Der Blick in den See

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Eine andere interessante Idee besteht darin, dass die Externalisierung eines Gedankens im Sinne eines optischen oder akustischen Reizes ja auf mich zurückwirkt: Ich sehe, was ich schreibe – ich höre, was ich gerade selbst sage. Ich spüre, dass mein Herz schneller schlägt, während ich rede. Ich höre mein Zittern in der Stimme. Indem ich etwas von mir gebe, wirkt es quasi in Form eines Reizes, der durch eine weitere Wahrnehmungsschleife läuft, auf mich zurück.52 Es ist jedenfalls – nach allem, was wir jetzt schon über das Gehirn wissen – eher unwahrscheinlich, dass etwas, das ich ausdrücke, an mir selbst sang- und klanglos vorbeigeht. Wahrscheinlicher ist sogar, dass die Wahrnehmung des eigenen externalisierten Gedankens verstärkend wirkt. Wie stark die Wirkung dieses Effekts ist, kann ich allerdings nicht beurteilen – noch dazu, weil die Wirkung mit Sicherheit individuell variiert. Was dieser Gedanke auch nahelegt ist, dass mir mein Gehirn im Akt der Externalisierung eine „fokussierte Aufmerksamkeit“ schenkt.

Möglich ist auch, dass die Intention der Versprachlichung mich zu inneren Ordnungsprozessen zwingt, welche der Versprachlichung selbst vorangehen.53 In der Praxis von Therapie und Kommunikationstraining gibt es einige Begriffe, die hier andocken: ➔ Dialog des inneren Teams und ➔ intrapersonelle Kommunikation sind nur zwei davon.

All dies sind Hinweise – keine Beweise, dass es sich tatsächlich so verhält. Aber Hinweise reichen möglicherweise aus, der Spur zu folgen und das Zusammenwirken von Gedanken und Sprache weiterhin zu erforschen.

So what: Erlebnisorientierte Neuropädagogik?

Wozu dieses Kapitel? Im Grunde geht es um einen neuen Vorschlag, Erlebnispädagogik zu betrachten – diesmal aus der Perspektive einer relativ jungen, naturwissenschaftlichen Disziplin. Gleichzeitig scheint es so, als würden uns auch genau durch diesen (möglicherweise unbeholfenen) Versuch, der EP ein Fundament zu geben, Grenzen aufgezeigt: Die der erlebnispädagogischen Arbeit in gleichem Maße wie jener Idee, auf der Basis neurowissenschaftlicher Erkenntnisse eine eigene Didaktik oder gar Pädagogik aufzubauen. Denn wie bereits gezeigt, sucht sich das Gehirn selbst heraus, was es lernt. Und wofür es sich entscheidet, hängt maßgeblich mit der individuellen Geschichte (und den daraus resultierenden spezifischen Verschaltungen) des einzelnen Menschen zusammen. Es bleibt aber anzuzweifeln, dass wir im Regelfall so hochgradig individualspezifisch arbeiten können, dass wir über den zu erwartenden Lerneffekt Vorhersagen machen könnten. Darum wird die Erlebnispädagogik so rasch keine neuen und genialen neurodidaktischen Konzepte entwickeln, sondern weiterhin eine aus neurowissenschaftlicher Perspektive eher oberflächliche, dafür jedoch funktionierende Praxis gestalten.

Umgekehrt konnte ich mich bei der Recherche zu diesem Kapitel nicht des Eindrucks erwehren, dass die Neurowissenschaften überwiegend erforschen und beschreiben. Pädagogisch oder didaktisch neuartige Konzepte, welche die gängige erlebnispädagogische Praxis radikal verändern würden, habe ich bislang nicht gefunden. Die universelle Neurodidaktik oder Pädagogik kann es vermutlich auch gar nicht geben – mit diesem Ansinnen würde die Gehirnforschung der Komplexität, Wandelbarkeit und Vielfalt ihres eigenen Forschungsgegenstandes nicht gerecht. So ernüchternd dies zunächst anmutet, so entlastend ist es auch, denn es nimmt allen Beteiligten den Erfüllungs- oder Beweisdruck. Der interdisziplinäre Fachdiskurs bleibt fruchtbar: Wir Erlebnispädagogen können mit Hilfe der Gehirnforschung immer wieder darüber nachdenken, was wir da eigentlich gerade tun und wie wir es tun. So entrinnen wir vielleicht der Versuchung, unsere Arbeit nur über unsere Erfahrung zu begründen. Den Neurowissenschaftlern hingegen mag es vielleicht ein Ansporn für neue Gedankenentwicklungen sein, dass hier Leute stehen, welche die berechtigte Frage stellen: „Und was machen wir jetzt mit all diesen Erkenntnissen praktisch?“

Viele Fragen sind und bleiben offen. Ein paar kleine Anregungen fanden sich vielleicht in diesem Kapitel – welches keine Reise und keine Expedition sein konnte, sondern lediglich ein erlebnispädagogischer Ausflug in die Neurophysiologie.


