Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts

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cc) Technische Entwicklung

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Nicht nur auf die wirtschaftliche, sondern auch auf die technische Entwicklung hat der Gesetzgeber – egal, wie er zu den Neuerungen steht[86] – zu reagieren,[87] wobei er regelmäßig[88] „hinterherhinkt“.[89]

Um diesem Problem entgegenzuwirken, ohne in einer hohen Frequenz die rechtlichen Regelungen novellieren zu müssen (was der Rechtssicherheit abträglich wäre), wird häufig auf private Regelwerke entsprechender Fachverbände zurückgegriffen.[90] Hierfür hält das Recht an vielen Stellen entsprechende Öffnungsklauseln vor: so sind etwa bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes „der Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen“ (§ 4 ArbSchG) und gem. § 57 Nr. 1 WHG darf „eine Erlaubnis für das Einleiten von Abwasser in Gewässer […] nur erteilt werden, wenn die Menge und Schädlichkeit des Abwassers so gering gehalten wird, wie dies bei Einhaltung der jeweils in Betracht kommenden Verfahren nach dem Stand der Technik möglich ist […]“. Der Begriff des „Stands der Technik“ ist dabei im WHG in § 3 Nr. 11 sowie im BImSchG in § 3 Abs. 6 mittels Legaldefinition näher umschrieben und ausdifferenziert, weshalb er insoweit bereits normativiert ist.

dd) Kultur und Zeitgeist

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Bewusst wird als nächster denkbarer Gegenstand einer Abhängigkeit des Rechts von lebensweltlichen Umständen ein zum Teil von Gegensätzen geprägtes Begriffspaar gewählt: Zwar verbindet die Begriffe „Kultur“ und „Zeitgeist“ die Tatsache, dass sie eine Form von gesellschaftlichem Konsens beschreiben; während aber Kultur ein Phänomen zeitlicher Konstanz beschreibt,[91] ist das zentrale Wesensmerkmal des Zeitgeistes sein steter Wandel.[92] Ob eine bestimmte gesellschaftliche Anschauung aber dem einen oder dem anderen Phänomen unterfällt, kann nur bei einer Beobachtung über längere Zeit beurteilt werden. Eine rechtserhebliche Entscheidung – sei sie rechtssetzender oder rechtsanwendender Natur – kann jedoch immer nur auf eine Momentaufnahme ihrer gesellschaftlichen Umwelt zurückgreifen. Aus diesem Grund rechtfertigt sich eine gemeinsame Darstellung.

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Die Gegenüberstellung zumindest des Kulturbegriffs mit dem Recht mag insoweit verwundern, als das Recht häufig als Teil der Kultur einer Gruppe[93] bzw. als „Kulturerscheinung“[94] angesehen wird. Insoweit fungiert das Recht allerdings in erster Linie als Spiegel der gesellschaftlichen Anschauungen; denn kulturelle Vorstellungen wirken als Motivation für die Rechtssetzung. Dies gilt gleichermaßen für die grundlegenden Fragen der Staatsgestaltung[95] (weshalb die Verfassungslehre teilweise als Kulturwissenschaft bezeichnet wird)[96] wie auch im Bereich des einfachen Rechts: So ist beispielsweise das Eherecht in Europa stark vom Christentum geprägt.[97] Aber auch auf nur vorübergehende Veränderungen im Werte- und Rechtsbewusstsein der Bevölkerung hat die rechtssetzende Instanz – in der repräsentativen Demokratie nicht zuletzt aus einem Selbsterhaltungsinteresse heraus – regelmäßig zu reagieren.[98]

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Aber auch im Bereich der Rechtsanwendung sind kulturelle und zeitgeistliche[99] Einflüsse (über diejenigen, die bereits durch die Einwirkungen kultureller Ideen auf das Rechtssetzungsverfahren in die Abfassung der Norm eingegangen sind, hinaus) denkbar, sofern das Recht entsprechende Möglichkeiten vorhält.[100] Exemplarisch genannt sei an dieser Stelle das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“.[101] Rechtfertigung erhält die Berücksichtigung weltanschaulicher Entwicklungen dabei insbesondere durch das Demokratieprinzip.[102]

ee) Moral

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Das Verhältnis von Recht und Moral gehört zu den umstrittensten rechtsphilosophischen Problemen und ist einer dogmatischen Untersuchung kaum zugänglich. Ausgehend von der rechtspositivistischen These einer Trennbarkeit von Recht und Moral stellt sich zunächst die Frage nach dem maßgeblichen Abgrenzungskriterium. Konsequent zu dem zugrunde gelegten Rechtsbegriff handelt es sich dabei (zumindest in erster Linie) um den Zwangscharakter des Rechts.[103]

