Die erste Bahn

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‚Oh Gott. Bin ich etwa ein annähernd netter Typ?‘ Der Gedanke erscheint ihm nahezu beleidigend. Doch dann wird ihm bewusst, dass die Option auch etwas für sich hat. Trotz allem, was heute geschehen ist. Oder gerade deswegen. Zumal er vorhin noch glaubte, der Penner zu sein. Und Kai hat eine Vorliebe für üppige Frauen. Auch seine Freundin hat enorm erotischen Rundungen, die seiner Definition von perfekt entsprechen. Und wie alt mochte diese Frau namens Helen sein? Anfang-Mitte dreißig? Kaum einzuschätzen, solange sie Brille und Kopftuch trägt. ‚Ihr Lächeln ist jedenfalls hübsch. Traurig irgendwie, bittersüß, aber hübsch.‘

„Es ist noch nichts geschehen“, murmelt sie. „Alles kann. Nichts muss. Es erscheint nur so unmöglich schwer.“

‚Sie weiß nicht, wie sie es anstellen soll’, vermutet Kai. Und er reagiert, ehe Skrupel ihn überkommen können. „Na ja, ich kann es Ihnen ja leicht machen.“

Sie blickt ihn irritiert an.

„Nun …“ Er grinst vielsagend. „Wir sind hier unter uns. Und Sie haben recht: Alles kann, nichts muss. Wir könnten reden. Aber wer redet schon um diese Zeit? Radiomoderatoren und Telefonseelsorge-Anrufer.“ Er stellt die Flasche auf dem Boden ab, erhebt sich von der Bank und ist froh, dass seine Beine noch Stabilität versprechen. „Wir könnten uns aber genauso gut … unterhalten.“ Er legt eine besondere Betonung in das Wort, wirft es aus wie einen saftigen Köder, dem sie bei Interesse nur folgen muss. Er nähert sich ihr. Sie weicht nicht zurück. „Ich bin sicher, wir finden etwas, womit … oder wie … wir uns gut unterhalten können. Zu zweit.“ Wenn sie Bock hat, wird sie anbeißen. Hat schon oft funktioniert. Und warum nicht mal in einer U-Bahn-Station? „Und schließlich“, fährt er fort, „weiß man ja nie, wie …“

„… so eine Unterhaltung endet“, vollendet Helen seinen Satz.

„Yeah“, grinst Kai. „Ganz genau.“

Helen löst die Hände von den Taschenträgern. „Du willst vögeln.“

Kais Grinsen wird unsicher. Eigentlich steht er darauf, wenn Frauen direkt sind. Normalerweise würde er nun ein scheinheilig charmantes ‚Wenn du mich schon so fragst‘-Schulterzucken zeigen. Aber Helen hat nicht gefragt. Sie stellte eindeutig fest. Und als sie ihre Erkenntnis wiederholt, Wort für Wort betont: „Du willst mich vögeln“, klingt darin eine Fassungslosigkeit, als sei sein Ansinnen das Abwegigste der Welt.

Dann beginnt sie zu lachen. Das Lachen schwappt förmlich aus ihr heraus. „Du willst vögeln.“ Sie wendet sich um, die Hände in die Seiten gestemmt. Die gewölbten Wände werfen ihr Gelächter zurück, das sich immer mehr steigert, als habe sie die Pointe verstanden, die die ganze Menschheit zu einem Witz macht. „Du! Mit mir!“

Helen so zu erleben ist bizarr: Verschwunden ist die schüchtern starrende Frau. Dies hier ähnelt viel zu sehr Kais eigenem Lachanfall vorhin, als er noch der einzige Hysterische in dieser Station war. Wäre dies ein Film, würde Helen in der nächsten Szene von Pflegern durch den Flur eines Irrenhauses geführt werden. Und von dem grotesken Gebaren mal abgesehen: Ihr Lachen kränkt Kai zutiefst.

„Ist ja gut!“, bellt er. „Jetzt kriegen Sie sich ein! Daraus wäre eh nichts geworden. Ich bin liiert; in einer glücklichen Beziehung.“

Abrupt erstirbt das Lachen der Frau, was die Situation noch surrealer macht. Sie setzt ihre Sonnenbrille ab, fährt sich mit der Hand über die Augen, um die Lachtränen fortzuwischen, dann über die Stirn, streift dabei ihr Kopftuch nach hinten.

