Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit

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3.2 Die Bevölkerungstheorie und -praxis im 16. Jahrhundert

Mit der Bedeutung der Bevölkerungsvermehrung haben sich im 16. Jahrhundert erstmals die Staatsräson-Theoretiker in jenen oberitalienischen Stadtstaaten auseinandergesetzt, die miteinander ständig Krieg führten und wo deshalb der Ausbau von demografischen, militärischen und pekuniären Ressourcen als eine andauernde Notwendigkeit erachtet wurde. Der Geistliche und politische Denker Giovanni Botero machte unter diesem Gesichtspunkt die Bevölkerung als Grundlage der Fürstenmacht aus: „Auff dieser macht unnd Vermögen/ bestehet alle andre Macht/ wie die immer Namen haben mag: und wer viel Volckes hat/ der hat auch uberfluß an allem dem/ dahin sich der Menschen Kunst/ geschicklichkeit und Verstand/ erstrecket und gelanget […].“[52] Zur Erhöhung der Volkszahl führten nach Botero zwar mehrere Wege, doch die Aufnahme von Fremden hielt er für besonders zielführend. Als Vorbilder nannte er die Stadt Genf und Johann Kasimir von Pfalz-Simmern, die durch Aufnahme von Glaubensflüchtlingen aus Frankreich, Italien und aus den Niederlanden nicht nur die Zahl ihrer Untertanen erhöhen, sondern zugleich Handel und Gewerbe in ihren Gebieten in kürzester Zeit beleben konnten. Zugleich bezeichnete Botero die in Spanien erfolgte Vertreibung von jüdischen Untertanen als eine die Fürstenmacht schwächende Maßnahme, und er lehnte jegliche Form der religiösen Zwangsmittel in der Bevölkerungspraxis als schädlich ab.

Auch in Spanien entfaltete sich infolge der geografischen Expansion schon früh das Interesse an demografischen Fragen. Nach einem kontinuierlichen Bevölkerungswachstum erfolgte dort ein sichtbarer Rückgang der Einwohnerzahl an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Verschuldet war diese Entwicklung einerseits der Auswanderung der Spanier nach Südamerika, weil sich die Auswanderer fast zu 90 Prozent aus Männern im aktiven Heiratsalter rekrutierten, was den Rückgang der Eheschließungen und somit der Geburten zur Folge hatte. Andererseits konnten die Lücken, welche die zwischen 1609 und 1614 von der Iberischen Halbinsel vertriebenen etwa 300.000 Morisken, zum Christentum zwangskonvertierte Muslime, hinterlassen hatten, nur langsam geschlossen werden. Hauptsächlich geschuldet war der Bevölkerungsrückgang allerdings dem Niedergang der spanischen Wirtschaft, der nach einer spektakulären Prosperitätsphase allmählich einsetzte. Die sogenannten Arbitristen, Vorläufer der Merkantilisten, wie beispielsweise Sancho de Moncada, Professor an der Universität Toledo, begründeten den Rückgang mit der mangelnden Balance im spanischen Außenhandel. Nach Moncada entstand dieses Ungleichgewicht durch den erhöhten Export von Rohstoffen und den steigenden Import von Fertigwaren. Wie er anhand der Heirats- und Taufregister Toledos nachwies, führte das Ungleichgewicht zur Verminderung von Arbeitsplätzen, was wiederum wachsende Armut und schließlich ein demografischer Rückgang zur Folge hatte.

Als Ausweg aus der Krise empfahlen die Arbitristen eine protektionistische Handelspolitik, die Förderung von Manufakturen, die gerechte Aufteilung der Steuerlasten, die Intensivierung der Landwirtschaft und nicht zuletzt die Forcierung der Immigration. Konkrete Reformen, mit deren Ausarbeitung schon unter König Philipp III. begonnen wurde, konnten allerdings erst 1623 von seinem Nachfolger Philipp IV. in die Praxis umgesetzt werden, so etwa die Förderung der Eheschließungen durch Gewährung einer vierjährigen Steuerbefreiung oder im Fall von Armen einer staatlichen Mitgift. Familien mit sechs oder mehr Söhnen sollten eine Befreiung von allen Steuern und Lasten erhalten. Die Auswanderung wurde unterbunden, dagegen die Einwanderung fremder Handwerker und Landwirte gefördert.