Moralische Erwägungen beeinflussen bereits den Prozess der Rechtssetzung, weil politische Ansichten immer auch zum Teil moralisch geprägt sind.[104] Aber auch die Rechtsanwendung ist an vielen Stellen der Rechtsordnung für sittliche und moralische Einflüsse offen: So sind etwa gegen die guten Sitten verstoßende Rechtsgeschäfte gem. § 138 Abs. 1 BGB nichtig, und „[d]as zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete kann nicht zurückgefordert werden, […] wenn die Leistung einer sittlichen Pflicht […] entsprach“ (§ 814 Var. 2 BGB).

ff) Zeit

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Die Zeit ist ein den übrigen bisher genannten Bereichen der Lebenswirklichkeit nur schwer vergleichbares Phänomen. Eine „Akzessorietät“ zwischen Recht und Zeit ist konstruktiv als solche nicht denkbar, weil diese keine Sätze mit bestimmter Aussage formuliert. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Zeit im Recht keine Rolle spielte: Die Existenz von Fristberechnungsvorschriften macht dies ebenso deutlich wie etwa das strafrechtliche Rückwirkungsverbot oder das strafprozessuale Beschleunigungsgebot[105].

gg) Sprache

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Für die Sprache gilt zunächst dasselbe wie für das eben zur Zeit Gesagte: Da Sprache selbst keine Sätze im Sinne normativer Verhaltensvorgaben formuliert, kann keine „Akzessorietät“ im hier verstandenen Sinne zwischen Recht und Sprache bestehen. Dennoch besteht eine enge Beziehung: „Recht existiert nur mit der Sprache“[106]; die Rechtskultur ist ein Teil der Sprachkultur.[107] Die Sprache ist das Medium, mit der Menschen ihre Welt erfassen[108] und dementsprechend auch das Mittel, um rechtliche Inhalte zu transportieren.[109] Andere Möglichkeiten hierzu stehen dem Normgeber nicht zur Verfügung.[110]

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Schwierige Fragen in Bezug auf das Verhältnis von Recht und Sprache entstehen unter anderem im Zusammenhang mit der Differenzierung von Alltagssprache und juristischer „Fachsprache“[111]. Hier findet sich häufig die Forderung, der Gesetzgeber solle „alltägliche Begriffe“ verwenden; häufig liege es nahe, „daß der Normgeber [einen rechtlichen Begriff] in der üblichen Weise verstanden hat und verstanden wissen sollte“, wenn auch diese Vermutung wiederlegbar sei.[112] Der Gesetzgeber solle „denken als Philosoph und sprechen als Bauer“.[113]

Dem stehen jedoch gewichtige sprachphilosophische Gründe entgegen: Der Normgeber möchte zwar eine bestimmte Bedeutung vermitteln, verwendet hierzu aber Begriffe. Beides ist strikt zu trennen: Ein Begriff hat lediglich verweisenden Charakter; er steht symbolisch für eine bestimmte Bedeutung.[114] Welche Bedeutung dies allerdings ist, ergibt sich bei sprachlichen Begriffen nicht automatisch aus dem Begriff selbst, sondern aus dem Kontext seiner Verwendung.[115] Ob etwa z.B. mit dem Begriff „Band“ ein Textilstreifen oder eines von mehreren zusammengehörigen Büchern gemeint ist, ergibt sich erst aus dem Zusammenhang, in dem der Begriff auftaucht. Ebenso ergibt sich erst aus dem Satzkontext, ob mit „Gericht“ eine Speisenzubereitung oder eine rechtsprechende Institution bezeichnet wird. Dieses Phänomen der Mehrdeutigkeit von Begriffen wird als Äquivokation bezeichnet.[116]

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Hinzu kommen weitere Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Bedeutung eines Begriffs. So kann beispielsweise die Art und Weise der Konstruktion zweier Begriffe identisch sein, diese Parallelität sich aber nicht auf die Bedeutungsebene erstrecken. Dies möge ein Beispiel veranschaulichen: Während die „Feuerwehr“ das Feuer bekämpfen bzw. vor diesem schützen soll, so soll die „Bundeswehr“ gerade den Bund und nicht vor dem Bund schützen.[117] Selbst Präpositionen können in unterschiedlichen Satzkonstruktionen unterschiedliche Bedeutungen haben; auch die Verwendung des Plurals eines Begriffes wirkt sich nicht immer identisch auf dessen Bedeutung aus.[118] Wort und Satz bedingen sich gegenseitig.[119]

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All diese Eigenheiten von Sprache gelten auch für Normtexte. Erst aus dem komplexen Zusammenspiel eines Begriffs mit seinem Kontext ergibt sich seine Bedeutung.