Plötzlich weiß Kai wieder, was Holger meint, wenn er sagt, er spräche nie eine Frau an, die er nicht genauer in Augenschein genommen habe. Helen ist deutlich älter, als er angenommen hat. Er schätzt sie auf Ende vierzig. Ihr Haar mag einst rotblond gewesen sein, zeigt nun unverhüllt aber graue Strähnen. Ihre bisher von der Brille verdeckten Augen sind von dunklen Schatten und Krähenfüßen umrahmt. Früher dürfte sie ein hübsches Gesicht gehabt haben, eine gewisse Attraktivität schimmert durch, wirkt nun jedoch wie das Bild eines zerkratzten Spiegels. – ‚Eines Spiegels?‘ Wieso hat er an einen Spiegel denken müssen? ‚Blödsinn.‘

„Was? Lust vergangen?“, fragt Helen deutlich provokant. „Folgt nun die übliche Reaktion?“ Sie klappt die Sonnenbrille zusammen und lässt sie in ihre Tasche gleiten. „Du weißt nie, was du bekommen hast, bevor Morgensonne und Makeup-Schlieren das Kissen neben dir entzaubern.“

„Wenn Sie das sagen“, knurrt Kai. „Aber guter Spruch. Werde ich mir merken.“ Wieder verspürt er dieses leichte Zirpen oberhalb seines Genicks. Er schüttelt kurz den Kopf, um es loszuwerden, und setzt sich wortlos auf die Bank.

„Nein. Warte!“

Kai schnalzt ungehalten. „Was?“

„Du kennst mich nicht“, sagt sie leise. „Du weißt nichts.“ Helen kommt auf ihn zu. „Steh auf!“

Er gehorcht argwöhnisch.

„Berühr mich.“

Für einige Sekunden starrt er sie perplex an. Dann grinst er und hebt beide Hände. „Ouh-kay.“ Doch bevor er ihre Brüste umfassen kann, bremst Helen seine Unterarme mit erstaunlich kräftigem Griff.

„Na, was nun?“, motzt Kai. „Hüh oder Hott?“

Sie verzieht das Gesicht, missbilligend, gleichsam enttäuscht. Als habe Kai nicht gelernt, sich beim Pinkeln hinzusetzen. Und bemüht sanft, als erkläre sie es einem bockigen Kind, sagt sie: „Berühr mich hier.“ Ohne seine linke Hand loszulassen, führt sie seine Rechte über ihre Wange, schließt die Augen. „Ich will wissen, wie das ist. Wie fühlt sich das an, wenn du zärtlich bist? Spürst du etwas? Irgendetwas? Könntest du mich liebhaben?“

Kai stößt einen spöttischen Laut aus. „Lady, wenn ich Ihr Gesicht liebhaben soll, müssen Sie mit Ihrem Mund was anderes machen, als Blödsinn erzählen.“

Nahezu angeekelt schleudert sie seine Hand beiseite und wendet sich ab. „Ich hätte es wissen müssen.“

„Ich hätte es wissen müssen“, parodiert Kai mit vorgeschobener Unterlippe. „Was ihr Frauen euch immer einbildet. Ein bisschen Ei-ei-ei und dann gleich von Liebe quatschen.“

„Wer hat denn gerade noch behauptet, eine glückliche Beziehung zu führen?“, gibt die Frau zurück.

„Wir haben ein Abkommen. Wir dürfen beide, solange wir …“ Er stutzt. „Was geht Sie das überhaupt an? – Echt! Sie haben doch’n Rad ab. Erst gackern, aber dann keine Eier legen.“

„Es war ein Versuch“, hört er sie resigniert murmeln. „Nichts weiter.“

„Oh, ein Versuch, ja?“ Kai spürt, wie der Mister Hyde sich den Weg zu seiner Zunge bahnt, um sie in Besitz zu nehmen. Und er hat nichts dagegen. „Was hat Frau Doktor denn über die Testperson herausgefunden? Bin ich notgeil? Gefühlsinkompetent? Asozial? Verdammt, wo sind wir hier? Im Begattungslabor oder im Club der einsamen Herzen?“

Helen wirbelt zu ihm herum. „Warum bist du nur so …“, sie stockt, „… so wie du bist?“ Sie zeigt keinen Zorn. Was sie sagt, klingt wie eine bestätigte Befürchtung, wie ein ‚Du enttäuschst mich. Mal wieder!!!‘ Garniert mit drei Ausrufezeichen. Diesen Tonfall kennt Kai genau. Was ihn umso mehr in Rage bringt.

„Rutschen Sie mir den Buckel runter!“ Er setzt sich wieder. „Ich meine, seien wir mal ehrlich: Sie und ich, wir spielen kaum in der gleichen Liga. Ich bin heute vielleicht auch nicht gerade Anwärter auf die Meisterschaft, aber, nix für ungut, Sie kicken höchstens für die Bezirksliga. Seniorenklasse. Falls Sie überhaupt kicken.“ Er lacht bösartig auf. „Oder gekickt werden. Doch hey, kein Grund zur Trauer. Zwischen manchen Schenkeln liegt von Natur aus ein Polargebiet. Findet sich schon noch jemand. Irgendjemand. Irgendwann. In einem anderen Leben.“ Kai kannte Frauen, die an dieser Stelle heulend eingeknickt wären. Aber gegen Heulsusen ist er schon immer immun gewesen.

