Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter

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3.5.1 Standardisierte Testverfahren im Bereich Sprache

Psychometrische Testverfahren haben das Ziel, psychische Eigenschaften indirekt messbar zu machen. Sie beinhalten Aufgaben, die sog. Items eines Testverfahrens, die auf einer theoretischen Basis für einen bestimmten Alters- und Inhaltsbereich konzipiert werden. Ein Verfahren muss bestimmten Gütekriterien genügen, um eine Messung zu ermöglichen (Objektivität, Reliabilität und Validität; s. Kap 3.1.3). Ist ein solches Verfahren normiert, kann abgeschätzt werden, ob die Leistungen einer Person von der Norm abweichen und z. B. als auffällig bzw. störungswertig einzustufen sind.

Standardisierte Testverfahren stellen einen wichtigen Baustein im diagnostischen Prozess dar. Von einem Testergebnis allein lässt sich aber z.B. die Diagnose einer (umschriebenen) Sprachentwicklungsstörung nicht stellen.

Im sprachlichen Bereich liegen zum einen umfassende Testverfahren vor, die einen Gesamtüberblick über das sprachliche Vermögen eines Kindes geben sollen – sog. allgemeine Sprachentwicklungstests (s. Kap. 4.7 und 4.8). Zum anderen existieren Verfahren für einzelne sprachliche Bereiche, z. B. ausschließlich für das Verständnis grammatischer Strukturen.

Screenings

Eine Untergruppe standardisierter Testverfahren sind Screenings. Diese haben eine eingeengte Zielstellung und sollen möglichst ökonomisch aus einer großen Anzahl von Personen diejenigen herausfiltern, die ein Risiko in sich tragen, eine bestimmte Auffälligkeit/Störung zu haben (engl. to screen = durchleuchten, durchsieben). Anwendungsbereiche finden sich in der Frühdiagnostik (beispielweise im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen, s. Kap. 5.1), als erster Schritt (Verdachtsdiagnose) bei der Diagnostik sprachgestörter Kinder sowie im Rahmen von Einschulungsuntersuchungen.

Die Güte eines Screenings lässt sich darüber bestimmen, wie gut es in der Lage ist, diagnostische Zuordnungen im Sinne von auffällig/unauffällig zu gewährleisten. Wichtige Kennwerte dafür sind die Sensitivität und Spezifität eines Screenings. Sie geben an, welcher Prozentsatz der sprachgestörten bzw. der sprachlich unauffälligen Personen korrekt identifiziert wird.

Die Sensitivität eines Screenings gibt an, wie gut die auffälligen Kinder identifiziert werden. Sie beschreibt den Anteil der testpositiven Personen unter allen „in Wahrheit“ auffälligen Personen einer Stichprobe, also den Anteil tatsächlich auffälliger/sprachgestörter Kinder, die durch das Screening auch als sprachgestört eingestuft werden. Demgegenüber beschreibt die Spezifität, in welchem Ausmaß (mit welcher Wahrscheinlichkeit) die unauffälligen Kinder auch wirklich als unauffällig klassifiziert werden. Die Abbildung 5 illustriert dies.

Primäres Ziel eines Screenings ist es, alle auffälligen Personen (z.B. Risikokinder) zu identifizieren. Dafür wird eher in Kauf genommen, etwas zu viele Kinder als auffällig zu klassifizieren. Wichtig ist ein ausgewogenes Verhältnis von Sensitivität und Spezifität, das je nach Zielstellung des Screenings zu gestalten ist.


Abb. 5: Vierfeldertafel zur Bestimmung von Sensitivität und Spezifität eines Screenings

