungen im Unterricht (Reber/Schönauer-Schneider 2014, 23)

2.2.1 Spezifische Herausforderungen in der inklusiven Schule

In inklusiven schulischen Settings sind, je nach administrativen Rahmenbedingungen und Vorgaben, unterschiedliche Handlungsträger mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen im Bereich der Diagnostik betraut. Als Grundlage des Unterrichts verweisen die Empfehlungen der KMK zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen (KMK 2011) explizit auf eine den Lernprozess begleitende, pädagogische Diagnostik, wobei diese im Team von Lehrern mit unterschiedlichen Lehrämtern und Ausbildungen gemeinsam durchgeführt und verantwortet werden kann (KMK 2011, 19).

So sind Regel- und/oder Sonderschullehrkräfte in ihrer Funktion als Lehrkraft oder direkt als sogenannte Diagnostiklehrer oder Diagnostikteams mit diagnostischen Fragen betraut. Dabei werden häufig über kriteriengeleitete Beobachtungen und vorwiegend Gruppenüberprüfungsverfahren zunächst diejenigen Kinder erfasst, die einer Förderung bedürfen, welche über Sprachfördermaßnahmen im Regelunterricht hinausgeht. Die differenzierte Feststellung des sprachlichen Leistungsstandes bzw. des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die sich daraus ergebende Erstellung von Förderplänen übernehmen dann in der Regel Sprachheillehrer als „case manager“ (Reber 2012, 268f.). Hoffmann/Böhme (2017) konnten zeigen, dass an Grundschulen nur ein geringer Anteil von Schülern mit sprachlichem Förderbedarf korrekt identifiziert wird (geringe Sensitivität) – Kinder ohne Förderbedarf werden allerdings sehr zuverlässig erkannt (hohe Spezifität). Ausschlaggebend hierfür ist vor allem die Güte der Informationsquellen. Zur Optimierung der Klassifikationsgüte wird eine mehrmalige Überprüfung mit sprachdiagnostischen Verfahren empfohlen, „[…] um Kinder mit ausgeprägtem Unterstützungsbedarf im sprachlichen Bereich möglichst zuverlässig zu identifizieren und anschließend in geeigneter Weise fördern zu können“ (Hoffmann/Böhme 2017, 146).

In unterschiedlichen Aufgabenbereichen des inklusiven Settings kommen unterschiedliche diagnostische Methoden und Verfahren zum Einsatz. Das „Messen“, d. h. die direkte Erhebung sprachlicher Fähigkeiten des Kindes, stellt neben der Beobachtung und Befragung eine der möglichen diagnostischen Methoden dar (vgl. Kap. 3). Die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder werden mit Hilfe dieser Methoden, durch Beobachtung, Interaktionen und Analysen im Sinne einer zyklischen Diagnostik fortwährend überprüft (Ziemen 2016).

„In einer inklusiven Diagnostik geht es also um ein Bewahren sonderpädagogischer Kompetenzen und um den Einbezug der Regelpädagogik und der dort gewonnenen Daten in Bezug auf das System Schüler in den gesamtdiagnostischen Prozess“ (Schäfer/Rittmeyer 2015, 109).

Ziemen (2016) formuliert Aspekte zum Verständnis von Diagnostik „mit Blick auf Inklusion“. Demnach versteht sich Diagnostik […]

■ „im Interesse und unter Berücksichtigung der Perspektiven der Kinder […];

■ lernbegleitend, entwicklungsunterstützend und kompetenzorientiert;

■ analysierend und hypothesenbildend und –prüfend mit dem Ziel des Verstehens bzw. des Erklärens;

■ dialogisch mit den Kindern […]; Eltern und Bezugspersonen;

■ ggf. interdisziplinär;

■ orientierend auf das Schaffen eines sozialen Möglichkeitsraumes für Entwicklung und Lernen“ (Ziemen 2016, 47).

Gegenwärtig erfolgt eine breite Diskussion der diagnostischen Ausrichtung im Kontext sich wandelnder Bildungssettings in Richtung Inklusion. An dieser Stelle sei beispielhaft auf die zukunftsweisenden Diskussionen in folgenden Publikationen verwiesen:


Amrhein, B. (Hrsg.) (2016): Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Theorien, Ambivalenzen, Akteure, Konzepte. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn

Lindmeier, C., Weiß, H. (Hrsg.) (2017): Pädagogische Professionalität im Spannungsfeld von sonderpädagogischer Förderung und inklusiver Bildung. Sonderpädagogische Förderung heute, Beiheft 1, Beltz Juventa, Weinheim

Schäfer, H., Rittmeyer, C. (Hrsg.) (2015): Handbuch inklusive Diagnostik. Beltz, Weinheim/Basel

Diagnostikverfahren für die orientierende Einschätzung sprachlicher Leistungen durch Regel- und Sonderpädagogen im Klassenkontext