Helen scheint von Tränen weit entfernt zu sein. Sie mustert ihn nur verächtlich. „Gott, ich hatte vergessen, was …“

Er stöhnt auf. „Männer doch für Schweine sind?! – Oh, bitte! Echt jetzt? Das singen Die Ärzte schon. Und auf Partys singen wir Männer das mit.“

„Ich hatte vergessen, zu was du fähig bist.“

„Hey! Jetzt ganz vorsichtig!“ Genau das hat Kai gebraucht: Einen ordentlichen Schuss Spiritus auf seine lodernde Kohle. „Zum einen: Lassen Sie gefälligst das Duzen! Zum anderen: Ich bin nicht schuld an Ihren alten Geschichten, Gnädigste.“ Er merkt, wie Helen zusammenzuckt. Gut so. Er ist bereit, Mister Hyde von der Leine zu lassen. Dies hier wird eskalieren. Und es ist ihm recht. „Wissen Sie: Ich verstehe Ihr Dilemma. Wenn Zellulite erst den Pfirsich verschrumpelt, muss frau halt schauen, wie sie ihr Obst verkauft, bevor die Orange zum Bratapfel wird. Ist der Geschmack rausgelutscht, wird jedes Kaugummi eben fade. Da heißt es Würde zeigen. Vergangenes vergessen.“ Er schnappt sich die Flasche und setzt sie an.

„Vergangenes vergessen? Hübsche Idee“, hört er Helens Murmeln irgendwo hinter dem Gluckern des Korns. „Aber ich muss dir das erklären.“

Er zieht die Flasche von den Lippen. „Wowhoho! Stopp! Ich will es nicht hören! Klar? Es interessiert mich nicht, ob Ihr Blind-Date Sie in der Single-Bar versetzt hat, oder was auch immer. Ich habe meine eigenen Probleme. Dieser Tag war so übel, ich könnte kotzen, verdammte Scheiße! Dann haut mir diese Drecksbahn vor der Nase ab, obwohl dieser Nachtschicht-Wichser mich mit Sicherheit hat kommen sehen. Da draußen schüttet es wie aus Eimern, und, juchuu!, um neun muss ich an der Trauerhalle stehen. Super! Und als einzige Aussicht auf Änderung dieser ganzen Scheiße bleibt nur, demnächst …“ Ihm wird bewusst, dass er sich in seiner Rage selbst zu demontieren droht. „Ach, verflucht, die ganze Welt ist einfach nur ein Haufen Mist! Und in diesem Moment der Glückseligkeit kommen Sie und wollen mir’n Knopf an die Backe labern. Halleluja!“ Er atmet erschöpft durch. „Gehen Sie einfach, okay? Vergessen Sie all das und denken Sie nicht mehr dran.“

 

„Klingt gut.“ Helen zeigt Lächeln. Ohne jegliche Belustigung und als sei sie mit den Gedanken woanders. „Vergessen. Nicht mehr dran denken. Einfach gehen. – Als lege dir etwas diese Worte in den Mund.“ Dann rafft sie sich energisch zusammen. „Nein. Ich muss mit dir reden. Du musst zuhören.“

„Scheiße, was kommt jetzt?“, ächzt Kai. „Irgendeine Feminismus-Kacke? Das Wort zum Sonntag? Gehören Sie zu den Deppen Jehovas? Oh, bitte! Bekehren Sie einen anderen, Gnädigste!“ Nebenbei nimmt er wahr, wie Helen scharf einatmet. „Wenn es um Glaubensfragen geht, dürfen Sie mir glauben: Es gibt nichts, worüber Sie hier und jetzt mit mir reden müssen.“ Er setzt die Flasche an.

„Doch“, entgegnet sie ihm. „Genau hier und genau jetzt.“

Beinahe hätte Kai sich verschluckt. „Jetzt reicht’s.“ Er wischt sich Korn vom Kinn. Als er aufspringt, gerät er leicht ins Wanken, fängt sich aber. „Passen Sie auf, sagen wir einfach: Ich bin krank. Ja. Genau. Sehr, sehr krank. Suchen Sie sich was aus: Pest, Cholera, Rinderwahn, was weiß ich. Wenn Sie nicht für den Rest Ihres Lebens mit einer Tüte überm Kopf durch die Stadt laufen wollen, mit Pocken am Arsch und so, dann hauen Sie jetzt ab!“ Kai kommt dicht an sie heran. „Retten Sie sich! Gehen Sie in Frieden mit … wie auch immer Ihr Oberclown heißt.“ Er wedelt mit der Hand gen Rolltreppe. „Schwirren Sie ab! Tschüss.“

Helen ist zurückgewichen, aber sie wendet sich nicht um. Sie hält ihre Tasche umklammert. Nun greift sie mit der Hand hinein.