Modell erlebnispädagogischer Prozessplanung

Unser Team arbeitet prozessorientiert – so wie es auch unsere Definition von Erlebnispädagogik einfordert. Prozessorientiertes Arbeiten bedeutet nicht, keinen Plan zu haben. Es bedeutet auch nicht willkürlich irgendwas zu machen und zu schauen, was passiert. Prozessorientiertes Arbeiten bedeutet einen dauernden Abgleichprozess vom eigenen Vorgehen mit den in der Gruppe beobachtbaren Prozessen. Das ist ein wenig wie beim Segeln mit dauernd wechselnden Windverhältnissen – ein laufendes Korrigieren des Kurses durch Veränderungen an Segel und Steuer. Und diese Kurskorrektur richtet sich nach dem, was tatsächlich gerade passiert. Man stellt sich also darauf ein, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. (Was nicht heißt, dass nicht auch das Ziel während der Fahrt ein anderes werden kann.) Diese Metapher lässt sich noch weiter ausbauen und weiterspinnen – zunächst möchte ich es aber dabei belassen.

Das im Folgenden dargestellte Prozessplanungsmodell wurde von uns entwickelt um zwei Dinge zu zeigen:

1 Wie entwickeln wir überhaupt ein erlebnispädagogisches Programm, wenn sich Prozesse nicht antizipieren lassen? In der Praxis müssen wir ja schließlich trotzdem ein Programm planen!

2 Was bedeutet Prozessorientierung für uns?

Das Modell soll dabei einen Denkvorgang abbilden, der in der Praxis natürlich oft viel unstrukturierter passiert. Oftmals handeln wir intuitiv – und verstehen erst hinterher (in der eigenen Reflexion), warum wir so oder anders gehandelt haben. Ich möchte es zweimal an Hand von Beispielen durchgehen – einmal bezogen auf einen Makroprozess und einmal bezogen auf einen Mikroprozess.

Die Schritte bleiben dabei immer annähernd die selben:

 Pädagogisches Richtziel in den Blick nehmen (1)

 Das Prozessziel der aktuellen Situation anvisieren (2)

 Über eine sinnvolle Intervention oder ein Medium nachdenken (3)

 Prüfen der Rahmenumstände hinsichtlich Intervention oder des Mediums. Spezifizierung der Anwendungsanforderungen (4)

 Entscheidung für die spezifische Intervention (5)

 Vorausblick: Was geschieht danach?

 Anwendung der Intervention/des Mediums

 Erneute Überprüfung Richtziel und Prozessziel (6)

 Erneutes Nachdenken über sinnvolle Intervention oder Medium (3)

siehe hierzu die Grafik „Erlebnispädagogische Prozessplanung“


Praxisbeispiel Prozessplanung 1: Dialog des Leitungsteams bei einem neuen Auftrag

Mart: „Also, wir haben das Projektteam, dass sich aus zwei unterschiedlichen Teilgruppen zusammensetzt plus einem Projektkoordinator. Oftmals arbeiten die Unterteams getrennt voneinander und der Projektleiter steht nur über E-mail in Verbindung mit den Teilprojekten. Praktisch alle Mitarbeiter des Projekts haben in den Zielfindungsfragebögen angegeben, dass sie das Gefühl hätten, es gäbe verdeckte Konflikte und man rede aneinander vorbei, weil noch kein Gefühl für das Gesamtteam da sei. Nehmen wir also mal so was wie besseres Verständnis füreinander, Kennenlernen der Anderen, Entwicklung eines Wir-Gefühls, Verbesserung der Kommunikationsstrukturen und (ich rate mal!) der Kommunikationsweise als Richtziel und große goldene Endvision am Horizont… Wie fangen wir an?

Rebekka: „Ich finde, wir sollten uns die Zusammenarbeit erst mal ansehen um zu schauen, wie komplex die Kommunikation wirklich ist. Möglicherweise macht der Umweg über die Koordinationsstelle Schwierigkeiten.“

Mart: „Oder wir haben eine Ungleichverteilung von Kompetenzen. Oder es gibt (sehr wahrscheinlich sogar) zwei unterschiedliche Kulturen. Oder der Koordinator ist überengagiert oder steht unter Druck und das wirkt sich auf die Strukturen aus.