3.5.2 Informelle Verfahren

Elizitationsverfahren, die nicht standardisiert und normiert wurden, werden als informelle Verfahren bezeichnet. Mit diesen werden meist spezifische sprachliche Teilleistungen dahingehend betrachtet, ob sie prinzipiell von einer Person gezeigt werden (im Vergleich zur „fertigen Standardsprache“). Auch wenn diese Verfahren teilweise weit verbreitet sind und sich gerade bzgl. der Anwenderfreundlichkeit großer Beliebtheit erfreuen, stehen sie aufgrund unzureichender Prüfung ihrer Güte in der Kritik (Kany/Schöler 2007), da wichtige testkonstruktive Kriterien bezüglich der Güte und statistisch gesicherte Normierungen nicht vorhanden sind (List 2010, 21f.). So sind diese Verfahren von der Expertise der Konstrukteure (und deren Plausibilitäten) für Leistungen im Entwicklungsbereich Sprache und Kommunikation abhängig (List 2010, 21f.). List (2010, 21f.) beschreibt, dass in der Praxis häufig solche informelle Verfahren als Sprachstandserhebungsverfahren im Elementarbereich eingesetzt werden, bei denen zu prüfen bleibt, ob sie z.B. eindeutige Bewertungskriterien sowie Durchführungs- und Auswertungsanweisungen aufweisen.

3.6 Spontansprachanalyse

Ein wichtiger Aspekt sprachtherapeutischer Diagnostik ist die Erhebung von Spontansprachdaten eines Kindes, die in Ergänzung der Erfassung normierter Sprachdaten ihre Berechtigung hat. Auf der Grundlage des Aktenstudiums, des Anamnesegesprächs und der Beobachtung einer Spiel-/Gesprächssituation wird entschieden, ob eine gezielte Untersuchung der Spontansprache durchgeführt werden soll (Schrey-Dern 2006, 42). Hierbei könnten beispielsweise im Zuge einer genaueren Therapieplanung vom Kind bereits in der Spontansprache verwendete sprachliche Strukturen sehr detailliert betrachtet werden. Dabei ist darauf zu achten, dass diese Äußerungen möglichst aus unterschiedlichen Settings stammen und damit repräsentativ für die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes sind (Heidtmann 1988). Die Vorgehensweise der Spontansprachanalyse im therapeutischen Kontext unterscheidet sich von der Vorgehensweise einer Spontansprachanalyse in qualitativen Studien im Forschungskontext (Kohler 2016). Dies bezieht sich vor allem auf die Art und Weise der Transkription der Daten und deren Auswertung, wobei hier in der Praxis neben vorgegebenen und durch Erfahrung bewährten Routinen vor allem auch ökonomische Aspekte eine große Rolle spielen (Kohler 2016, 82).

In der Literatur sind häufig Vor- und Nachteile von Spontanspracherhebungen aufgelistet, die diese Form der Datengewinnung der von Testverfahren gegenüberstellen. In der hier vertretenen Argumentation des sowohl-als-auch ist eher zu fragen, welche Methode welche (Qualität von) Daten erfasst und wie diese wiederum interpretiert werden können. Gerade vor dem Hintergrund der angesprochenen ökonomischen Aspekte ist eine vollständig transkribierte sowie fundiert und differenziert ausgewertete Spontansprachprobe in der Praxis eher nur im Einzelfall zu finden. Natürlich wird die Spontansprache des Kindes als obligatorischer Bestandteil der Diagnostik mit eingeschätzt – i. d. R. aber nicht in Form dieser vollständig transkribierten Kommunikationssituationen, sondern über eine ökonomische Dokumentation zentraler Phänomene bezogen auf die einzelnen Sprachebenen (z.B. Reduktion von Mehrfachkonsonanz, korrekte Verbzweitstellung, Genussicherheit) und vor allem kommunikativ-pragmatischer Fähigkeiten und des Interaktionsverhaltens mit den Eltern, dem Diagnostiker und den Peers. Gerade letzteres können Testverfahren nicht ersetzen. Ergänzend sollen an dieser Stelle aber auch die Vorteile und die Nachteile von spontansprachlich erhobenen Daten skizziert werden:

■ Vorteile, u. a.:

– zeitliche Flexibilität: Für die Erhebung sind keine zeitlichen Vorgaben vorhanden, wie diese für standardisierte Testverfahren relevant sind. Im Gegenteil: Gerade die Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten in unterschiedlichen Settings mit unterschiedlichen Interaktionspartnern ist gewünscht!

– freie Materialwahl: Hier können die individuellen Interessen des Kindes Berücksichtigung finden – natürlich an die Zielstellung der Beobachtung geknüpft (Soll zum Beispiel ein Rollenspiel die pragmatischen Fähigkeiten des Kindes sichtbar werden lassen?). Auf der anderen Seite hat das Material bereits Einfluss auf den Wortschatz der potentiell im Fokus steht.

