Fontanka

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Ein Fluss und ein Spitzname

Wie es Tradition an der Petersburger Schule Nr. 348 war, unternahm auch Annas Jahrgang zum Abschluss des ersten Schuljahres einen Ausflug zum Tschischik-Pyschik-Denkmal, das sich an der Kreuzung der Flüsse Moika und Fontanka befand.

Tschischik-Pyschik war der Name eines Vogels, den so gut wie jeder in Russland kannte. Einem alten, vierzeiligen Volksreim nach, trank der Erlenzeisig Wodka am Ufer der Fontanka, woraufhin ihm der Schädel brummte.

Und weil diesem jämmerlichen Zeisig die Sympathie des Volkes entgegenschlug, hatte ihm die Stadt 1994 ein Denkmal spendiert. Es war eine gerade mal elf Zentimeter kleine Bronzestatue, die auf halber Höhe der Kaimauer befestigt worden war, die von der Ingenieursbrücke hinab in die Fontanka führte. Wer den kultigen Vogel sehen wollte, musste sich über das Brückengeländer lehnen. Und wer nicht Ausschau nach dem unscheinbaren Figürchen hielt, dem fiel es auch nicht auf.

Tschischik-Pyschik war beliebt, weil sein Abenteuer erfrischenderweise nichts mit Politik, nationaler Identität oder historischen Begebenheiten zu tun hatte. Der ulkige Trunkenbold erlaubte der unsichtbaren Bevölkerung, wenigstens für Augenblicke den Ernst ihres entbehrungsreichen Alltages zu vergessen.

Über die Jahrzehnte avancierte die kleine Bronze zu einer der bestbesuchten Touristenattraktionen des ganzen Landes. Darüber hinaus hatte sich ein Brauch entwickelt. Jeder Besucher konnte sich etwas wünschen und wer geschickt genug war, eine Münze derart platziert zu werfen, dass sie auf Tschischiks Podest liegenblieb, dessen Wunsch ging in Erfüllung. Dieses Kunststück gelang aber kaum jemandem, da der Wurfwinkel steil und die Fläche, auf der die Münzen liegenbleiben konnten, klein war.

Von Klassenlehrerin Koslowa und Sportlehrer Komarow beaufsichtigt, pilgerte Annas Klasse geschlossen zur Fontanka. Es war Morgen, die Sonne schien und einige wenige Quellwolken säumten das helle Blau des Junihimmels. Die Sommersonnenwende stand kurz bevor, was in St. Petersburg bedeutete, dass es nachts nicht mehr dunkel wurde. So ging das schon den ganzen Monat und die weißen Nächte, wie sie genannt wurden, färbten auf die Menschen ab, veränderten sie, auf eine unbestimmte, aber gewiss wunderbare Art.

Wer sich zu dieser Zeit des Jahres in der ehemaligen Zarenstadt befand, ob Einwohner oder Besucher, hatte gute Chancen, gemütsmilder als sonst zu werden, neugieriger und offenherziger. Es war, als wäre Petersburg von einem Zauber erfasst worden, der alles und jeden glanzvoller erscheinen ließ – edler, interessanter. Die Morgen fühlten sich wie Vormittage an und die Nächte wie Abende. Das viele Tageslicht berauschte die Menschen und lud ein, zu musizieren, zu tanzen und zu lachen.

So oder zumindest so ähnlich fühlten sich auch die Kinder der 1-c, während sie um kurz nach neun, eines nach dem anderen, hochgehoben wurden und versuchten, je einen Rubel auf Tschischik-Pyschiks Podest zu platzieren.

Als Anna an der Reihe war, passierte das Malheur. Auch sie wurde vom Jungensportlehrer Komarow unter den Achseln gepackt, hochgehoben und auf das Geländer gesetzt, damit sie den glückbringenden Zeisig besser sehen konnte. Mit Misha Masha in der einen Hand und einem Rubel in der anderen begriff sie nicht sofort, was von ihr verlangt wurde. Wie so häufig war Anna auch dieses Mal verträumt gewesen und hatte nicht aufgepasst, als ihre Lehrer über das Denkmal referierten. Und während die anderen Kinder ihre Münzen geworfen hatten, hatte sie ihr Bärchen herumschauen und über die eindrucksvollen Bauten der Innenstadt staunen lassen, die sie fast nie zu Gesicht bekam.