In England diskutierte man kontrovers über die Bevölkerungsvermehrung. Einerseits erkannte man in den zunehmenden Einhegungen auf dem Land, die nach einem Traktat aus dem Jahre 1550 fast 700.000 Bauern die Existenzgrundlage genommen haben sollen, eine Gefahr der Entvölkerung. Andererseits propagierte man die Auswanderung in die englischen Kolonien, zunächst weniger mit dem Argument der erwünschten Ausweitung des Handels als vielmehr aus Angst vor einer angenommenen Vermehrung armer Unterschichten. Im Grunde genommen hatten die Diskussionen mit ein und demselben Phänomen zu tun, denn die Vertreibung der Bauern von ihren Höfen löste die Zuwanderung in die Städte aus, wo die Zahl der arbeitslosen Armen stetig zunahm und in London, dessen Bewohnerzahl sich von 50.000 im Jahre 1530 auf 225.000 im Jahre 1605 vervielfachte, schließlich auch die Sicherheit bedrohte. Die schnell zunehmende Zahl der Armen, Bettler und Kleinkriminellen sollte durch die erzwungene Auswanderung dieser unerwünschten Menschen in die Kolonien reduziert werden.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahm allerdings immer mehr die Ansicht über die Unterbevölkerung des Landes zu, die vor allem dem wirtschaftlichen Aufschwung geschuldet war. Der in England verfolgte Wirtschaftsprotektionismus erforderte ein ausreichendes Reservoir an billigen und qualifizierten Arbeitskräften, um im Inland billiger als im Ausland produzieren und so die sich zum Ziel gesetzte positive Handelsbilanz erreichen zu können. Nach dem Gouverneur der Britischen Ostindien-Kompanie Josiah Child beispielsweise war Reichtum des Staates im großen Maße von dessen Bevölkerungsreichtum abhängig, weshalb er neben der Einwanderungsförderung die Einführung einer vereinfachten Naturalisierungspraxis unterstützte. Für die vereinfachte und verbilligte Einbürgerung protestantischer Einwanderer als ein wichtiges Mittel der Wirtschaftsförderung waren auch die liberalen Whigs. Als sie 1708 die Mehrheit im Parlament erlangten, setzten sie deshalb ein neues Einbürgerungsgesetz durch, in dessen Präambel zu lesen war: „The Increase of People is a Means of Advancing the Wealth and Strength of a Nation.“[53]

Doch die Umsetzung des Gesetzes scheiterte bereits 1709, als etwa 13.000 meist mittelose Deutsche, die von Privatleuten für die britischen Kolonien angeworben wurden, den Ärmelkanal überquerten. In London und seiner Umgebung mussten sie monatelang in großen Elendslagern auf ihre Ansiedlung in England bzw. ihre Weiterbeförderung in die britischen Kolonien warten (vgl. Abb. 4). Das Schreckgespenst der armen, zum Teil auch katholischen Migranten brachte das Einbürgerungsgesetz zum Fall.

Fallbeispiel: Das Zeltlager der Pfälzer in Blackheath bei London (Abb. 4)

Als Europa infolge großer Vulkaneruptionen auf Santorin und in Japan und einer extrem geringen Sonnenfleckenaktivität im Winter 1708/09 von einer Jahrhundertkälte heimgesucht wurde, war der Frost so streng, dass nicht nur die Ostsee, der Bodensee und die Adria größtenteils zufroren, sondern den zeitgenössischen Aufzeichnungen zufolge auch Vögel tot vom Himmel fielen und Menschen an Kälte starben. Nach dem darauffolgenden Hungerwinter wanderten Menschen entlang des Rheins, hauptsächlich aus der Pfalz, aus. Die „poor Palatines“ wurden in Zeltlagern vor den Toren Londons untergebracht und versorgt. Wurden sie zunächst mit offenen Armen empfangen, so änderte sich die Lage in Anbetracht ihrer großen Zahl bald. Es mehrten sich die Stimmen für eine restriktive Politik gegen so viele, meist arme und ungelernte Arbeiter und Bauern.


Abb. 4 Das Zeltlager der Pfälzer in Blackheath bei London 1709.

In Frankreich, wo die aus der mittelalterlichen Selbstbeschreibung übernommene Vorstellung eines bevölkerungsreichen Landes weitertradiert wurde, legte man großen Wert in Theorie und Praxis darauf, diesen Reichtum zu bewahren und zu vergrößern. So hob der bedeutendste französische Staatstheoretiker des 16. Jahrhunderts Jean Bodin die Verantwortung des Souveräns für die Vermehrung der Bevölkerung als Grundlage der Stärke des Staates hervor. Die Bevölkerungsvermehrung sollte allerdings weniger durch Zuwanderungen als vielmehr durch eine Familienförderung erfolgen, darunter Maßnahmen gegen die Ehelosigkeit, die außerehelichen Beziehungen und die Kindestötung.