– räumliche Flexibilität:Auch bzgl. des Ortes besteht für die Erhebung Flexibilität. Allerdings sollte beachtet werden, dass die Erfassung der Spontansprache i.d.R. auch mit einer Audio-Aufnahme verbunden ist und somit entsprechende akustische Gegebenheiten vorherrschen sollten.

– hohe ökologische Validität: Die Spontansprachsituationen sind natürliche Situationen, die keine künstlichen Aufgabenstellungen beinhalten, die so im kindlichen Alltag nicht vorkommen (z.B. Sätze aus vorgegebenen Wörtern bilden). Gerade für den Bereich der Kommunikation-Pragmatik ist dies für die Beurteilung der kindlichen Fähigkeiten unerlässlich (vgl. Kapitel 10).

■ Nachteile, u.a.:

– fehlende Strukturierung: Die offen gestalteten Interaktionssituationen leben von der natürlichen Kommunikation/Interaktion und sind somit nicht oder nur wenig vorstrukturiert. Somit wird häufig erst nach der Transkription und der sich anschließenden Analyse deutlich, welche Strukturen das Kind im Einzelnen produziert hat – wenn nicht (durch eine zweite Person) parallel schon einzelne Aspekte protokolliert werden.

– Ablenkung durch das Material: Beim Einsatz von Testverfahren wird auf einen anregungsarmen Raum geachtet, in dem bei der Durchführung des Tests nur die aktuell notwendigen Materialien für das Kind sichtbar sein sollen. Bei einer freien Sprachprobe, beispielsweise in einem Spielzimmer einer Kita, können die ggf. vorhandenen vielfältigen Spielmaterialien die Erhebung deutlich erschweren.

 

– Leistungsvergleich mit Gleichaltrigen schwierig: Die erhobenen individuellen sprachlichen Fähigkeiten des Kindes sind nur schwer mit den Fähigkeiten Gleichaltriger vergleichbar. Anhand von Entwicklungsdaten, die beispielsweise für den Laut- oder Grammatikerwerb vorliegen, können hier Einordnungen vorgenommen werden. Natürlich ist auch der Vergleich mit einer früheren Spontansprachprobe des Kindes möglich (individuelle Bezugsnorm), um Entwicklungen im Rahmen des Therapieprozesses zu dokumentieren (mit den methodischen Einschränkungen der Spontanspracherhebung).

3.6.1 Erhebung der Spontansprachprobe

Die Spontansprachprobe basiert auf einer face-to-face-Kommunikation zwischen zwei oder mehr Kommunikationspartnern, wobei der sprachliche, kommunikative oder handlungsmäßige Verlauf offen bleibt und damit keine bestimmten Verhaltensweisen des Einzelnen vorgegeben sind (Heidtmann 1988, 18). Die Kommunikation ist i.d.R. in Handlungsabläufe eingebunden, wobei auch bestimmte (Spiel-)Materialien zur Verfügung gestellt werden können (Heidtmann 1988, 18).

Schrey-Dern (2006, 43) formuliert die folgenden notwendigen Bedingungen für die Erhebung einer Spontansprachprobe:

■ Vertrautheit zwischen den Spiel-/Gesprächspartnern

■ Rahmenbedingungen:

– Festlegung des Themas und der Situation

– Festlegung des Stimulusmaterials

– Festlegung der Medien

– Festlegung der Aufzeichnungsdauer

■ Gesprächsverhalten des Untersuchers

Für die Durchführung der Erhebung selbst und die Auswertung werden unterschiedliche Kriterien beschrieben (Schrey-Dern 2006, 25): So erfolgt die Erhebung typischerweise aus pragmatischen Gründen über eine Freispiel- bzw. Gesprächssituation zwischen Diagnostiker und Kind, wobei eine gewisse Vertrautheit zwischen diesen Interaktionspartnern gegeben sein soll (Schrey-Dern 2006, 25). Gerade bei jüngeren Kindern wird argumentiert, dass der Therapeut als Informationspartner nicht ausreicht und die Sprachprobe durch ein Mutter-Kind-Gespräch ergänzt werden sollte (Peuser 2000). Dies entspricht auch der Forderung, das Kind nicht nur in einer Situation zu beobachten. Als Datengrundlage werden insgesamt ca. 100 analysierbare Äußerungen des Kindes transkribiert, wozu ca. 30 bis 45 Minuten Interaktionszeit auszuwerten sind (Peuser 2000), Schrey-Dern (2006) spricht von 30 bis 50 analysierten Äußerungen. Zur Dokumentation dienen Audiodateien oder besser noch Videomitschnitte der Interaktionssituationen. Ein Vorteil dieser Methode ist, dass eine unabhängige nachträgliche Einschätzung der analysierten Merkmale möglich ist. Als Nachteile werden dabei stets der zeitliche Aufwand, vor allem für die nachträgliche Codierung, sowie die potenzielle Möglichkeit, dass sich bestimmte Merkmale nicht zeigen, benannt.

Transkription

Für die Verschriftlichung gesprochener Sprache – die Transkription – existieren je nach Fragestellung unterschiedliche Formen/Konventionen. Welche Form ausgewählt wird, ist von der Zielstellung der Sprachanalyse abhängig. Somit lassen sich nach Peuser (2000, 179) theoretisch drei Hauptformen der Transkription unterscheiden: phonetische Transkription, lexikalisch/syntaktische Transkription und pragmatisch-kommunikative Transkription:

■ phonetische Transkription: wird i.d.R. mit dem Internationalen Phonetischen Alphabet (IPA) transkribiert

■ lexikalisch/syntaktische Transkription: Analyse zu Wortschatz und Satzbau (auf eine lauttreue Wiedergabe kann verzichtet werden), i. d. R. orthographisch verschriftlicht

■ pragmatisch-kommunikative Transkription: Erfassung von Phänomenen, die Absichten von Kommunikationspartnern ausdrücken bzw. das Kommunikationsverhalten steuern. Deshalb erfolgt eine möglichst differenzierte Wiedergabe nonverbaler Ereignisse (Peuser 2000, 179f.).

Für bestimmte Zielstellungen der Analyse haben sich Konventionen etabliert, die je nach Disziplin allgemein akzeptiert sind. Beispiele für solche Transkriptionssysteme sind:

■ GAT/GAT 2 = Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem (Selting 2009; Selting et al. 1998)

■ HIAT = halb-interpretative Arbeits-Transkription (Ehlich/Rehbein 1976; Rehbein et al. 2004)

■ CHAT = Codes for the Human Analysis of Transcripts (Mac Whinney 2010)

Das detaillierte Transkriptionssystem CHAT (Codes for the Human Analysis of Transcripts) wurde als homogenes, standardisiertes Verfahren für die Transliteration kindersprachlicher Daten etabliert (Kauschke 2012). Es ist orthographisch orientiert, wobei die verschriftete Sprache so nah wie möglich an der Aussprache gelassen wird, jedoch ohne phonetische Umschrift (IPA). Die für jede Sprache separat zu entwickelnden Regeln für die Transkription wurden für das Deutsche von Szagun (1999) entwickelt. CHAT wird verwendet im Rahmen der international verbreiteten Plattform CHILDES (Child Language Data Exchange System, http://childes.talkbank.org/, 30.09.2017; MacWhinney 2010). Mit dem Ziel der Vereinheitlichung der Transkriptionspraxis der internationalen Spracherwerbsforschung wurde dieses Projekt 1984 ins Leben gerufen (Kauschke 2012).

In der sprachtherapeutischen Praxis wird häufig ein sog. Spaltentranskript verwendet, in dem nummeriert die Äußerungen des Kindes und auch der Kontext (inkl. Untersucheräußerung) notiert werden. Für umfangreichere Transkriptionen (v.a. im Forschungskontext) stehen Programme mit Transkriptionseditoren zur Verfügung, u.a.:

■ EXMARaLDA – ein System für das computergestützte Arbeiten mit vorwiegend mündlichen Korpora. Es besteht aus einem Transkriptions- und Annotationseditor (Partitur-Editor) nebst einem Corpus-Manager zum Verwalten von Korpora und einem Such- und Analysewerkzeug (http://www.exmaralda.org)