»Nun wirf doch schon!«, forderte Komarow, dem seine Aufgabe beim vorletzten der 32 Kinder lästig geworden war.

Anna warf ihre Münze geradewegs in den Fluss, ohne auf das Podest zu zielen oder Tschischik-Pyschik überhaupt zu bemerken. Unter ihren Mitschülern brach schadenfrohes Gelächter aus, was das Mädchen verunsicherte und dessen Griff um Misha Masha lockerte. Das Kuscheltier rutschte Anuschka aus der Hand und sauste schnurstracks in die Fontanka, wo es nun auf der Wasseroberfläche trieb. Anna stieß einen entsetzten Schrei aus, haute dem Sportlehrer auf dessen Finger, der sie im Affekt losließ und verdutzt zusah, wie sich eines seiner Kinder in den Fluss fallen ließ – wie es aussah, um ein Stofftier zu retten.

Vergeblich versuchte Komarow Anna hinterherzugreifen, dem nur mehr überrumpeltes Fluchen überblieb, als sie neben ihrem Bärchen ins Wasser platschte und darunter verschwand. Den eben noch vergnügten Kindern blieb das Lachen in den Hälsen stecken, sie stürzten ungläubig zum Geländer und sahen ihrer Klassenkameradin nach. Klassenlehrerin Koslowa verfiel in Panik, stürzte ebenfalls zum Geländer, zerknautschte währenddessen zwei, drei Kindergesichter und schrie Komarow direkt ins Ohr: »Worauf warten Sie denn? Nun springen Sie doch! Springen Sie! Springen Sie!«

Verwirrt, geschockt und willenlos tat der Sportlehrer, was ihm gesagt wurde. Er sprang Anna, die um ihr Leben strampelte, hinterher. Sie konnte zwar nicht gut schwimmen, hatte es aber dennoch irgendwie geschafft, ihre Misha Masha zu schnappen und genauso festzuhalten wie sie jetzt von Komarow festgehalten wurde, der seinen Fehler ausgebügelt, das Kind und damit auch seinen eigenen Hintern gerettet hatte.

Das unglückliche Ereignis entwickelte sich zu einem Spektakel. Von den umliegenden Flussufern und den beiden Brücken gafften Petersburger und Touristen, manche machten Fotos, andere beteten und wieder andere schrien einem nahenden Ausflugsboot zu, es solle aufpassen und anhalten, um die Verunglückten zu bergen. So geschah es dann auch.

Die Gefahr war gebannt und die Verunglückten wurden ans Ufer gebracht, wo eine aufgebrachte Menschenmenge wartete und nach und nach Feuerwehrkräfte, eine Polizeistreife und Medienvertreter eintrudelten.

»Ruhe!«, forderte ein betagter, dickbauchiger Polizist und zwängte sich, gefolgt von einem jungen Kollegen, zwischen Gaffern hindurch zu Koslowa, Komarow und dem verunglückten Mädchen. »Was ist hier los?«, fragte er und wurde weiterhin überhört, weil die beiden Lehrer zu sehr damit beschäftigt waren, Anna zurechtzuweisen.

Obwohl alle Anwesenden Grund genug gehabt hätten, für den glimpflichen Ausgang des Unfalls dankbar zu sein, gingen sie lieber der Frage nach, wer für die Aufregung verantwortlich war. Währenddessen kam niemand auf die Idee, dem erschrockenen und bibbernden Kind beizustehen, es zu trösten oder zu wärmen.

Stattdessen wurden Anna Sätze wie »Was hast du dir nur dabei gedacht?«, »Wie dumm kann man eigentlich sein?« und »Du bist nicht normal!« an den Kopf geworfen. Verständlicherweise war ihr zum Heulen zumute, aber anscheinend war sie nicht fähig dazu, denn alles, was sie fertigbrachte, war ausdruckslos zu ihrem Bärchen zu sehen und ihm über das pitschnasse Köpfchen zu streicheln, während ihr stumme Tränen über die Wangen kullerten.

»Nun, was ist hier los? So eine Aufregung am helllichten Tag?«, wiederholte sich der gemächliche, beinahe gelangweilte Streifenpolizist und deutete seinem Partner mit einer lapidaren Handbewegung, mit dem Absperren des Unfallortes aufzuhören.