„Okay, okay.“ Kai wirft rasch die Hände in die Luft und geht ebenfalls auf Abstand. Er hat keine Lust, sich von dieser durchgeknallten Nachtschwärmerin Pfefferspray in die Visage sprühen zu lassen. Er stellt die Flasche auf den Fliesenboden, als lege er eine potenzielle Schlagwaffe ab. Ihm wird klar, dass ihm allmählich das verbale Schießpulver ausgeht und seine Stimme an Sicherheit eingebüßt hat. Ginge es hier um irgendeine Meinungsverschiedenheit, hätte er sie längst in Grund und Boden diskutiert. Aber noch nie hat er jemanden wirklich vertreiben müssen. Gewalt ist nie sein Ding gewesen. Sollte es ihm nicht gelingen, diese Frau loszuwerden … er wüsste nicht einmal, ob er überhaupt grob werden könnte. Und wenn Helen nun realisiert, dass er nur laute, aber eigentlich harmlose Knallerbsen verschießt, dann wäre es womöglich letztendlich er, Kai, der das Feld räumen müsste.

Er bemerkt, wie sie ihn im Auge behält. Dann zieht sie die Hand wieder aus der Umhängetasche. Ohne Pfefferspray oder Taser oder ähnliches. Als habe sein Zurückweichen und Innehalten sie umgestimmt. ‚Also gut‘, denkt Kai. ‚Dann Feuer frei aus allen Rohren! Aber schön auf Abstand bleiben.‘

„Wissen Sie, wenn ich Ihnen sage: Sie gehen jetzt besser, dann bedeutet das ganz viel. In unserem Fall“, er biegt mit dem Zeigefinger der Rechten seinen linken Daumen gerade, „dass Sie sich ganz banal fortbewegen sollen, mit dringlicher Betonung auf fort.“ Er streckt den Zeigefinger. „Außerdem: Dass ich Sie ganz entschieden loswerden, Ihre Gegenwart in dieser versifften Halle nicht verlängert sehen möchte, und“, fährt er mit Hilfe des Mittelfingers fort, „dass mir Ihr Wohlbefinden am Herzen liegt. Letztendlich aber ist es ein ganz banaler Appell.“ Er beugt Daumen und Zeigefinger wieder in die Faust, der Mittlere bleibt gestreckt. „Verpissen Sie sich!“, brüllt er sie an. „Entfernen Sie sich von diesem Bahnsteig! Ich will weder zuhören, geschweige denn reden. Nicht mit Ihnen oder sonst wem. Nicht über die Zukunft, nicht über Gott und die Welt, schnöden Mammon oder sonstigen Scheiß. Ich trage mein Kreuz selbst. Es ist mein Leben, meine Zukunft und meine Seelenkrise. Die Leute, denen ich meine Verderbtheit anvertraue, suche ich mir selbst aus und ich versichere Ihnen: Sie gehören nicht dazu. Ich könnte allerdings mein Sündenkonto erheblich belasten, wenn ich in drei Minuten noch irgendetwas von Ihnen hier unten sehe, höre oder auch nur rieche. Dass das klar ist: Ich werde es nicht sein, der das Feld räumt und sich da draußen den Arsch abfriert. Sie wären nicht die erste Frau, die von mir Prügel bezieht. Verstehen Sie das nicht als Drohung. Ich möchte das nicht tun. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Aber ich will später sagen können, dass ich Sie gewarnt habe, bevor ich Sie die Treppe hoch getreten habe. In Notwehr. Bevor Sie mir psychischen Schaden zufügen. Da oben werden Sie vielleicht vom Blitz getroffen, vielleicht ertrinken Sie auch im Rinnstein oder werden überfahren. Möglich. Aber ich versichere Ihnen: All das sind hinnehmbare Alternativen im Vergleich zu dem, was Ihnen hier passieren wird, wenn Sie weiter bleiben und mich vollschwafeln. Soweit klar? Dann Abmarsch! Die Zeit läuft. Und los!“

Helen wendet sich tatsächlich ab, als wolle sie gehen. Sie bebt am ganzen Körper. Kai will schon frohlocken, hat die Flasche wieder vom Boden aufgenommen, um das zurückeroberte Territorium zu feiern, da dreht sie sich erneut um.