■ MAXQDA – eine Software zur computergestützten qualitativen Daten- und Textanalyse (http://www.maxqda.com)

■ f4/f5 – ein für das Transkribieren optimierter Audio-Player mit einfachem Texteditor (https://www.audiotranskription.de/)

3.6.2 Auswertungsmaterialien

Für die Analyse liegen dann verschiedene Instrumente mit unterschiedlichen Zielsetzungen vor. Häufig werden dabei grammatikalische Fähigkeiten eingeschätzt (Mittlere Äußerungslänge – MLU, Verbstellung etc.). Hierfür existieren u. a. folgende Materialien (für eine differenzierte Übersicht sei an dieser Stelle auf Schrey-Dern (2006) verwiesen):

■ Grammatik:

– die Profilanalyse / COPROF (Clahsen 1986)

– Checkliste diagnostischer Fragen (bei Störungen des Grammatikerwerbs) (Kannengieser 2015)

■ Semantik-Lexik:

– Verfahren zur Analyse semantisch-lexikalischer Fähigkeiten – die Semlexkrit (Glück 2013b)

■ Einschätzung verschiedener sprachlicher Ebenen:

– Aachener Screeningverfahren zur Analyse kindlicher Spontansprache – ASAS (Schrey-Dern 2006). Letzteres bietet auch für andere Fragestellungen Auswertungsschemata an.

– Checkliste zur Beurteilung der Spontansprache (von Suchodoletz 2013)

– Profilanalyse (Heilmann 2016)

Für weiterführende Informationen sei auf die folgende Publikation verwiesen:


Dittmar, N. (2009): Transkription: Ein Leitfaden mit Aufgaben für Studenten, Forscher und Laien. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

4 Sprachentwicklungsdiagnostik

Für eine übergreifende Darstellung der sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes stehen Überprüfungsverfahren zur Verfügung, die im Sinne einer mehrdimensionalen Sprachdiagnostik unterschiedliche sprachliche Ebenen, Verarbeitungsmodalitäten (z.B. Produktion) sowie Basiskompetenzen (z.B. Sprachgedächtnisleistungen) erfassen.

Grimm/Weinert (2008) benennen Komponenten der Sprache, denen sie jeweils das von einem Sprachbenutzer zu erwerbende Wissen zuordnen: Die prosodische Kompetenz referiert auf die suprasegmentale Komponente der Sprache, die linguistische Kompetenz auf die Bereiche Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexikon und Semantik und die pragmatische Kompetenz auf die Sprechakte und den Diskurs (Grimm/Weinert 2008, 503). Welche dieser Aspekte auf welcher Altersstufe in welcher Form diagnostisch relevant sind, hängt mit den bekannten Erwerbsmechanismen des Spracherwerbs und mit der Sprachverarbeitung selbst zusammen. Für ein professionelles diagnostisches Handeln ist dieses Basiswissen über die kindliche Sprachentwicklung und Kenntnisse der Sprachverarbeitungsmechanismen unerlässlich. Die Manuale der diagnostischen Verfahren bieten zwar in der Regel einen Einblick in die Erwerbsmechanismen und -reihenfolgen der im Fokus stehenden Konstrukte. Gerade aber für eine Interpretation der erhobenen Daten sowie für eine Ableitung von (therapeutischen) Konsequenzen ist u.a. dieses Basiswissen notwendig und wichtig. Dies können die Manuale der Verfahren nicht leisten. Hierzu bedarf es einer entsprechenden Expertise in diesem Bereich, die i.d.R. über eine spezifische Ausbildung oder ein einschlägiges Studium nebst Praxisphase erworben wurden (vgl. dazu Kap. 1.2). Für eine fundierte, breite Übersicht zur kindlichen Sprachentwicklung sei an dieser Stelle auf folgende Publikationen verwiesen:


Kannengieser, S. (2015): Sprachentwicklungsstörungen. Grundlagen, Diagnostik und Therapie. 3. Aufl. Elsevier, Urban & Fischer, München

Kauschke, C. (2012): Kindlicher Spracherwerb im Deutschen. Verläufe, Forschungsmethoden, Erklärungsansätze. Germanistische Arbeitshefte Bd. 45. De Gruyter, Berlin

Bei der Zielstellung der diagnostischen Materialien ist zwischen den Verfahren zu unterscheiden, die einen ggf. vorliegenden Interventionsbedarf aufzeigen (quantitative Auswertung) und jenen, die (darüber hinaus) qualitativ Schwerpunkte für eine ggf. angezeigte Intervention bereitstellen.