In inklusiven Settings stehen Regelschullehrkräfte vor der Aufgabe, die Heterogenität der Schülerschaft im Unterricht zu berücksichtigen. Eine Grundlage dafür ist die Kenntnis der (sprachlichen) Voraussetzungen der Kinder im Sinne von Lernausgangslagen. Gerade für den Übergang von der Kita in die Grundschule existiert eine Vielzahl von Verfahren, die in ganz unterschiedlicher Qualität (vorwiegend als informelle Verfahren) mittels unterschiedlicher diagnostischer Methoden die Lernvoraussetzungen der Kinder in verschiedenen Entwicklungsbereichen in Einzel- und/oder Gruppensituationen ermitteln. Auch für Kinder im Grundschulalter liegen Beobachtungs- und Einschätzungsbögen bzw. Diagnosematerialien vor, die zu diesem Zweck von Regel- und Sonderpädagogen bevorzugt in Gruppensituationen eingesetzt werden können. Es muss an dieser Stelle allerdings nochmals explizit auf die häufig beschränkte Aussagekraft dieser Verfahren hingewiesen werden. Kinder, die anhand dieser Verfahren einen „auffälligen Sprachentwicklungsstand“ zugeschrieben bekommen, sollten unbedingt im Anschluss eine spezifischere Diagnostik durch entsprechende Fachkräfte durchlaufen. Wer dies mit wessen Weisung durchführt ist vom Zeitpunkt der Erhebung, vom Kostenträger und weiteren administrativen Vorgaben abhängig.

Folgende Verfahren kommen hierbei als Einzel und / oder Gruppenüberprüfung beispielsweise zum Einsatz (Spreer 2013):

■ Die Diagnostischen Einschätzskalen (DES) zur Beurteilung des Entwicklungsstandes und der Schulfähigkeit (Barth 2012)

■ Sprachförderung: Die Fitness-Probe (Günther 2003)

■ Beurteilen – Beraten – Fördern (Heuer 2008)

■ Marburger Sprach-Screening (MSS). Ein Sprachprüfverfahren für Kindergarten und Schule (Holler-Zittlau et al. 2017)

■ Deutsch als Zweitsprache – Sprache gezielt fördern. Einstufungshilfen (Kehbel et al. 2011)

■ Sprachkompetenz fördern in Kindergarten, Vorschule und Schuleingangsklassen (Marx et al. 2006)

■ Kriterien für Unterrichtsbeobachtungen im Bereich Sprache (Reber/Schönauer-Schneider 2014)

Diagnostikverfahren für die spezifische Diagnostik durch Sonderpädagogen im Bereich Sprache und Kommunikation

Sonderpädagogen übernehmen in inklusiven Settings unterschiedliche diagnostische Aufgaben. Je nach Altersgruppe der Kinder kommen neben Screenings Materialien zum Einsatz, die als standardisierte und normierte Verfahren die Grundlage für eine Indikation einer Intervention und deren differenzierte Planung darstellen. Die Ergebnisse zielen somit auf die Ermittlung der individuellen Notwendigkeit von spezifischen Fördermaßnahmen und deren Evaluation, z.B. auch in Form der Beratung unterschiedlicher Lehrkräfte bei der Umsetzung von Unterstützungsmaßnahmen. Welche Verfahren durch welche Fachkräfte mit welcher notwendigen Expertise durchgeführt werden, ist in den verschiedenen Bundesländern und Settings unterschiedlich geregelt. Erweitert werden diese grundlegenden Kompetenzen der Erstausbildung durch spezifische Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, die teilweise sogar spezifisch für einzelne Verfahren angeboten werden.

Die entsprechenden zur Verfügung stehenden diagnostischen Verfahren sind in den verschiedenen Kapiteln in diesem Buch beschrieben und auch über die e-Verfahrensbeschreibung recherchierbar (s. Anhang, Erläuterungen zur Online-Datenbank).

2.2.2 Das sonderpädagogische Gutachten

Am Ende des diagnostischen Prozesses kann eine Erstellung eines Gutachtens notwendig werden. Dies trifft – je nach Bundesland – im Bildungsbereich auch auf den Bereich der Förder- bzw. Sonderpädagogik zu. Wie ein derartiges Gutachten aussieht und welchen qualitativen und quantitativen Ansprüchen es genügen muss, ist sehr unterschiedlich geregelt. Dies betrifft zum einen wiederum die Frage der formalen Vorgaben, die in verschiedenen Bundesländern beispielsweise durch Formatvorlagen zur Erstellung geklärt wird, zum anderen aber auch die Frage- und Problemstellung, die ebenfalls zu formalen oder inhaltlichen Unterschieden führen kann (Bundschuh/Winkler 2014). So wird sich ein Erstgutachten zur „Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs“ von einem „Fortschreibungsgutachten“ unterscheiden, das bereits inhaltlich ganz andere Anforderungen mit sich bringt.

Es kann an dieser Stelle also kein allgemein gültiger Vorschlag formuliert werden. Bundschuh/Winkler (2014) legen Strukturierungshilfen zur förderdiagnostischen Gutachtenerstellung unter besonderer Berücksichtigung der Kompetenzorientierung vor. Dieser Strukturierungsvorschlag ist wie folgt gegliedert und im Original noch deutlich mit Hinweisen und möglichen Inhaltsaspekten untersetzt (Bundschuh/Winkler 2014, 390ff.):