Demnach kann – jedenfalls grundsätzlich – dem „Alltagsverständnis“ eines Begriffs bestenfalls indizieller Charakter bei der Bedeutungsfindung zukommen.[120] Die Bedeutung eines Normbegriffs lässt sich nicht isoliert von der Norm bestimmen. An diesem Phänomen kann auch der Normgeber selbst wenig ändern.[121] Bringt er sein Begriffsverständnis zwar im Normgebungsverfahren zum Ausdruck, nicht aber im Gesetzestext selbst, so ist dies für den Rechtsanwender nicht bindend.[122] Die einzige Möglichkeit für den Normgeber, die juristische Begriffsbildung zu erleichtern, ist die Verwendung von Legaldefinitionen. Zwar setzen sich auch solche aus Begriffen zusammen, die ihrerseits auslegungsbedürftig sind.[123] Nichtsdestotrotz sind sie jedenfalls dem Grunde nach zur Präzisierung geeignet. Aufgrund des Vorrangs des Rechts sind sie auch bindend für den Rechtsanwender und stärken somit die Gewaltenteilung.

c) Zwischenergebnis

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Akzessorietät des Rechts zu außerrechtlichen Gegenständen grundsätzlich möglich ist; in Bezug auf die Politik ist sie sogar zwingend, wenn auch der Einfluss der Anschauungen des ursprünglichen Gesetzgebers durch den Wegfall der Prämissen seiner Anschauungen in der Umwelt oder die Aktivität eines späteren und politisch anders ausgerichteten Gesetzgebers schwinden kann.

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Bezüglich aller anderen Lebensbereiche kann eine Akzessorietät des Rechts nur durch das Recht selbst hergestellt werden. Dies kann zum einen negativ geschehen, indem das Recht bestimmte Bereiche insoweit nicht erfasst, weshalb zur Entscheidungsfindung in der „Rechts“-Anwendung Rückgriff auf außerrechtliche Erkenntnisse genommen werden muss. Zum anderen kann ein Akzessorietätsverhältnis positiv durch die Normierung einer hier sog. „Öffnungsklausel“ begründet werden. Solche Öffnungsklauseln finden sich in allen Rechtsbereichen und für alle Wirklichkeitsbereiche. Sie liegen immer dann vor, wenn der Normgeber unmissverständlich deutlich macht, dass ein rechtsautonomes Begriffsverständnis ausnahmsweise nicht möglich ist bzw. gerade nicht gebildet werden soll, etwa wenn auf die „Gebräuche des Handelsverkehrs“ Bezug genommen wird. Nicht zwangsläufig eine Öffnungsklausel liegt hingegen vor, wenn eine Norm einen extrem offenen Begriff (wie z.B. „unbefugt“) verwendet. Ein solcher Begriff ist aufgrund des Vorrangs des Rechts zunächst durch Rechtswertungen auszufüllen. Erst wenn dies nicht möglich ist, darf auf außerrechtliche Sätze zurückgegriffen werden. Damit wird nicht nur dem Rechtsstaatsgedanken, sondern auch dem Demokratieprinzip Rechnung getragen.

3. Die Akzessorietät des Rechts zum Recht

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Als zweiter möglicher Gegenstand eines rechtlichen Akzessorietätsverhältnisses kommen neben den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen auch andere Rechtssätze in Frage.

a) Gesetzliche Verweisungen (i.w.S.)

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Ein solches Verhältnis besteht offenkundig jedenfalls an den Stellen, an denen gesetzliche Vorschriften selbst unmittelbar auf andere Rechtsnormen Bezug nehmen – auf welche gesetzgebungstechnische Art und Weise das auch geschehen mag. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn § 331 Nr. 3a HGB sich auf vorstehende Regelungen des HGB bezieht. Nichts anderes gilt auch beispielsweise im Falle von § 283b Abs. 1 Nr. 3 StGB, der Verletzungen der Buchführungspflicht „entgegen dem Handelsrecht“ sanktioniert. Hier bestehen keine Zweifel an einer grundsätzlichen (Rechts-)Akzessorietät der betreffenden Norm.

b) Weitergehende Rechtsakzessorietät kraft eines übergeordneten Prinzips der „Einheit“ bzw. „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“

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Verwenden Rechtsvorschriften etwa hingegen Begriffe, die sich auch in anderen Regelungszusammenhängen finden, ist die Frage, ob und ggf. inwieweit die Auslegung der beiden Begriffe sich aneinander zu orientieren hat, nicht mehr so leicht zu beantworten. Dasselbe gilt für die Frage, ob die Aussage einer Rechtsvorschrift über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens nur unter dem Blickwinkel eines bestimmten Rechtsgebiets sich auch zwangsläufig auf die übrigen Rechtsgebiete erstrecken muss.