»Ach, Herr Polizeimeister«, rechtfertigte sich die Klassenlehrerin. »Es ist alles wieder in Ordnung. Eines unserer Kinder war uns entwischt. Nun ist es aber wieder hier, putzmunter und bei bester Gesundheit.« Sie zeigte auf Anna, die gar nicht gut aussah, blass war und deren Rock, Nase und Haare tropften.

»Ojoioi! Das ist aber gar nicht gut. Ich fürchte, das müssen wir notieren. Welche Schule?«

»Aber verehrter Herr Polizeimeister, das wird doch nicht notwendig sein.« Koslowas Beteuerungen hätten nichts genützt, aber zu ihrem Glück wurde die glotzende und über die Unmöglichkeit des Geschehenen debattierende Menschenmenge von zwei Feuerehrmännern und einem ersten Kamerateam zurückgedrängt. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf eine junge brünette Reporterin mit einem roten Mikrofon, auf dem eine weiße 24 abgebildet war. Ohne abzuwarten, ergriff sie das Wort:

»Wir senden live vom Tschischik-Pyschik-Denkmal. Ein dramatisches Unglück konnte in letzter Sekunde abgewendet werden. Während eines Schulausfluges ist ein Kind in die Fontanka gesprungen und überlebte nur dank der beherzten Zusammenarbeit ihres Lehrers, der städtischen Polizei und unserer russischen Feuerwehr.« Während sie das sagte, schwenkte der Kameramann zu Anna und Komarow, die in Rettungsfolien eingewickelt wurden.

»Sollten wir nicht zuerst etwas Trockenes anziehen?«, fragte der Sportlehrer kleinlaut.

»Gleich«, winkte die Reporterin ab und richtete ihr Mikrofon auf den älteren Polizeibeamten. Ein weiteres Kamerateam und ein Fotograf trafen am Unfallort ein. »Gott schütze unsere Beamten. Was wären wir nur ohne sie? Erzählen Sie, wie konnte es zu diesem Unglück kommen?« Der überrumpelte Polizeimeister sah erst zu seinem Partner, dann zum Sportlehrer, der mit den Achseln zuckte, besann sich, stellte sich gerade hin, zog seinen Bauch ein und begann zu improvisieren, wie er es in seiner Laufbahn schon häufig getan hatte:

»Wissen Sie, wir tun nur unsere Pflicht. Das Mädchen ist in den Fluss gefallen und wir haben sie wieder herausgefischt. Das war eine Kleinigkeit. Für solche Fälle werden wir trainiert.«

»Hier Tatjana Schukowa vom fünften Kanal. Sie sind also einem Mädchen in die Fontanka hinterhergesprungen und haben Ihr Leben riskiert, um ein anderes zu retten? Stimmt das? Dann sind Sie ja ein Held!«, fragte eine zweite, blonde Reporterin, die sich mit ihrem Kameramann und aller Kraft ihrer Ellbogen an der ersten vorbeizwängte. Sämtliche Fotografen und Gaffer richteten ihre Linsen auf die Lehrer und die beiden Feuerwehrmänner versuchten sich unauffällig in den Bildhintergrund zu mogeln – mit Erfolg.

 

»Ach, das war keine große Sache, wissen Sie? Das Wasser ist ruhig und ich bin ein exzellenter Schwimmer. Es ist nur ziemlich kalt und es stinkt wie Scheiße«, sagte Komarow und merkte, dass er dieses letzte Wort nicht hätte sagen sollen. Das bemerkte auch die Klassenlehrerin, die sofort darum bemüht war, diesen unpassenden Kommentar zu kaschieren: »Wir Lehrer von der Schule Nr. 348 im Nevsky-Bezirk sind stets darum bemüht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, damit es unseren Kleinen gutgeht.«

»Lassen sie uns doch ein Gruppenfoto machen!«, rief einer der Zeitungsfotografen und bekam ein synchrones »Pscht!« von den Reporterinnen zurück.