Was soll also am Anfang passieren?“

Rebekka: „Wir machen irgendwas strukturähnliches mit viel Aufforderungscharakter in unterschiedlichen Teilgruppen. Irgendwas, wo sie viel miteinander kommunizieren müssen und sich so richtig in die Haare kriegen. Floßbau, Pipeline, so was in der Art. Zwei Gruppen, eine Koordinationsstelle und Kommunikation nur über Funk. Damit versuchen wir die Alltagssituation möglichst nah abzubilden. Ggf. machen wir Zwischenreflexionen um zu schauen, welche Parallelen erkennbar sind. Wie weit ist denn der See weg?“

Mart: „Ich war an der Stelle schon mal. Floßbau geht da total gut. Material müsste halt früh genug oben postiert werden.“

Rebekka: „OK, wenn wir in der Situation feststellen, dass Floßbau gerade noch gar nicht passt, weil es eine Überforderung darstellt oder was immer, was machen wir dann?“

Mart: „Dann machen wir Pipeline – dazu müssen wir dann noch mal über die Regeln schauen – und Floß mit anderer Fokussierung später.“

Rebekka: „OK, wir erzählen ihnen also, dass wir eine Situation kreieren, die dem Arbeitsalltag gewissermaßen ähnlich ist… Irgendeine inhaltliche Fokussierung?“

Mart: „Sie sollen darauf achten, was ihnen von Vorgehensweise in Planung und Organisation bekannt vorkommt und sollen „Stop!“ schreien, sobald sie etwas Störendes registrieren?“

 

Rebekka: „Dann kommen wir möglicherweise gar nicht voran. Nee, die sollen einfach nur darauf achten, was ihnen bekannt vorkommt, und wir machen auf jeden Fall eine Zwischenreflexion. Brauchen wir da irgendwelche Absprachen zwischendurch?“

Mart: „Können wir ja schnell machen – wir sind ja nur optisch getrennt – sonst sind wir ja nicht weit auseinander. Ansonsten unterbricht einfach derjenige von uns den Prozess, wenn er denkt, jetzt sei es nötig.“

Rebekka: „Irgendeine besondere Reflexionsmethode?“

Mart: „Weiß ich nicht. Kann ich bei der Gruppe nicht sagen. Im Vorgespräch waren die alle sehr kommunikationsbedürftig. Braucht glaube ich viel klare Struktur, damit das nicht ausufert. Lass uns je nach Bedarf den Reflexionsblumentopf oder den Würfel verwenden – wenn’s ganz chaotisch läuft, nehmen wir die Reflexionsschleife.“

Rebekka: „Oder Positionieren zu Aussagen.“54

Mart: „Oder das, ja, das wird auf jeden Fall intensiv. “

Rebekka: „OK – Das Team hat mit Hilfe der Koordinationsstelle zwei gleiche Flöße gebaut, Kommunikation lief über Funk, es gab vermutlich Unstimmigkeiten – zumindest wäre es verwunderlich, wenn nicht – wir haben zwischenreflektiert, die Gruppe hat mit Hilfe der Ergebnisse weitergemacht, die Flöße funktionieren, wir machen eine Abschlussreflexion – mit welcher Fragestellung?“

Mart: „Was war jetzt besser als vorher und wie können wir konkret dafür sorgen, dass es weniger Reibungsverluste in Planungsphasen gibt? Wir sollten da einen Flipchart haben um die Ergebnisse zu dokumentieren.“

Rebekka: „Machen wir aber da unten am See.“

Mart: „Ortsnah – ja klar.“

Rebekka: „Wo steht die Gruppe danach?“

Mart: „Die braucht erst mal Kaffeepause. Wir dürfen übrigens nicht vergessen, dass die Leute noch nicht so lange zusammenarbeiten und es einige Wechsel gegeben hat – die haben also vermutlich noch keinen angemessenen Raum für Konflikte gehabt.“

Rebekka: „Na, da werden sie in den drei Tagen noch genug Gelegenheit haben. Aber Kaffeepause ist gut – vielleicht müssen die sich auch einfach in informellem Rahmen besser kennen lernen. Wie wäre danach etwas zum Runterkommen – irgendwas mit viel Wertschätzung und so?“

Mart: „Ich hoffe, das wird mir nicht zu nett. Mir wäre wichtig, dass die Teilnehmer über Ihre Fähigkeiten und die Ressourcen des Teams etwas erfahren – vielleicht in Form von einer Steckbriefwand à la >Meine Macken – meine Stärken – meine Wünsche<?“