Nicht nur spezifische Sprachentwicklungstests, sondern auch viele allgemeine Entwicklungstests für das Kindesalter enthalten differenzierte Untertests zur Überprüfung sprachlicher Fähigkeiten (Esser/Petermann 2010 für einen Überblick).

4.1 Klassifikationssysteme

Obwohl die Beeinträchtigung sprachlicher Fähigkeiten sowohl den Bereich des Gesundheitswesens also auch den Bildungssektor berührt (und somit ganz unterschiedliche Fachdisziplinen in Erziehung, Bildung und therapeutische Versorgung der Kinder mit sprachlichem Unterstützungsbedarf involviert sind), fehlt ein interdisziplinäres Klassifikationssystem (Petermann et al. 2016, 48f.). Allein die verschiedenen Termini in Gutachten, Berichten und Dokumentationen des öffentlichen Gesundheitsdiensts, von Schulträgern, Frühförderstellen oder logopädischen Praxen zeugen davon.

 

In dem breit rezipierten Klassifikationssystem zu Sprachentwicklungsstörungen, das Kauschke (1998) erstmals zusammengestellt hat, wird die Unterscheidung zwischen Spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (vgl. Kap. 4.2) und Sprachentwicklungsstörungen im Rahmen von primären Störungsbildern (vgl. Kap. 4.3) dokumentiert.

Die beiden beschriebenen Formen der Sprachenwicklungsstörungen lassen sich als Untergruppe von Sprachauffälligkeiten im Kindesalter verstehen, zu denen dann auch u.a. Redeflussstörungen, Kommunikationsstörungen und kindliche Stimmstörungen zählen (Kauschke 1998).

Ein wesentlicher Schritt in Richtung Vereinheitlichung/Standardisierung der Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen ist mit der Verabschiedung einer interdisziplinären Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen zu verzeichnen (AWMF 2011). Erstmals ist es hierbei gelungen, über verschiedene Professionen hinweg, die sich mit der Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen befassen, übereinstimmend diagnostische Vorgehensweisen, Methoden und Verfahren zusammenzustellen und konsensual zu verabschieden. Grundlage hierfür ist die Klassifikation der ICD-10 der WHO (DIMDI 2005). Seit der Herausgabe dieser Leitlinie (AWMF 2011) wird für die Spezifischen Sprachentwicklungsstörungen häufiger auch der an die ICD-10 angelehnte Begriff der Umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen (USES) verwendet.

ICD-10 und DSM-5

Die ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das wichtigste und weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen, das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird. Als weiteres Klassifikationssystem liegt das Diagnosemanual DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association APA (Falkai 2015) vor. In beiden sind auch Sprach(entwicklungs)störungen klassifiziert: ICD-10: Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache – im Wesentlichen unterschieden in:

■ Artikulationsstörung (F.80.0) [Sigmatismus/Lispeln wird unter Sonstige Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache klassifiziert – F80.8]

■ Expressive Sprachstörung (F80.1)

■ Rezeptive Sprachstörung (F80.2)

Die Unterscheidung der ICD-10 in expressive und rezeptive Sprachstörungen wird vom DSM-5 nicht (mehr) klassifiziert. Hier werden unter „Kommunikationsstörungen“ die Sprachstörung und die Artikulationsstörung gefasst. Damit entspricht der Aufbau der Systematik eher der des bekannten Katalogs in den deutschen Heilmittel-Richtlinien (siehe unten; GBA 2011b).