Hinter der Gruppe aus Polizisten, Lehrern und Feuerwehrmännern stand die kleine Anuschka allein beim Brückengeländer und sah, Misha Masha fest an sich gedrückt, auf die sanft wogenden Wellen des Kanals. Hätte sie nicht zufällig in genau diesem Moment, als sich der Tumult kurz beruhigte, leise geniest, wäre sie von den Medienvertretern womöglich vergessen worden. Tatjana Schukowa aber hatte das Geräusch vernommen und bat die unglückliche Protagonistin dieses frühen Vormittages, nach vorne zu kommen.

»Wie ist dein Name, kleines Mädchen?«

Eine Antwort blieb aus.

»Gut, ich nenne dich einfach Fontanka.« Die blonde, puppenähnliche Reporterin kniete sich neben Anna und sprach mehr in die Kamera als zu dem Kind. »Wieso bist du in den Fluss gesprungen? Weißt du nicht, dass das gefährlich ist?«

Anna sagte weiterhin nichts, hob aber zögerlich ihre Misha Masha hoch und zeigte sie der Reporterin, die amüsiert tat.

»Ein süßes Bärchen hast du, aber möchtest du nicht auf meine Frage antworten?«

Anna verstand nicht, weil sie dachte, das schon getan zu haben, und schüttelte ihren Kopf.

Noch kurz schnatterten die beiden Reporterinnen in ihre Kameras, räumten dann gemeinsam mit den meisten Schaulustigen das Feld und überließen die Reste den Printmedien. Es wurden Augenzeugeninterviews geführt und Gruppenfotos geschossen, mit den mutigen Lehrern in der Mitte, flankiert von den beiden Polizisten und Feuerwehrmännern. Vor ihnen wurde das in goldene Rettungsfolie eingewickelte Kind medienwirksam platziert.

Noch am gleichen Tag war Anuschka in allen TV- und Radionachrichten zu sehen und zu hören und am nächsten Tag auch in allen Zeitungen zu bestaunen. Es war von einem tollpatschigen Mädchen die Rede, das liebevoll Fontanka genannt wurde, die Glück im Unglück gehabt und deren Lehrer eine Heldentat vollbracht hatte.

Die Protagonistin dieses Abenteuers bekam nichts von all der Aufregung mit, weil sie mit einer leichten Verkühlung im Bett lag und damit beschäftigt war, Misha Masha zu pflegen. Ihr Schock würde bald vergehen, ihr neuer Spitzname aber bleiben.

Das Fauchen einer besorgten Mutter

Die 1-c war pünktlich zur Mittagspause wieder in der Schule angekommen. Klassenlehrerin Koslowa und Sportlehrer Komarow führten die nach wie vor bibbernde Anna ins Direktorat, während die restlichen Kinder sich selbst überlassen wurden. Laut Vorschriften musste aufgearbeitet werden, was an diesem Vormittag geschehen war, und Koslowa hielt sich immer an die Regeln.

Tatsächlich hatte es einen Vorfall dieser Art bislang noch an keiner Petersburger Schule gegeben, weshalb niemand so genau wusste, was zu tun war – nicht einmal Rektorin Baranowa. Sie aber befand, dass ein solches Verhalten nicht übersehen werden durfte und erst mal die Mutter des unartigen Kindes kontaktiert werden musste.

»Wo haben wir nur die Telefonnummern der 1-c? Verfluchte Ordner«, murmelte sie in ihren penibel steif gebügelten Hemdkragen und ging nahtlos ins Schreien über: »Olga, kommen Sie doch bitte!« Nach diesem Ausbruch sank Baranowa tief in ihren Holzstuhl und atmete schwer, als ob sie eine große Anstrengung hinter sich hätte.

Aus dem Nachbarzimmer kam eine der beiden hörigen, bebrillten Sekretärinnen des Rektorats angedackelt, die sich derart ähnlich sahen, dass sie problemlos als Zwillinge durchgingen. »Ja?«

»Olga, suchen Sie mir bitte die Nummer der Mutter von Anna Smirnowa heraus, 1-c. In diesem Chaos kann man doch wirklich nichts finden. Immerhin haben Sie sich dieses System ausgedacht, dann können Sie auch«, weiter kam das Oberhaupt der Lehranstalt nicht, denn schon hielt Olga den passenden Schnellhefter in ihrer Hand.