Rebekka: „Wäre mir noch zu früh. Ich glaube, wir brauchen nach dem Floßbau erst mal etwas, was die Gruppe wieder stabilisiert.“

Mart: „OK. Dann erst mal eine Weitschätzungsrunde – und dann? Mal was Normales zwischendurch? Lagerbauen, Feuerholz sammeln und so?“

Rebekka: „Würde ich die Gruppe fragen. Wir können ihnen das vorschlagen, wenn sie noch platt vom Floßbau sind. Wenn noch Energie da ist, würde ich mit dem Programm weitermachen. Irgendein kleines Teamtask?“

Mart: „Balltransport könnte ich mir an der Stelle gut vorstellen – das ist intensiv aber nicht so hochdynamisch. Oder aber wir machen eine >Was-ich-im-Team-schon-immermal-sagen-wollte-Runde< nach Schulz von Thun.“

Rebekka: „Das beißt sich aber mit der Wertschätzungsrunde. Das wird dann zu viel. Statt dessen, Ok. Also wir schauen dann, was davon am besten passt. Dann ist der erste Tag auch schon bald rum. Irgendein besonderer Tagesabschluß?“

Mart: „Irgendeine Nachtaktion zum Genießen für den Einzelnen – nur für die, die wollen.“

Rebekka: „Und dann kommt der nächste Tag. Wenn wir jetzt noch mal auf das Richtziel schauen – passt das bislang? Wenn alles so läuft wie gedacht, hat der erste Tag der Gruppe dann was gebracht?“

Mart: „Wir müssen auf jeden Fall flexibel genug sein um spontan alles umzuwerfen, falls sich plötzlich ein anderes Thema ergibt.“

Rebekka: „Machen wir doch sowieso immer.“

Wie an Hand dieses Beispiels ersichtlich wird, ist die Planung von Programmen ein Balanceakt zwischen „Wir müssen einen Plan haben, was wir machen.“ und „Wir können erst in der Situation entscheiden, was wir gerade brauchen und was den Prozess voranbringt.“ Es ist ein Dilemma, dass gemäß aller Theorie Prozesse nicht antizipierbar sind, wir aber so tun müssen, als seien sie es, um handlungsfähig zu bleiben. Rein prozessorientiertes Arbeiten gleicht einer Art Dauerimprovisation, die viele Methoden im Handwerkskoffer braucht.

Das Prozessplanungsschema hilft uns dennoch immer wieder, uns durch eine Planungssituation zu hangeln, weil es den ständigen Querbezug zwischen Medien und Absicht herstellt. Auf diese Weise wird das Schaffen von Isomorphien vereinfacht.55 Im zweiten Beispiel wollen wir nun zeigen, wie sich Teile dieses Schemas innerhalb eines laufenden Prozesses bemerkbar machen.

Praxisbeispiel 2: Dialog des Leitungsteams bei der Übung Blindflug


Blindflug

(Bei dieser Übung muss die Gruppe mit verbundenen Augen eine in mehrere Teilabschnitte aufgeteilte Strecke nur mit Hilfe von Erinnerungen an bestimmte Geländemerkmale ablaufen. Im Vorfeld hatte die Gruppe sehend eine bestimmte Vorbereitungszeit um sich die Strecke einzuprägen.)

Mart: „Jetzt wissen die beiden Vorderen den Weg nicht mehr.“

Rebekka: „Sie beraten sich – meinst Du, sie machen weiter?“

Mart: „Wir warten noch ab – was machen wir, wenn sie noch weiter in die falsche Richtung laufen? Die finden nicht mehr zum letzten Schild zurück.“

Rebekka: „Wir bieten Ihnen einen Deal an? Zurück zum letzten Schild und dafür 5 Minuten Zeitabzug?“

Mart: „Warte mal – da tut sich was. Die drehen um! Wir warten noch ab?“

Rebekka: „Mal schauen, wo sie als nächstes hinlaufen. Siehst Du die hinteren zwei? Die trauen der Führung nicht mehr, so selbstständig, wie die herumtasten – das sieht man total deutlich!“

Mart: „Auf welches Thema richten wir nachher die Reflexion aus?“

Rebekka: „Warte mal kurz. (Zur Gruppe) Ok. Leute – Leider seid Ihr gerade auf dem besten Weg Euch weiter zu verfransen – wir bieten Euch den Deal an, Euch zurück zum letzten Schild zu bringen – gegen 5 Minuten Zeitabzug.“