„Falscher Kurs, Gnädigste!“, ruft er sofort. „Immer hübsch da lang. Nächste Station: Schillerplatz. Diese Richtung, etwa zwei Kilometer. Der Spaziergang lohnt sich und ist ohne blaue Flecken viel leichter zu ertragen. Das Prinzip ist wirklich sehr einfach: Ich will und werde bleiben; Sie möchten und sollten verschwinden.“

„Um Wollen oder Möchten geht es nicht“, presst Helen hervor.

„Meine Fresse!“ Kai stößt einen wütenden Laut aus. Allmählich macht es ihm Mühe, seine Verzweiflung zu verbergen. „Spreche ich Gälisch oder Suaheli, oder was?! Hören Sie, Ihre Hartnäckigkeit, mich bekehren zu wollen, ist ja irgendwie ganz schmeichelhaft für mich, aber …!“

„Das ist es ganz und gar nicht!“ Die Worte knallen durch die Station und lassen Kai abrupt verstummen. „Ich will dich nicht bekehren. Ich werde dir nur dieses eine Mal die Zeit stehlen. Damit vermeide ich eine ganze Menge Konsequenzen. Dir, mir und allen anderen.“ Sie zieht das Tuch von ihrem Hals und stopft es in die Tasche.

„Lassen Sie endlich diese Duzerei!“ Kai merkt, wie seine Stimme deutlich an Kraft verloren hat. „Für wen halten Sie sich?“

„Ich sorge dafür, dass wir uns in Zukunft nie wieder duzen werden, Kai Trollmann.“

„Verdammt, woher …?“ Plötzlich verspürt er wieder dieses unangenehme Zirpen in seinem Hinterkopf, nur ungleich heftiger als bisher. Für einen Moment verschwimmt sein Blick. „Woher wissen Sie, wie ich …?“ Nur schemenhaft sieht er, wie sie den Arm aus der Tasche zieht und etwas in der Hand hält.

„Mein Name ist Helen Trollmann.“

Sein Blick wird wieder klar. Er starrt in die Mündung einer Waffe.

„Und ich werde dich erschießen.“


Manchmal macht die Zeit ein Foto fürs Archiv. So eine Momentaufnahme kann die Dauer von Sekunden haben. Dennoch können während dieser winzigen Zeitspanne unter Umständen Welten zerstört werden, weil Erkenntnisse jäh wie Kometen einschlagen und alles weitere Leben mit einer giftigen Aschewolke bedeckt wird. Solch einen Schnappschuss betrachtet man besser aus der wohltuenden Distanz, die wir Erinnerung nennen und stets in Vergangenheitsform passiert.

*klick.*

Kai überlegte. Er überlegte, wie wenig überlegen er sein konnte, während er überlegte, und die Zeit wie zäher Teer durch diese Misere tropfte.

… Er hatte keine Ahnung von Schusswaffen. Er wusste, dass Kaliber den Durchmesser von Projektilen und Waffenläufen normierte. Sein Freund Holger kannte sich als technisch versierter Fan von Handfeuerwaffen weit besser mit all dem aus. Wenn er seine Steckenpferde mit Beretta, Glock oder Walther benannte, dann verstand Kai nur Bahnhof. Vier Fakten waren ihm allerdings bekannt: Erstens, dass man es tunlichst vermeiden sollte, vor einer Mündung zu stehen und, zweitens, in eine Mündung zu schauen, besonders, wenn man, drittens, nicht wusste, ob ein Projektil den Lauf füllte, denn ein solches vermochte, viertens, eine unschöne, oft irreparable Verzierung in die Lebenshülle zu stanzen. Nun wurde ihm jäh eine fünfte Tatsache klar: Wenngleich Kaliber-Einheiten in Millimetern benannt wurden, so sah eine Mündung von vorne betrachtet aus wie ein Arschloch, das viel größer wirkte, als es Millimeter bemessen könnten. Und er wollte auf keinen Fall, dass aus diesem Stahlanus etwas herauskam …