Sowohl für die aktuelle Version ICD-10 GM 2014 (Dilling et al. 2015), die Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen im Kapitel F unter die psychischen Störungen fasst, als auch für das DSM-5 (Falkai 2015), das die Sprach- und Sprechstörungen im entwicklungsneurologischen Kapitel zu den Kommunikationsstörungen einordnet, gilt die differenzialdiagnostische Unterscheidung, dass die hier beschriebenen Sprach- und Sprechstörungen nicht auf Hör- oder andere sensorische, motorische oder neurologische Störungen zurückzuführen sind und nicht besser durch Einschränkungen der geistigen Entwicklung oder durch eine umfassende Entwicklungsstörung erklärt werden können. Für die Abgrenzung des Vorliegens einer USES von einer Sprachentwicklungsstörung im Rahmen einer Primärbeeinträchtigung (SES) müssen somit obligatorisch eine Hörprüfung und weitere medizinische, psychologische und sprachtherapeutisch/logopädische Untersuchungen zur Überprüfung entsprechender Ein- und Ausschlusskriterien erfolgen.

Diagnostische Kriterien der ICD-10

Die an die ICD-10 (Dilling/Freyberger 2014) angelehnten diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer USES (F80.1 und 80.2), die auch der AWMF-Leitlinie zugrunde liegen, sind (AWMF 2011, 50):

1. Unterdurchschnittliche rezeptive/expressive Sprachleistungen in einem standardisierten und normierten Test auf einer oder mehreren sprachlich-kommunikativen Ebenen (1,5 bis 2 Standardabweichungen unterhalb der Altersnorm)

2. Rezeptive/expressive Sprachfähigkeit liegt auch in strukturierter Verhaltensbeobachtung und linguistischer Analyse bedeutsam unterhalb der Fähigkeiten der Altersgruppe

3. Verwendung und Verständnis nonverbaler Kommunikation liegen innerhalb der Altersnorm

4. Normalitätsannahme: keine neurologischen, sensorischen, emotionalen, sozialen oder körperlichen Störungen, die die Sprachproblematik erklären können; keine vorliegende Intelligenzminderung (IQ <85, gemessen mit einem nonverbalen Intelligenztest)

In der ICD-10 (Dilling et al. 2015) wird der Unterschied der kognitiven und sprachlichen Leistungen des betreffenden Kindes zusätzlich durch das „doppelte Diskrepanzkriterium“ definiert, auf das die AWMF-Leitlinie „aus Gründen der praktischen Anwendbarkeit“ (AWMF 2011, 50) verzichtet. Dies meint, dass bei einer USES die sprachlichen Leistungen des Kindes bedeutsam unterhalb des seinem Intelligenzalter angemessenen Niveaus liegen müssen. Die Intelligenz ist zumindest durchschnittlich, gleichzeitig liegen die sprachlichen Leistungen 1 bis 1,5 Standardabweichungen unterhalb des nonverbalen IQ.

In einer Übersicht von Ronniger et al. (2016) wird bezugnehmend auf die ICD-10-Klassifikation eine Vorausschau auf die ICD-11 gegeben.

Vorausschau auf die ICD-11

In dieser werden voraussichtlich folgende Termini verwendet (ICD-10 → ICD-11):

■ Artikulationsstörung (F80.0) → Entwicklungsstörung der Sprachlaute

■ Expressive Sprachstörung (F80.1) → Sprachentwicklungsstörungen mit vorwiegender Beeinträchtigung der expressiven Sprache

■ Rezeptive Sprachstörung (F80.2), Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (F80.20), sonstige rezeptive Sprachstörung (F80.28) → Sprachentwicklungsstörung mit Beeinträchtigung der rezeptiven und expressiven Sprache

■ Neu in der ICD-11: Sprachentwicklungsstörung mit vorwiegender Beeinträchtigung der pragmatischen Sprache

■ Sonstige Entwicklungsstörung des Sprechens oder der Sprache (F80.8) → sonstige spezifische Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (Ronniger et al. 2016, 138)

Heilmittelkatalog

In der logopädischen/sprachtherapeutischen Praxis kommen aufgrund der Verordnungspraxis häufiger auch die Diagnosegruppen zum Einsatz, die im Heilmittelkatalog des gemeinsamen Bundesauschuss (GBA 2011a; 2011b) beschrieben werden (Petermann et al. 2016). Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache werden demnach unter Maßnahmen der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie beschrieben (GBA 2011a, 32 bzw. 34):