Aus der Gruppe: „Wie viel Zeit haben wir denn noch?“

Rebekka: „Na, allmählich müsst Ihr Euch schon anstrengen. Aber 5 Minuten Zeitabzug sind schon noch drin.“

(In Wirklichkeit haben wir bereits gnadenlos überzogen. Die Zeit ist längst überschritten, aber wir wollen den spannenden Prozess nicht abbrechen. Darum auch die vage Aussage. Die tatsächliche Zeit ist für den Prozess bei dieser Übung vollkommen unerheblich – viel interessanter ist der Umgang der Gruppe mit dem vermeintlichen Zeitdruck. Die Gruppe wird nun blind zum letzten Schild geführt – eine Stimmung zwischen Verwirrung, Erleichterung und Diskussion entsteht. Die Gruppe einigt sich darauf, dass nur die vordersten Personen sprechen dürfen, damit die Konzentration in der Gruppe höher ist.)

Mart: „Auf welches Thema gehen wir in der Reflexion?“

Rebekka: „Das hier sieht nach ziemlichen Unstimmigkeiten zwischen Fremdbildern und Selbstbildern aus.“

Mart: „Stimmt. Die Alphas sind gerade mit vollem Elan ins Gemüse gelaufen, während die stille Tine vorhin alle langsam aber vollkommen sicher zur nächsten Station geführt hat. Hätte sicher von denen auch niemand geglaubt, dass sie das packt.“

Rebekka: „Wobei der Thomas ihr das auch am Liebsten schon wieder aus der Hand genommen hätte. Der hat das kaum ausgehalten, mal nicht an vorderster Position zu sein – vermutlich tut er sich auch mit dem Blindsein schwer. Aber es ist gut, dass wir vorhin nicht interveniert haben.

Mart: „Das ist gut – ich war mir nicht sicher, ob ich nicht hätte unterbrechen sollen…“

Rebekka: „Bloß nicht! Hey, was passiert denn jetzt?“

Mart: „Die beraten sich.“

Rebekka: „Nicht schon wieder!“

Mart: „Gegen Beratung ist doch nichts zu sagen!“

Rebekka: „Ja, aber gegen solch ausufernde Diskussionen, bei denen diejenigen am lautesten diskutieren, die den Streckenabschnitt am wenigsten kennen.“

Mart: „Vielleicht haben sie eine gute Strategie?“

Rebekka: „Wenn sich die Beratung anfängt im Kreis zu drehen, machen wir etwas Zeitdruck. “

(Die Beratung fängt an in unproduktive Gefilde abzugleiten, die Teilnehmer reden aneinander vorbei.)

Mart: „Also Leute, Ihr habt noch drei Stationen vor Euch und noch 12 Minuten Zeit. Wir bieten Euch jetzt zwei Dinge an: Wir richten Euch gegen zwei Minuten Eurer Zeit auf das nächste Schild hin aus – Alternative: Wir stoppen die Zeit und sprechen kurz – ohne die Augenbinden abzunehmen – über Eure Strategie. Alternative Nummer 3: Ich gebe Euch einen Tipp. Was hättet Ihr gerne?

(Die Gruppe entscheidet sich gegen eine Zwischenreflexion und für den Tipp.

Die Frustration ist bei einigen gerade schon ziemlich hoch – einige haben „innerlich gekündigt“, andere sind verwirrt, aber noch voller Tatendrang.)

Mart: „Also hier mein Tipp. Ihr seid an der Stelle, an der Ihr jetzt steht, schon einmal gewesen. Zwei von Euch haben sich sogar besondere Mühe gegeben, diese Stelle zu erforschen.“

(Streng genommen ist dieser Hinweis ein vollkommen nutzloser Tipp, aber der Effekt funktioniert: Es tritt eine Denkbewegung ein, zwei aus der Gruppe schreien laut auf: „Jetzt weiß ich, wo wir sind!“ Die Gruppe macht voller Elan weiter.)

Rebekka: „Meinst Du, es ist gut, wenn sie’s schaffen?“

Mart: „Jetzt gerade würde ich nicht abbrechen. Das nächste Schild finden sie. Aber wenn sie’s danach nicht packen, machen sie sich im Anschluss nur noch selbst was vor. Schauen wir mal.“

Rebekka:„Welche Reflexionsmethode nehmen wir?“

Mart: „Lass uns den Blumentopf nehmen.“

(Die Gruppe jubelt, das nächste Schild ist gefunden worden. Im Anschluss daran steigt die Motivation noch. Aber durch unsere vorher angekündigte Zeitangabe und weil wir nicht wollen, dass die Gruppe zu stolz auf ihre eher magere Leistung ist, müssen wir einen Dämpfer setzen. Außerdem fängt die Gruppe bereits wieder an, sich nicht an die selbst gesetzten, eben besprochenen Regeln zu halten.)