Derartige rechtsgebietsübergreifende Regelungsmechanismen setzen einen übergeordneten allgemeinen Grundsatz voraus, aus dem sie sich ableiten lassen. Ein solches Systemdenken wurde unter vielfältigen Oberbegriffen diskutiert;[124] wohl am häufigsten finden sich in diesem Zusammenhang die Topoi der „Einheit der Rechtsordnung“[125] , der „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“[126] und der „Folgerichtigkeit der Rechtsordnung“[127].[128]

Die Begriffe der „Einheit“ und der „Widerspruchsfreiheit“ (bzw. „Widerspruchslosigkeit“) der Rechtsordnung werden teilweise synonym verwendet, teilweise aber auch differenziert: Unter „Einheit“ der Rechtsordnung wird zusätzlich die äußere Geschlossenheit und/oder die Lückenlosigkeit[129] der Rechtsordnung verstanden; die Widerspruchslosigkeit stelle insofern nur einen „Ausfluss“ der Einheit der Rechtsordnung dar.[130] Wenn im Folgenden der Begriff der „Einheit der Rechtsordnung“ verwendet wird, dann in dem engeren Sinne, der bei Vertretern einer differenzierenden Begriffsbildung als „Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung“ bezeichnet wird.

Neben den terminologischen Unterschieden besteht auch inhaltlich keine Einigkeit,[131] was die Befassung mit der Thematik zusätzlich erschwert. Die Behauptung Canaris“, der Gedanke der „Einheit der Rechtsordnung“ gehöre „zum gesicherten Bestand rechtsphilosophischer Einsichten“[132], kann jedenfalls als widerlegt bezeichnet werden;[133] es handelt sich keineswegs um ein „nahezu unbestrittenes Dogma“[134].

aa) Die Figur der „Einheit der Rechtsordnung“ in Wissenschaft und Rechtsprechung

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„[J]eder Schriftsteller stellt sich etwas anderes [scil. unter der Einheit der Rechtsordnung] vor“[135], stellte Karl Engisch bereits 1935 fest. An diesem Zustand hat sich bis heute nichts geändert;[136] vielmehr hat das Problem sich verschärft. Hieraus erklärt sich, dass teilweise aus dem (vermeintlich selben) Argument gegenteilige Ergebnisse gewonnen werden.[137]

Wird in Literatur und Rechtsprechung oder sogar auch in Parlamentaria[138] der Topos der „Einheit der Rechtsordnung“ oder einer der Parallelbegriffe verwendet, findet regelmäßig keine inhaltliche Auseinandersetzung statt, was darunter zu verstehen ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, sondern er wird schlagwortartig zur Untermauerung der eigenen Argumentation herangezogen[139].[140] Doch auch unter den Autoren, die sich näher mit dem Phänomen der Einheit der Rechtsordnung befassen, besteht bereits dahingehend Uneinigkeit (oder es wird erst gar nicht thematisiert), ob es sich um ein vorgegebenes Faktum handelt oder einen Zustand, den es durch rechtswissenschaftliche Methoden herzustellen gilt. Unklar ist weiterhin, woraus sich ein solcher Grundsatz herleiten lassen könnte. Soweit er als verfassungsrechtliches Postulat begriffen wird, besteht zudem keine Klarheit darüber, ob (nur) der Rechtsanwender oder auch (bzw. sogar ausschließlich) die rechtssetzenden Instanzen adressiert werden.

Nachfolgend wird der Versuch unternommen, die Meinungsvielfalt einer Systematisierung nach Strömungen zu unterziehen:

(1) Einordnung

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Die wichtigste, aber meist vernachlässigte Frage bei einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Einheit der Rechtsordnung ist, ob man es als vorgegebenen Rechtszustand oder als rechtswissenschaftliche Methode versteht.[141] Deutlich wird dies etwa auch bei Karsten Schmidt, wenn er in der Überschrift seines Beitrags zur Einheit der Rechtsordnung die Fragestellungen „Realität?“ und „Aufgabe?“ gegenüberstellt.[142] Neben diesen beiden Extrempositionen existiert auch eine Vielzahl von Kombinationsansätzen, die beide Beschreibungsmöglichkeiten des Phänomens miteinander verbinden.