… Kai überlegte, dass er sich nie von der allgemeinen Panik hatte anstecken lassen, welche nach den Anschlägen des 11. Septembers drei Jahre zuvor von der Weltbevölkerung Besitz ergriffen hatte. Dass dschihadistische Terroristen auch deutsche Städte als Anschlagsziele ins Auge fassen könnten, hielt er zwar nicht für komplett ausschlossen, aber in den Diskussionen, die er mit Holger führte (der im Übrigen gerne für jede Paranoia zu haben war, wenn sie dem aktuellen Zeitgeist entsprach), hatte Kai immer argumentiert, dass diese Al-Kaida-Fritzen, so wahnsinnig sie auch sein mochten, ordentlich einen an der Murmel haben müssten, wenn sie sich ausgerechnet diese Stadt für einen Anschlag aussuchten. Was sollten sie Wichtiges bombardieren oder in die Luft jagen? Eine McDonald’s-Filiale? Einen Starbucks? „Beschwer dich nur nicht, wenn du mehr Särge auf den Friedhof schleppen musst“, war das Einzige, was Holger noch erwidert hatte. Was für ein Blödsinn! Diese Stadt war weder von kultureller noch international politischer Wichtigkeit. Natürlich gab es hier kriminelle Delikte, dennoch hatte Kai sich nie Gedanken darüber machen müssen, wie er reagieren würde, wenn plötzlich jemand in seiner Nähe eine Schusswaffe zog. Und die Frau, die hier nun mit beiden Händen eine sehr real wirkende Pistole auf ihn richtete, entsprach keinem der aktuellen Feindbilder. Sie war keine Bin-Laden-Anhängerin, kein Junkie, keine Räuberin, sondern eine füllige, unmaskierte Frau, die bisher vielleicht etwas meschugge, aber nicht komplett verrückt gewirkt hatte. Und die sich alles andere als behaglich fühlte, wenn er das Zittern des auf ihn gerichteten Pistolenlaufs nicht missdeutete.

… Kai überlegte weiter und irgendein wirrer Gedankengang führt ihn zu Rehen und Hasen. Er hatte mal eine Tier-Doku gesehen in der erklärt wurde, dass der Fluchtinstinkt jedem Wesen angeboren sei. Hasen schlagen Haken und Karnickel flüchten in den Bau. Rehe allerdings bringen Scheinwerfer nicht mit einem sich nähernden Auto und unmittelbarer Gefahr in Verbindung. Sie werden geblendet und durch diesen Tunnelblick verschwindet die Umgebung aus ihrer Wahrnehmung …

… Kais Verstand schien sich von seinem Körper getrennt und in die Schatten seines Hinterkopfes verzogen zu haben, redete zu ihm mit einer Stimme, die klang, als sei er auf Diazepam:

‚Ich bin ein verdammtes Reh mit Tunnelblick.‘

‚Ja. Dabei ist der Tunnel da vor mir nicht mal ein Scheinwerfer.‘

‚Wäre ich ’ne Kuh, könnt man mich jetzt einfach so umschubsen.‘

‚Ich sollte ein Hase sein, oder?‘

‚Ja, Hase sein wäre jetzt echt gut.‘

‚Bin ich aber nicht. Ich bin Kai Trollmann. Hat die Frau da gerade gesagt.‘

‚Woher kennt sie meinen Nachnamen. Habe ich ihr den genannt?‘

In diesem Moment rastete irgendetwas in Kais Kopf wieder ein.

‚Ey, diese Schlampe hat sich selbst Trollmann genannt.‘

Plötzlich setzte die Gegenwart wieder ein.

Es ist 00:52 Uhr.

„Trollmann?“, sagt er, ohne sich in den vergangenen Sekunden mehr als eine Kalibereinheit bewegt zu haben. Er hört die Benommenheit in seiner Stimme. „Sie heißen genau wie ich?“

Die Frau, die sich Helen Trollmann genannt hat, hält die Waffe weiterhin mit gestreckten, verkrampft bebenden Armen auf den jungen Mann gerichtet.

Kai hebt die gespreizten Hände. Da er die Flasche in der Rechten hält, umklammert er sie mit Daumen und Zeigefinger und bringt Onkel Otto in bedenkliche Schräglage. „Damit ich Ihnen zuhören kann, müssen Sie etwas sagen“, bringt er mühsam hervor. „Das ist Ihnen klar, oder?“

Die Frau schweigt. Sie rückt die Füße etwas weiter auseinander.

„Wollen … wollen Sie behaupten, zu meiner … Familie zu gehören? Warum kenne ich Sie dann nicht?“

 

Die Frau schweigt. Die Umhängetasche droht ihr von der Schulter zu gleiten.

Kai lässt den Blick abschweifen. Das ist leichter, als in diese Mündung zu schauen. „Hören Sie“, sagt er sehr langsam und sucht die Luft nach Worten ab. „Ich habe eine Flasche Wein intus. Zuzüglich dem, was hier drin fehlt. Mein Gehirn ist etwas angeduselt, mein Gedächtnis … vielleicht … ein wenig beeinträchtigt. Wenn ich diese SCHEISSE …“

Beide schreien unwillkürlich auf. Kai duckt sich. Die Tasche ist Helen in die Armbeuge gerutscht und stemmte mit einem Ruck den Pistolenlauf nach unten. Eine Eruption, die leicht einen Schuss hätte auslösen können. Als Kai sich wieder aufrichtet, sieht er, wie die Frau die Zähne zusammenbeißt, als wolle sie den Schreck zerknirschen. „Verdammt, legen Sie das verfluchte Ding weg!“, brüllt er.