Mart: „Hört mal kurz bitte her. Aaaalsoo: Eure Zeit ist leider abgelaufen – ihr habt die Aufgabe nicht innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen geschafft. Ihr könnt jetzt, wenn Ihr wollt:, die Aufgabe trotzdem noch fertig machen – es ist aber so, dass die Rahmenbedingungen aufgrund verschiedener Faktoren in der Gruppe definitiv nicht erfüllt wurden. Das werden wir uns auf jeden Fall anschauen müssen. Darum jetzt an Euch die Frage: Wollt Ihr weitermachen oder sollen wir an dieser Stelle abbrechen?“

(Eine kurze Diskussion entsteht, die Gruppe beschließt weiterzumachen.

Wir beschließen, den Prozess strikt abzubrechen, wenn sich die Gruppe ab jetzt nochmals richtig verfranst.)

In diesem Beispiel lässt sich hoffentlich erkennen, wie komplex prozessorientiertes Arbeiten ist. Ständig muss man sich die Frage stellen: Intervenieren oder laufen lassen? Wenn intervenieren, dann wie? Entspricht das, was jetzt gerade beobachtbar ist dem Prozessziel? Wie reflektieren wir das anschließend? Reflektieren wir das überhaupt? Welche Frage kann die Gruppe weiterbringen? Wie ging es Einzelnen und wie müssen wir darauf eingehen? Am laufenden Band treffen Erlebnispädagogen Entscheidungen. Auch die Entscheidung NICHTS zu tun hat Einfluss auf den Prozess.

 

Oftmals reibt sich eine Gruppe gerade daran, dass die Leitung zwar da ist, ihr aber weder mit Tipps noch mit Abbruch der Aktion aus der Situation heraus hilft, sondern mit Engelsgeduld alle Konflikte und Reibereien mitträgt.

Doch was hat dieses Kapitel mit Reflexion zu tun?

Mit den Beispielen möchte ich folgendes zeigen: Wenn man durch die Brille der Prozessorientierung schaut, die Komplexität von Gruppenprozessen erkennt und sieht, wie viele Entscheidungen andauernd getroffen werden müssen, dann liegt auf der Hand, dass es auch praktisch keine Vorplanung von Reflexion geben kann!

Weder, ob es überhaupt eine angeleitete Reflexion gibt (oder man sie den Teilnehmern selbst überlässt), noch ob es eine verbale oder nicht-verbale Reflexion ist, noch welche spezifische Methode man einsetzen wird, noch welche Frage die beste ist, lässt sich vorher planen. Denn woher sollte man das wissen können, bevor man den Prozess beobachtet hat? All diese oben genannten Entscheidungen bzgl. der Reflexion lassen sich zumeist erst zwei Minuten vor Beginn der Reflexion selbst fällen, so dass es gerade noch reicht, das dazu benötigte Material zu holen und sich mit der Gruppe in den Kreis zu setzen.

Wenn wir also durch die Prozessorientierung gezwungen sind ad hoc zu entscheiden, was haben wir dann in der Hand um gut und sinnvoll zu entscheiden?56 Im zweiten Teil des Buches wollen wir einen Blick darauf werfen, was unsere diesbezüglichen Entscheidungen beeinflusst.

1 Ich begegne hiermit der Aufforderung von Heckmair und Michl, die in ihrem Bestseller „Erleben und Lernen“ zu weiteren Definitionsversuchen angeregt haben. Die erlebnispädagogische Fachdiskussion kann m.E. nur mittels neuer solcher Versuche weitergehen.

2 Vgl. Senninger 2000 S. 15

3 Meyer-Gantenbein 2000 S. 16

4 Bedacht 1994 in „erleben und lernen 5/94“, S. 13. Im Folgenden werde ich immer wieder Quellen aus der Zeitschrift „erleben und lernen“ aus den 90er Jahren anführen, da sie die Originalquellen darstellen, auf die in der erlebnispädagogischen Literatur meist verwiesen wird.

5 Vgl. ebd., S. 13.

6 Senninger 2000, S. 8.

7 Selbstverständlich weist die erlebnispädagogische Literatur neben diesen beiden weitere Definitionen von Erlebnispädagogik auf, in denen jedoch in der Regel o.g. Aspekte zu finden sind und die in Ergänzung dazu einzelne weitere Aspekte aufführen. Vgl. Heckmair & Michl 2004, S. 101 f.