Bodins Ideen wurden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von Finanzminister Jean Baptiste Colbert aufgegriffen und erweitert. Der gewünschte Kinderreichtum sollte nun durch Steuervergünstigungen gefördert werden, indem Ehepaaren, die vor dem 20. Lebensjahr heirateten, die Kopfsteuer für fünf Jahre erlassen wurde, Väter von mehr als zehn ehelichen Kindern wurden wiederum von allen Steuerlasten befreit und durften sogar einen Säbel als besondere Auszeichnung tragen. Die Auswanderung war verboten, selbst die wegen ihrer Konfession verfolgten Hugenotten durften nicht emigrieren. Zugleich wurde die Einwanderung vor allem von Spezialisten forciert. Zur Förderung des Außenhandels mit Luxusgütern wurden beispielsweise venezianische Spiegelarbeiter abgeworben. Dies musste allerdings illegal erfolgen, denn die Arbeiter, die über das Geheimnis der von Venedig lange geheim gehaltenen Spiegelherstellung verfügten, standen unter Auswanderungsverbot. Um sie für Frankreich zu gewinnen, wurden ihnen verschiedene Vergünstigungen in Aussicht gestellt. Insgesamt war die Gesetzgebung in Frankreich darauf gerichtet, die Einwanderung und Naturalisierung von Fremden zu erleichtern und die Auswanderung zu verhindern.

Justus Nipperdey konnte für das Heilige Römische Reich eine bis zum Dreißigjährigen Krieg andauernde Vernachlässigung in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Bevölkerungsfrage feststellen.[54] Die wenigen Schriften, die sich dennoch dem Thema widmeten, waren von einer konkurrierenden Auffassung über die Fremdenaufnahme charakterisiert: Denn während ein Teil der Schriften in den Einwanderern Vermittler von neuem Wissen und besonderen Fertigkeiten etwa im Handel und Gewerbe sah, wurde ihre Aufnahme von einem anderen Teil mit der Begründung abgelehnt, dass Fremde eher als Alteingesessene zu Unruhe und Illoyalität neigten und so die fürstliche Macht gefährdeten.

 

Wurde in den Traktaten kontrovers diskutiert, so nahmen Städte und Landesfürsten bereits seit Mitte des 16. Jahrhunderts fremde Einwanderer in größerer Zahl auf. Den Anlass dazu gab die Flucht und Auswanderung niederländischer Protestanten, die 1543 einsetzte und nach der Wiedereroberung und Rekatholisierung der südlichen Niederlande durch die spanische Krone in den siebziger und achtziger Jahren einen Höhepunkt erreichte. Zufluchtsorte der Glaubensflüchtlinge wurden u. a. Wesel und Duisburg, Frankfurt am Main, Emden und Hamburg. Zu den Zielorten gehörten zunächst auch katholische Städte wie Köln und Aachen. Bei der Auswahl der Orte spielten für die Handel und Gewerbe betreibenden Exulanten, die zunächst auf eine baldige Rückkehr in die Heimat hofften, sowohl die Lage der Städte in Grenznähe als auch deren wirtschaftliche Attraktivität eine Rolle. Die ausgewählten Zielorte wiederum zeigten eine gewisse Bereitschaft, die Glaubensflüchtlinge dauerhaft aufzunehmen, weil sie sich dadurch die Niederlassung von kapitalkräftigen Kaufleuten und bis dahin fehlenden Spezialisten etwa im Textilgewerbe, einem Motor der vorindustriellen Wirtschaft, erhofften. Freilich haben sich die katholischen Städte schon bald gegen die anderskonfessionellen Einwanderer entschieden, aber auch Städte lutherischer Konfession sahen sich vor der großen Herausforderung, konfessionelle und ökonomische Gesichtspunkte miteinander zu verbinden. In den meisten Fällen erwiesen sich jedoch die ökonomischen Argumente als stärker.

Auch für jene protestantischen Landesfürsten, die im Laufe des 16. Jahrhunderts Glaubensflüchtlinge aus den Niederlanden, Frankreich oder Österreich aufnahmen, war neben der Solidarität mit den verfolgten Glaubensbrüdern der erhoffte ökonomische Nutzen für ihr Land der entscheidende Grund. So wurde in einem Georg Johann I. von Pfalz-Veldenz im Juli 1569 vorgelegten Gutachten für die Aufnahme niederländischer und französischer Exulanten gerade damit argumentiert, dass es unter ihnen viele „reiche, deßgleichen auch weise und redliche leutt, auch gutte und verstendige handtwerkher allerlei sorten“ gibt, „durch welche die landt […] anfangen [wird] zu grunen und grossen unglaublichen nutzen zu tragen“.[55]