Natürlich meint er die Waffe. Doch mit einer schroffen Bewegung schüttelt sie die hinderliche Tasche vom Arm auf den Boden. Dann legt sie die Hand sofort wieder um die andere, die den Pistolengriff wie eine Faust umklammert.

Kai versucht zu schlucken, doch seine Kehle ist staubtrocken. „Wenn ich das hier begreifen soll“, formuliert er heiser, „will ich gerne mein Bestes tun. Aber dafür müssen Sie mir ein paar Informationen liefern.“

„Wie sich Wünsche ändern“, sagt Helen und es ermutigt ihn nicht sonderlich, dass ihre Stimme zittert. „Eben hast du mir dafür noch Prügel angedroht.“

„Nun … im Angesicht dieser Mündung fällt eine entspannte Konversation recht schwer.“ Er schafft einen Schritt, vielmehr ein Schlurfen in Helens Richtung. „Wenn ich Ihnen dieses Ding abnehmen dürfte, dann …“

„Finger weg!“, bellt sie.

„Okay, okay!“ Er reißt die Hände so schnell hoch, dass Onkel Otto in der Flasche über seinem Kopf gluckert. Er zieht den Fuß zurück und kann selbst nicht glauben, dass ihm ein fahriges Grinsen gelingt. „Hey, diesen einen Versuch müssen Sie mir zugestehen. Ich will nur sagen, es wäre alles viel leichter, wenn Sie dieses Ding irgendwo, auf den Boden, oder woanders … Ich werde nicht fliehen. Ehrlich.“

„Du würdest ausweichen“, sagt Helen. Ihre Kiefermuskeln arbeiten.

Kai bemüht sich, Helens Worte auszuwerten, aber seine Gedanken schlagen Kapriolen. Langsam führt er die Flasche zum Mund. Eine reine Verlegenheitstat. ‚Wäre ich ein Goldhamster, würde ich jetzt anfangen, mich zu putzen.‘ Der Alkohol brennt in seiner Kehle. Aber er wacht nicht aus diesem Alptraum auf.

„Hey“, bringt er schließlich hervor. „Ich glaube, wir hatten einen ziemlich miesen Start.“ Er fuchtelt unbeholfen mit der freien Hand. „Das kommt vor. Na ja, es war dummes Gerede. Wie wäre es also, wenn wir einfach alles vergessen. Ich nehme zurück, was ich …“

„Ich kann das nicht vergessen!“ Ihre Stimme hallt durch die Station. „Und du kannst nichts zurücknehmen!“

„Schon gut!“ willigt Kai hektisch ein. „Ich bin sicher, dass man Ihnen irgendwie … also, ich meine, es gibt doch Lösungen. Für alles und so. Sie müssen nur reden. Und Sie wollen ja reden. Haben Sie gesagt. Also, bitte, reden Sie. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ausgerechnet ich, also, es gibt da ganz fähige Therapeuten, die …“

„Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln!“, keift sie. Die Waffe in ihren Händen zuckt vor wie der Kopf einer schnappenden Giftschlange.

„Nein, tu ich nicht!“, kreischt Kai. Panik und Zorn lassen seine Stimme kieksen. „Okay! Reden Sie. Und ich höre zu. Zuhören ist prima. Supermethode. Hilft enorm. Und ich hab Zeit. Die ganze Nacht. So lange, wie Sie wollen.“ Seine Stimme schwillt an. Er stampft mit dem Fuß auf, um seine Anspannung loszuwerden. „Aber halten Sie in drei Teufels Namen Ihren Finger da still! Denn, verfickte Scheiße, ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Sie mich mit jemandem …!“

„Verwechseln?!“

„Ja doch!“

„Ganz sicher nicht!“

„Herrgott nochmal?! Was denn sonst?! Es gibt keinen Grund, mich zu erschießen! Ich habe Sie noch nie in meinem Leben gesehen!“

Und mit einem Male flaut der Sturm ab. Kais Echo hallt noch eine Sekunde lang nach. Dann verebbt der Klang.

„Das stimmt“, sagt Helen schließlich. Sie hält die Waffe gesenkt, aber noch mit beiden Händen vor sich. „Und dennoch kenne ich dich besser, als dich je irgendjemand kennen wird. Ich muss das hier tun.“

Kai fällt es immer noch schwer, diese surreale Situation zu erfassen. Ihm ist, als sei er auf einer Eisscholle erwacht, ohne zu wissen, wie er dort hingelangt ist. Und die Temperatur lässt erahnen, dass er zur Mittagszeit am Äquator entlangtreibt. „Ookaay“, dehnt er und macht eine beschwichtigende Geste, bückt sich, stellt die Flasche auf den Boden und richtet sich wieder auf. „Sie … kennen mich also?“

Helen nickt.