»Bitte schön.«

Ungläubig prüfte Baranowa den Inhalt. »Gut, fürs Erste wäre das alles.« Sie wählte Feodoras Nummer, richtete ihren Blazer, schnaubte, einem Stier ähnlich, der sich auf einen Angriff vorbereitete, und wartete.

»Feodora Smirnowa.«

»Guten Tag! Hier spricht Warwara Baranowa…« Von Anfang an nahm sie einen strengen Tonfall an, um zu signalisieren, dass Feodoras Kind unartig gewesen war. Sie wollte nichts Genaues sagen, nur so viel, dass es einen Unfall gegeben habe, alle gesund und unverletzt waren, aber die Mutter bitte sofort in die Schule kommen solle, um die Angelegenheit zu besprechen und ihr Kind abzuholen, da es aufgrund des Vorfalls verschreckt und vom Nachmittagsunterricht freigestellt sei.

Ebenfalls überlegte Frau Baranowa, ob sie erwähnen sollte, dass Annas Verhalten ein Nachspiel haben müsse, da sie der Stadt Kosten verursacht habe, aber sie ließ es bleiben. Dieses Argument wollte sie sich aufheben, falls Feodora aufmüpfig werden würde.

Bisher war die Rektorin meistens gut damit gefahren, die Schuld für innerschulische Unfälle oder mutmaßliches Fehlverhalten möglichst den Schülern unterzujubeln. Ihr war zwar vollkommen bewusst, dass die Lehrer und letztlich sie für die Kinder verantwortlich waren, aber die meisten Eltern ließen sich einreden, dass ihre Kinder etwas ausgefressen hatten, was dem Direktorat eine Menge Papierkram und Ärger ersparte. Und damit diese Taktik aufging, musste sie möglichst selbstbewusst und aggressiv auftreten.

An diesem Tag aber würde sich diese Regel nicht bestätigen. Rektorin Baranowa hatte ihre Rechnung ohne Dora gemacht, mit der sie deutlich zuvorkommender gesprochen hätte, wäre ihr bewusst gewesen, mit wem sie es zu tun hatte.

Vermutlich hätte sie sogar die süßesten und beschwichtigendsten Worte gefunden, hätte sie geahnt, wer sich aufgrund ihres Anrufes vielmals bei der Büroleitung der Kanzlei Medwedew & Partner entschuldigen musste, um mitten am Arbeitstag und außerplanmäßig zur Schule fahren zu dürfen. Es war ein unbarmherziger Tornado, der sich auf den Weg zu ihr machte und der weder Verständnis noch Geduld für die Ausreden einer Direktorin hatte.

Aber da Frau Baranowa nicht wissen konnte, welches Unheil auf sie zukam, genauso wenig wie Komarow und Koslowa es wissen konnten, befanden sie es für sinnvoll und schlüssig, erst mal mit Anna zum Schularzt zu gehen. Das taten sie aber nicht, um das Mädchen auf Verletzungen untersuchen zu lassen, sondern mit der Hoffnung, dass Dr. Schtscherbakow eine psychische Ungereimtheit beim Kind diagnostizieren konnte, zumindest aber eine abnormale Verträumtheit.

Das Sprechzimmer des Allgemeinmediziners, der nicht nur für die Schüler der Schule Nr. 348 zuständig war, sondern zu bestimmten Uhrzeiten auch für Privatpatienten, befand sich im Erdgeschoss. Meistens aber, so wie jetzt, als der straßenseitige Eingang zur Praxis verschlossen und nur der innerschulische geöffnet war, drehte Schtscherbakow gelangweilt Däumchen, blätterte in Klatschblättern, die für Patienten bestimmt waren, und wartete auf verunglückte Kinder. Ein Plausch mit der Rektorin, einer Klassenlehrerin und dem Sportlehrer Komarow, mit dem der Herr Doktor auch privat ab und zu ein, zwei Wodka trank, war ihm somit sehr willkommen.

Anna wurde auf einem Stuhl platziert und musste warten, bis die vier Erwachsenen genügend höfliche Floskeln ausgetauscht hatten. Danach widmeten sie sich dem unartigen Mädchen, dem in den Mund gesehen, in die Augen geleuchtet und Temperatur abgenommen wurde. Zu viert standen sie über das Kind gebeugt, schüttelten mit den Köpfen und fragten, einer nach dem anderen, wieso es in die Fontanka gesprungen war. Eine Antwort bekamen sie nicht. Stattdessen sah Anuschka teilnahmslos zu Misha Masha, die auf ihren ausgebreiteten Handflächen saß.