■ SP1 Störungen der Sprache vor Abschluss der Sprachentwicklung (mögliche Form der Sprachentwicklungsstörungen: eingeschränkter Wortschatz; Dysgrammatismus; Störung der Diskrimination, Selektion und Bildung von Sprachlauten; Störungen der auditiven Merkspanne/des auditiven Gedächtnisses; Störungen der Motorik/motorischen Koordination bei Respiration, Phonation und Artikulation)

■ SP3 Störungen der Artikulation (mögliche Ausprägung: Störungen in der Lautund Lautverbindungsbildung; Störung des orofazialen Muskelgleichgewichts; Störung der rezeptiven Diskrimination und der zentralen phonologischen und expressiv phonetischen, motorischen Musterbildung).

4.2 Diagnostik Umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES/SSES)

Die Verwendung der Termini SSES (Spezifische Sprachentwicklungsstörung) bzw. USES (Umschriebene Störung der Sprachentwicklung) (engl. SLI für Specific Language Impairment) werden neben noch weiteren verwendeten Begriffen als „diagnostic label for children with ,unexplained language problems‘ (Ebbels 2014, 377) gegenwärtig diskutiert. Argumentiert wird hierbei, dass „[…] research has provided little evidence that supports the continued use of the current definition and the exclusionary criteria” (Reilly et al. 2014, 417). Für eine ausführliche Diskussion siehe auch Bishop (2014) und Bishop et al. (2017).

Da sowohl die entsprechend gültige Diagnostikleitline in Deutschland als auch die aktuelle Version der Klassifikation der WHO (ICD-10) diesen Terminus führen, wird er auch hier noch entsprechend verwendet.

„Spezifische Sprachentwicklungsstörung stellt demnach eine gravierende und überdauernde Beeinträchtigung im Erwerb und der Anwendung linguistischen Wissens dar, ohne dass diese durch geistige Retardierung, Einschränkungen des Hörens, neurologische Schädigung, sozioaffektive Fehlentwicklung oder extreme Milieuumstände zu erklären ist“ (Dannenbauer 2007, 292).

Eine umschriebene Sprachentwicklungsstörung – USES (bzw. spezifische Sprachentwicklungsstörung – SSES) wird in der Regel erst im Alter von drei Jahren bzw. später diagnostiziert (Schulz 2007). Das Ziel einer Diagnostik, die bereits vorher ansetzt, ist die möglichst frühzeitige Erfassung von Kindern mit Sprachentwicklungsauffälligkeiten und somit von sogenannten „Risikokindern“, um gegebenenfalls möglichst frühzeitig angezeigte Interventionsmaßnahmen durchführen zu können (vgl. Kap. 5).

In Kapitel 4.1 wurden bereits die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer USES beschrieben, die auch in dem o. g. Zitat von Dannenbauer deutlich werden. Für die Planung und Durchführung einer spezifischen Therapie/Förderung eines Kindes ist die Klassifikation „USES – ja/nein“ genauso wenig ausreichend wie der Diagnoseschlüssel „SP1“ bzw. „SP3“. Dies bedeutet, dass die Erfassung der individuellen Ausprägung der sprachlichen Fähigkeiten des Kindes auf allen sprachlichen Ebenen für eine mögliche Intervention maßgeblich ist (individuelles Sprachprofil) (Kauschke/Siegmüller 2010).

An dieser Stelle sollen diagnostisch relevante Merkmale einer USES/SSES beschrieben werden, die neben den sprachlichen Merkmalen auch weitere Aspekte berühren.

Sprachliche Merkmale

Für die Diagnostik von umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen ist zu beachten, dass sich die dominierenden Problembereiche über die Zeit verändern (Glück/Spreer 2015). Weinert (2003, 34) skizziert diesbezüglich:

■ 1. Lbj.: vermutlich rhythmisch-prosodische Defizite

■ 2./3. Lbj.: verzögerter Wortschatzerwerb (produktiver Wortschatz unter 50 Wörtern)

■ 5. bis 7. Lbj: Dominanz grammatischer Probleme

■ Schulalter: Rückgang offenkundig falscher Satzmuster; Sprache bleibt einfach und rigide; Probleme beim Leseeinstieg und späteren Leseverständnis