„Nun, das ehrt mich … womöglich. Aber – und glauben Sie mir bitte, dass es mir wirklich leidtut, Ihnen das gestehen zu müssen“, er formt die Hände zu einem Trichter: „Ich! Kenne! Sie! Aber! Nicht!“

Helen bleibt tatsächlich ruhig. Ihre Miene zeigt nur eine Art mitleidige Genervtheit. „Oh, bitte, erspare mir deinen theatralischen Sarkasmus.“

Kai ballt die Fäuste. „Verdammt nochmal!“, knurrt er verzweifelt. „Es liegt doch auf der Hand, dass diese Scheiße irgendein Irrtum ist. Eine Verwechslung. Ein verficktes Missverständnis. Weiß der Henker, für welchen Kai Trollmann Sie mich halten. Ich bin sicher nicht der einzige mit diesem Namen. Und wenn Sie mich mit diesem Ding da …“ Er stößt einen wütenden Schrei aus. „Scheiße! Am Ende bin ich versehentlich übern Jordan und ehe Sie sich versehen, sind Sie versehentlich lebenslang im Knast. Das sind mir zu viele Versehen, verstehen Sie? Und wenn Sie …“

„Du bist Kai Michael Trollmann“, unterbricht ihn Helen mit klarer Stimme. „Geboren am 29. September 1981, derzeit dreiundzwanzig Jahre alt. Deine Mutter starb, als du zehn warst. Danach entwickeltest du dich zum Problemkind. Während der Schulzeit fielst du etliche Male durch undiszipliniertes Verhalten auf. Aber immerhin: Mit neunzehn schafftest du dein Abitur. Wenngleich mit Ach und Krach. Obwohl jeder wusste, allen voran du selbst, dass du leicht mit Bravour hättest abschließen können. Ein Jahr lang lagst du untätig deinem Vater auf der Tasche. Dann zwang er dich, den Hintern hoch zu kriegen. Du hast ein Studium begonnen: Literaturwissenschaft. Nach drei Semestern hast du umgesattelt. Germanistik. Immerhin für vier Semester.“ Sie löst eine Hand von der Pistole, hält mit der anderen aber weiter den Lauf auf Kai gerichtet. „Lernen ist nichts für dich. Du willst den Kopf für deine Poesie frei haben, wie du sagst. Also nimmst du an Poetry-Slams teil. In der hiesigen Szene bist du eine Art Lokalmatador geworden. Du giltst als Talent. Dein alter Herr nennt deine Texte minderwertiges Geseiere. Er hat dich vor die Tür gesetzt. Seitdem schlägst du dich mit Gelegenheitsjobs durch: Parkplatzwächter, Einkaufswagenschieber, Sargträger. Du wohnst in einer billigen Reihenhauswohnung am Stadtrand. Unterm Dach. Mit schimmeligen Wänden, abschüssigem Boden und defekten Leitungen.“

Kai kann nur vermuten, wie dämlich er in diesem Moment dreinschaut. „Welches Arschloch hat Ihnen das alles erzählt?“

„Jemand, der mir oft genug unter die Nase gerieben hat, wie dankbar man sein müsse, wenn es einem gut gehe.“

Als ihn eine Ahnung überkommt, braust der junge Mann mit einem Wutschrei auf. Helen umgreift die Waffe wieder mit beiden Händen, aber Kai bemerkt es kaum. „Der Alte hat Ihnen das gesteckt. Er schickt Sie, stimmt’s?“, knurrt er durch gefletschte Zähne und rammt Helen den Zeigefinger entgegen. „Sagen Sie dem Knauser, er kann mich mal! Seine Vasallen, die mag er herumscheuchen und schikanieren, wie er will. Seine Büroaffen und Spediteure und was da alles um ihn herumkreucht. Ich schaffe es auch ohne ihn. Weiß er eigentlich, dass ich neulich für einen meiner Texte einen Literaturpreis erhalten habe?“

„Möglich.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Tut aber nichts zur Sache. Er missbilligt deinen Plan, vom Schreiben leben zu wollen. Du weißt das und fühlst dich dennoch als Sieger, dem sich nun natürlich alle Türen öffnen werden.“

Kai blinzelt verwirrt, da sie seine üblichen Worte parodiert. „Ja-a. Und das wird auch so sein!“, schnauzt er in einem mauligen Ton. „Was soll ich mich denn anstrengen, wenn …?“