8 Meier-Gantenbein 2000, S. 59.

9 Ebd., S. 60.

10 Brischar u.a. 1996 zitiert nach Meier-Gantenbein 2000, S. 59.

11 Ebd. S. 59

12 Darauf weist allein schon der Aspekt der Zielgerichtetheit in o. g. Definitionen hin.

13 Vgl. Oelkers 1995 in Meier-Gantenbein 2000, S. 17 ff

14 Ebd., S. 18.

15 Ebd., S. 21.

16 Eben dieser Punkt wurde seinerseits von Gilsdorf zu Recht sehr kritisch betrachtet. Die dahinterstehende Frage lautet, wie viel Einfluss ich als Pädagoge auf den Prozess nehmen will, muss und darf. Und kann. Mit dem Konstruktivismus endet im Prinzip die Vorstellung pädagogischer Antizipierbarkeit zu Gunsten einer neuen Form von Black-Box-Theorie. Seltsamerweise reagieren Menschen trotzdem immer wieder berechenbar – wäre es anders, würden viele Lebensbereiche nicht mehr funktionieren. Somit steht am Ende doch nur die moralische Frage nach der Balance zwischen fremdbestimmender Verantwortungsübernahme durch den Pädagogen oder einem Laissez-faire, das keiner Pädagogik mehr bedarf. Pädagogik selbst wird somit angesichts aktueller Erkenntnistheorien zu einem beinahe unlösbaren Paradoxon.

17 Tatsächlich wird hier gewertet. Gibt es eine wertfreie, „neutrale“ Pädagogik? Der Pädagoge sollte die Qualität einer Lernerfahrung nicht unabhängig von den Vorstellungen und Bedürfnissen seines Adressaten bewerten – sie dennoch zu bewerten liegt aber in seiner Verantwortung, da er als prozessgestaltende Instanz mehr Distanz zum Geschehen hat als sein Adressat – und darum die den Lernerfahrungen immanenten Chancen, Risiken und Konsequenzen vermutlich (!) besser (?) abschätzen kann. Doch auch diese Ansicht ruft Kontroversen hervor – sogar bei mir!

18 Vgl. hierzu das Wirkmodell „Outward-Bound-Plus“.

19 Eine Psychologiedozentin in meinem Studium sagte einmal den bemerkenswerten Satz „Die Treppe manipuliert mich, sie zu benutzen.“

20 Siehe hierzu das Kapitel über erlebnispädagogische Prozessplanung

21 Vgl. Wahl 1998 in erleben & lernen 6/98, S. 20 f.

22 Vgl. ebd., S. 20 f.

23 Reinhard Zwerger et al. haben hier das Modell der „erweiterten E-Kette“ formuliert. Dieses Modell zeigt auf, wie innerhalb eines erlebnispädagogischen Prozesses Ereignis, Erlebnis, Erfahrung und Erkenntnis auseinander hervorgehen. Verläuft der Weg vom Ereignis zur Erkenntnis und wird (unterstützt durch die Erinnerung) der gefundene Erfahrungsschatz bzw. Erkenntnisgewinn durch Erprobung im Alltag etabliert, so geschieht die persönliche Entwicklung des Menschen. Jene Entwicklung kann die Basis neuer Erlebnisse sein. (Siehe hierzu das Seminarskript von Reinhard Zwerger et al.: „Systemische Prinzipien und Erlebnispädagogik – eine Betrachtung.“)

24 Vgl. Witte 2002, S. 48.

25 Ich differenziere diese hier nicht aus, da die einzelnen Fachdisziplinen und ihre Ergebnisse sich für unser Erkenntnisinteresse ohnehin häufig überschneiden oder ergänzen.

26 Und jetzt nochmal ganz langsam: Das – Gehirn – entscheidet – selbst. Nicht jene Instanz, die „Ich“ zu sich sagt. Das Gehirn ist ein selbstreferentielles System.

27 Die Großhirnrinde wird häufig auch mit „Cortex“ (=Rinde) bezeichnet, was allerdings eine Verkürzung darstellt, da „Cortex“ eigentlich für die gesamte Hirnrinde steht und nicht nur für die Großhirnrinde. Ich erspare dem Leser jetzt eine differenzierte terminologische Darstellung von Begriffen wie Neo-, Iso-, Allo-, Archi- und Paleocortex.