»Das ist alles nur wegen diesem dämlichen Stofftier passiert«, bemerkte Komarow.

»Dieses Ding hat Anna pausenlos bei sich«, fügte Koslowa hinzu.

»Das kann doch nicht normal sein, verehrter Herr Doktor. Oder? Doch nicht in diesem Alter!«, ergänzte Rektorin Baranowa.

Der Schularzt beobachtete Anna noch ein paar Augenblicke, um sich sicher zu sein, und pflichtete seiner verdienstvollen Vorgesetzten bei. »Jaja. In der Tat, in der Tat. Hier stimmt etwas nicht. Folge meinem Finger, Mädchen.«

Anuschka gehorchte.

»Beine übereinanderschlagen. Nicht erschrecken, ich teste deine Reflexe.« Der Doktor klopfte ihr mit einem kleinen Kunststoffhammer auf das oben liegende Knie, was ihr Bein in die Höhe wippen ließ. Das amüsierte Anna und sie lächelte.

»Das findest du lustig, was?«, fragte Schtscherbakow und sie nickte. »Und du möchtest nicht verraten, weshalb du in den Fluss gesprungen bist?«

Anna hob Misha Masha und streckte sie dem Arzt entgegen.

»Ich sehe, du hast ein Bärchen, aber ich habe dich etwas gefragt. Nun?«

Anna senkte ihren Kopf und sah wieder abwesend aus.

»Herr Komarow, erzählen Sie bitte noch einmal, was passiert ist«, bat die Klassenlehrerin ihren Kollegen.

»Na, was soll ich sagen? Sie ist einfach gesprungen und ich dann hinterher. Mehr war da nicht. Es ging sehr schnell.«

»Solche Lehrer brauchen die Schulen!«, lobte Baranowa.

»Vorbildlich, vorbildlich«, bestätigte Schtscherbakow. »Nun, es ist eindeutig. Was wir hier vor uns sehen, ist ein mental zurückgebliebenes Kind. Es ist nichts Schlimmes, aber sie ist ein bisschen langsam im Kopf. Ich würde schätzen, dass sie auf dem Stand einer Vierjährigen ist.«

»Wusst ich's doch!«, freute sich die Rektorin.

»Das erklärt, wieso Anna immer so abgelenkt ist. Es ist, als wäre sie meistens sehr weit weg«, meinte die Klassenlehrerin, die glaubte, jetzt zu verstehen.

»Genau! So ist es! Die hellste Leuchte ist sie nicht und wird es auch nie sein«, schloss Schtscherbakow absichtlich harsch, damit seine Arbeitskollegen etwas zu lachen hatten, und tätschelte Annas Kopf, die starr sitzenblieb. Sie spürte, wie ihre Hände zu schwitzen begannen, dass sie kribbelten und dass ihr Herz schneller schlug, gleichzeitig bemühte sie sich, ihre Hände nicht zu verkrampfen, um Misha Masha nicht wehzutun.

Danke, sagte das Bärchen und streichelte mit einer Pfote die Finger von Anna, was sie ein wenig beruhigte.

»Was sollen wir mit ihr tun, verehrter Herr Doktor«, fragte Baranowa.

»Als Erstes müssen wir ihr dieses dumme Spielzeug wegnehmen!«, beschloss Klassenlehrerin Koslowa plötzlich gereizt und riss Anna ihre Misha aus den Händen. »Wir betreiben hier doch kein Spielzeuggeschäft, sondern eine ehrbare Schule, richtig, Frau Baranowa?«

Ahh! Hilfe! Hilfe!

Von der Grobheit ihrer Lehrerin überrumpelt, begann Anuschka bitterlich zu weinen, aber nicht, wie sie es sonst tat, stumm und ausdruckslos, sondern laut und schrill, sodass den Anwesenden die kleinen Härchen auf Nacken und Armen zu Berge standen.