(a) Einordnung (ausschließlich) als bestehender Zustand

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Der Gedanke, dass das Recht eine organische Struktur bildet, die innere Widersprüche selbst auflöst, fand sich vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Vertretern der historischen Rechtsschule:

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So sprach etwa Friedrich Karl von Savigny zunächst noch von der den mannigfaltigen Erscheinungsformen des Rechts „innewohnende[n] Einheit“, die durch wissenschaftliche Methodik aufzusuchen sei.[143] Später revidierte er allerdings seine Auffassung insoweit und ging zu einem Kombinationsansatz über.[144]

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Ebenso behauptete Karl Friedrich Eichhorn eine Einheit des deutschen Rechts.[145] Die deutschen Partikularrechte stünden in einem „inneren Zusammenhang“, weshalb eine Regel, die sich auf die „Gemeinschaft des Ursprungs“ gründe,[146] also aus dem Partikularrecht abgeleitet werden konnte, auch in den Bereichen zur Geltung kommen sollte, in denen es an einer entsprechenden positiv-rechtlichen Regelung fehle.

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Stark von Savigny beeinflusst[147] ging auch Georg Friedrich Puchta davon aus, dass „[d]ie einzelnen Rechtssätze, die das Recht eines Volkes bilden, […] in einem organischen Zusammenhang unter einander [stehen], der sich zuvörderst durch ihr Hervorgehen aus dem Geist des Volkes erklärt, indem die Einheit dieser Quelle sich auf das durch sie Hervorgebrachte erstreckt.“[148] Es sei „Aufgabe der Wissenschaft, die Rechtssätze in ihrem systematischen Zusammenhang, als einander bedingende und von einander abstammende zu erkennen […].“[149] Allerdings begibt sich Puchta in die Nähe eines Kombinationsansatzes, wenn er im Folgenden von der „Wissenschaft als dritte[r] Rechtsquelle“ spricht.[150] Aufbauend auf die Ausführungen Puchtas zeichnet auch Rudolph von Jhering das Bild einer objektiv-idealistischen Rechtseinheit,[151] wobei deren Konsistenz mit Blick auf andere seiner Äußerungen mit guten Gründen bezweifelt werden kann.[152]

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Ein spätes Wideraufleben der Idee einer Einheit der Rechtsordnung als dem Recht immanenter Zustand findet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Felix Somló:[153] Aus dem „unumstößlich[en] allgemeine[n] Grundsatz, daß die Normen einer Rechtsordnung nur in ihrem systematischen Zusammenhange, also nur als ein Ganzes verstanden und gedeutet werden können, nicht aber aus diesem Ganzen herausgerissen einzeln, jede Norm für sich“[154], folge, „daß es in einer Rechtsordnung eigentlich keine Widersprüche geben“ könne.[155] Widersprechen könnten sich „nur die grammatischen Sätze, in denen die Rechtsnormen zum Ausdruck gebracht werden.“[156] Es könne daher nur „Widersprüche […] im Rechtstext, nicht aber in der Rechtsordnung“ geben.[157]

(b) Einordnung (ausschließlich) als Postulat

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Weithin wird – teilweise verbunden mit expliziter Ablehnung einer Einordnung als Axiom – unter dem Topos der Einheit der Rechtsordnung ein Postulat verstanden, das es auf wissenschaftlichem Wege zu erfüllen gelte.[158] So sei die Einheit der Rechtsordnung „nicht Realität im Sinne eines vorgegebenen Zustands“, müsse aber „als ein dialektischer Prozeß, als ständiges Bemühen, Auseinanderstrebendes zusammenzuhalten, […] gegenwärtig bleiben.“[159] Es könne „[a]ngesichts der Erfahrungen von kollidierenden und fehlenden Normen [die Einheit der Rechtsordnung] nur ein Postulat sein […].“[160] Die „Behauptung der Einheit der Rechtsordnung [scil. als Zustand]“ sei „unhaltbar“,[161] allerdings unterstehe „der Gesetzgeber dem Gebot der Widerspruchsfreiheit“.[162]

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Anders argumentiert Eugen Ehrlich: Der Rechtssoziologe lehnt unter praktisch-pragmatischen Gesichtspunkten den Gedanken ab, der Gesetzgeber sei als ein zeitloses Ganzes zu betrachten und könne deshalb nur einen Willen bilden.[163] Das Gesetzesrecht sei „brüchiges, armseliges Menschenwerk.“[164] Gesetze könnten immer nur individualisiert in Bezug auf ihren konkreten Schöpfer ausgelegt werden und nicht in einem konstruierten Wechselspiel der Normen.[165] Daher fehle es an einer vorfindlichen Einheit des Rechts; vielmehr sei eine solche erst durch den es anwendenden Juristen im Wege der Rechtsfortbildung zu schaffen.[166]