28 Roth, Gerhard (2013): „Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten – Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern“, S. 42

29 Nein, ich erwarte nicht, dass sich das irgendjemand merkt. Ich verwende die Fachbegriffe hier aber der Vollständigkeit halber

30 Roth, Gerhard (2013), S. 43

31 ebenda

32 Ja, es SIND furchtbar viele. Wir sprechen hier von etwa 100 Milliarden Nervenzellen, ähnlich vielen Gliazellen und etwa 100 Billionen Synapsen. Weil das so unvorstellbar ist, einigen wir uns doch einfach auf „furchtbar viele.“

33 Siehe Horngacher 2011, S. 15

34 Als Metapher für Lernprozesse finde ich auch die Vorstellung nett, Neuronen hätten sich bei Facebook oder einem anderen sozialen Netzwerk angemeldet und würden sich miteinander verbinden, indem sie sich gegenseitig „als Freund hinzufügen“.

35 Ich möchte hier den Kritikern zuvorkommen und gleich selbst anmerken, dass der Vergleich von Software mit dem menschlichen Gehirn eine veraltete Anschauung darstellt, welche dem Gehirn nicht annähernd gerecht wird. Ich hoffe aber, dass diese Vereinfachung dennoch eine Ahnung von der faszinierenden Komplexität des menschlichen Gehirns beim Lesenden hinterlässt.

36 Vgl. Roth, G. und Strüber, N. (2014): „Wie das Gehirn die Seele macht.“, S. 93

37 Das Prinzip der sogenannten „Enkodierungsspezifität“ besagt, dass in einem bestimmten Kontext Erlerntes leichter abgerufen werden kann, wenn der Kontext derselbe ist oder dem Lern-Kontext weitgehend gleicht. Dies führt uns zu der bekannten „Transferproblematik“ aufgrund der erlebnispädagogischen Insellage. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Eine Dekontextualisierung (und damit ein Transfer) ist schaffbar – siehe hierzu näheres unter These 2!

38 Vgl. hierzu auch Horngacher 2011, S. 67

39 Roth, G. (2011): „Bildung braucht Persönlichkeit – wie Lernen gelingt“, S. 124

40 Vgl. ders., S. 187

41 Siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/episodisches_Gedächtnis, Stand 16.02.2015

42 Spitzer, M. (2003): „Lernen – Gehirnforschung oder die Schule des Lebens“, S. 146

43 Vielleicht lohnt sich hier ein vergleichender Blick in das Kapitel „Metaphorisches Arbeiten und was es für die Reflexion bedeutet“.

44 Vgl. Hüther (2004) in Neider (Hrsg.) 2004, S.61

45 vgl. Hüther, G. (2014) „Die Macht der inneren Bilder“, S. 24

46 ebenda

47 Wer schon einmal eine Prüfung aufgrund von Prüfungsangst und Black-Out in den Sand gesetzt hat, versteht, wie sich dieser Effekt anfühlt. für die jeweilige Klientel spezifische Form der Anleitung und (Meta-)Kommunikation ist. Gleichzeitig legt dieser Gedanke nahe, das „Challenge-by-choice-Prinzip“ sehr ernst zu nehmen und durch eine gute Begleitung die Deutung (und damit Verarbeitung) des neuen Sinneseindrucks zu unterstützen. Denn wo, wann und in welchem Maße ein Mensch aus der Lernzone in die Panikzone kommt, können wir sehr schlecht von außen beurteilen. Aber wir können einen Rahmen schaffen, in welchem sich die Person so sicher fühlt, dass sie sich auf Irritationen und neue Herausforderungen einlässt. Wir können einen Rahmen schaffen, in dem die Person gut spüren kann, wo sie sich befindet – und auf dieser Basis entscheidet, was sie als nächstes tun möchte. Dies wiederum weist uns darauf hin, wie wichtig (diesmal aus gehirnphysiologischer Sicht!) eine als sicher empfundene Atmosphäre des EP-Settings ist. Der Aufbau von Vertrauen, wechselseitige Wertschätzung, ein tragfähiger Wertekonsens, psychische Sicherheit, Freiheit von Gruppen- und Leistungsdruck – all dies ist grundlegend für eine Situierung, in der sich Menschen „aufmerksam fokussiert“ mit anschlussfähigen Irritationen auseinandersetzen können. Dies propagiert keine Kuschel-Atmosphäre – Lernen beinhaltet immer ein gewisses Maß an Anstrengung.Worum es geht ist, für den Umgang mit Irritationen einen angemessen fordernden und gleichzeitig als sicher empfundenen Rahmen zu schaffen.