Frau Baranowa kam nicht mehr dazu, ihrer Kollegin zu antworten, denn in diesem Moment betrat Feodora das Sprechzimmer, deren Herz brach, als sie ihre leidende Tochter inmitten der vier Schulbediensteten sah.

»Was ist hier los?«, fragte sie entsetzt, stürzte zu ihrem Kind, nahm es in die Arme und fragte erneut, nun mit einer sanften und besorgten Stimme, was los sei.

»Sie haben Misha Masha gestohlen«, stammelte Anna und zeigte auf ihr Kuscheltier.

»Ihre Tochter, Frau Smirnowa, ist heute in die Fontanka gesprungen«, berichtete die Schulleiterin, darauf bedacht, möglichst energisch und einschüchternd zu sprechen. »So etwas hat es bei uns noch nicht gegeben!«

»Frau Smirnowa, ich muss Ihnen leider sagen, dass ihr Kind zurückgeblieben ist…«, ergänzte Komarow, der vom vielen Lob dieses Tages beflügelt war und mitreden wollte. Seiner Art entsprechend tat er es taktlos und ungeschickt. Selbst die Rektorin, die Klassenlehrerin und der Schularzt sahen ihn unverständig an, aber der einfach gestrickte Sportlehrer begriff nicht, weshalb. Und als er seinen Mund aufmachte, um nachzufragen, was los war, da durchschnitt ihm Feodora das Wort indem sie aufstand, sich vor ihn stellte, »Pscht!« zischte und ihre geballte Faust vor seiner Nase zittern ließ. Er hielt seinen Mund und tat gut daran, nicht so Koslowa, die Anstalten machte, etwas zu sagen.

 

Mehr als ein »Aber ich bitte Sie, Frau…« brachte sie nicht heraus, denn schon war Feodora bei ihr, packte sie fest am Handgelenk, nahm Misha Masha an sich und überreichte sie ihrer Anuschka.

Jetzt wird alles gut, jetzt ist Mama da, sagte das Bärchen und zeigte den Lehrern und dem Arzt die Zunge. Anna machte es ihrem Stofftier nach, bevor sie von ihrer Mutter nach draußen auf den Flur geführt und gebeten wurde, kurz zu warten.

Als Dora wieder im Ärztezimmer war, begann ein hysterisches Geschrei, wie Anna es von ihrer Mama noch nie gehört hatte. Dem Schulpersonal wurden die Leviten gelesen, auf äußerst laute und vernichtende Art. Keiner der vier noch wenige Minuten zuvor bestens gelaunten Arbeitskollegen traute sich, Paroli zu bieten. Das rückradlose Quartett ergab sich also den Beschützerinstinkten einer furchtlosen Mutter, gegen die es ohnehin nicht ankommen konnte.

Endlich begriffen Baranowa und Konsorten, dass sie sich dieses Mal vertan hatten, dass dieses Mal eines der wenigen Male war, da sich ein Elternteil nichts einreden ließ, sondern augenblicklich verstand, dass die Führungsriege dieser Schule unfähig und charakterlos war.

Dora hielt sich nicht zurück, erklärte, dass es unerhört sei, wie in dieser Institution mit den Kindern umgegangen wurde, dass sie allesamt gefeuert werden sollten, dass es die Verantwortung der Lehrer sei, auf die Kinder aufzupassen, und nicht, diese zu verängstigen und für dumm zu befinden. Weiter versprach sie, dass ihre Anwaltskanzlei über die Schule hereinbrechen werde wie Heuschrecken über ein biblisches Dorf, wenn einer von den Anwesenden ihre Tochter noch einmal unangemessen behandeln sollte.

Feodoras Drohungen zeigten Wirkung, vor allem, weil nur sie wusste, dass sie bluffte, dass kein Anwalt ihrer Kanzlei einen Finger rühren würde, ohne bezahlt zu werden, und dass sie keinen einzigen Rubel überhatte, der nicht für Miete oder Essen draufging.

Ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte sie aus der Arztpraxis, hievte ihr Kind in ihre Arme und trug es erst nach draußen und dann den ganzen Weg nach Hause, um es zu umsorgen.

Anna war wieder ruhig geworden, weinte nicht mehr und besprach das Geschehene mit Misha Masha, und dennoch; Dora machte sich Sorgen. Sie fragte sich, wie viel eine Kinderseele ertragen konnte.