Protestantische Landesfürsten lockten Einwanderer mit der Gewährung der freien oder privaten Religionsausübung und des Bürgerrechts, gelegentlich auch ohne religiösen Unterschied, und betrieben sogar großzügige Siedlungsprojekte. Sie ließen Exulanten und Fremde in eigenen Stadtteilen oder nicht selten in für sie eigens nach Idealplänen der Zeit gebauten Städten ansiedeln: so beispielsweise Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg calvinistische Flüchtlinge aus den Niederlanden in der 1597 von ihm gegründeten Neustadt Hanau; Herzog Friedrich I. von Württemberg 1599 Lutheraner aus der Steiermark, der Krain und Kärnten in Freudenstadt; Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz 1607 Protestanten und Katholiken aus zahlreichen Gebieten Europas in Mannheim; Georg Gustav von Pfalz-Veldenz 1608 Reformierte aus Frankreich und den Niederlanden in Lixheim; Christian IV., König von Dänemark und Norwegen und zugleich Herzog von Schleswig und Holstein, 1617 Katholiken, sephardische Juden aus Portugal sowie Calvinisten und Mennoniten aus den Niederlanden in Glückstadt oder Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf 1621 Angehörige acht verschiedener Religionsgruppen, darunter auch niederländische Mennoniten und Remonstranten, in Friedrichstadt.

Die fürstlichen Städtegründungen blieben allerdings zahlenmäßig begrenzte Prestigeprojekte. Eine Ansiedlung von Fremden auf dem Land war von den Landesherren zunächst nicht beabsichtigt. Erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts wandte sich die Aufmerksamkeit auch den ländlichen Gebieten zu.

3.3 Die kameralistische Variante im 17. und 18. Jahrhundert

Die Neuorientierung war vor allem den Folgen des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) zuzuschreiben, der die Phase des demografischen Wachstums im Alten Reich unterbrach. Der durch Schlachten, Einquartierungen, Kontributionen, bewaffnete Übergriffe, Seuchen, Flucht und Vertreibungen entstandene Bevölkerungsverlust war so groß, dass der gesamtdeutsche Bevölkerungsstand von 1620 nach Christian Pfisters Schätzungen erst um 1750 wieder erreicht werden konnte.[56]

Der Krieg wirkte sich in den einzelnen Regionen unterschiedlich aus und der Zerstörungs- und Entvölkerungsgrad variierte regional, territorial und sogar lokal. Am größten war der Bevölkerungsrückgang dort, wo Armeen operierten und Nachschubwege verliefen. So kam es beispielsweise in der Mark Brandenburg, in Mecklenburg, Pommern, Hessen, in der Kurpfalz oder in Württemberg stellenweise zu einem Verlust von bis zu 80 Prozent der Bevölkerung, während in anderen Gebieten wie in den österreichischen Erblanden oder in Teilen von Westfalen und Schleswig-Holstein die Bevölkerungszahl mehr oder weniger auf gleichem Niveau blieb. In der vom Krieg völlig verschonten oldenburgischen Küstenregion konnten dank der Kriegskonjunktur sogar Wanderungsgewinne verzeichnet werden.

Schon während des Krieges fand eine spontane Nahwanderung vor allem vom Land in die mit Mauern geschützten Städte statt. Nach 1648 setzte sich die Binnenwanderung innerhalb der einzelnen Territorien wie auch die Einwanderung in die Territorialstaaten fort, nicht selten ausgelöst durch die Konkurrenz um steuerzahlende Untertanen und Arbeitskräfte, die die fürstlichen oder grundherrschaftlichen Rückkehrverordnungen für geflüchtete Untertanen außer Acht ließen. Auch die Einwanderung von Fremden von außerhalb der Reichsgrenzen in die kriegsgeschädigten Gebiete nahm zu und ihre Zahl erreichte bis Ende des 17. Jahrhunderts schätzungsweise 200.000 Personen.

Im Südwesten des Reiches beispielsweise waren der größtenteils zur damals calvinistischen Kurpfalz zählende Kraichgau, das evangelische Herzogtum Württemberg und das katholische Oberschwaben durch den Bevölkerungsverlust besonders hart getroffen worden. Bald setzte deshalb in diese Gebiete eine spontane Einwanderung von Menschen ein, die auf der Suche nach einer Beschäftigung oder einem besseren Auskommen waren. In die Orte zwischen Donau und Bodensee kamen Migranten vor allem aus dem katholischen Vorarlberg, aus Tirol und den katholischen Gebieten der Schweiz, während in die Orte im Kraichgau calvinistische Franzosen, Schweizer wie auch Mennoniten aus den wirtschaftlich angeschlagenen Kantonen Zürich und Bern einwanderten. In Württemberg waren lutherische Geheimprotestanten aus Österreich und Exulanten aus Böhmen willkommen, aber auch calvinistische Waldenser aus Savoyen fanden Aufnahme.

Auch in Brandenburg-Preußen begannen schon nach dem Dreißigjährigen Krieg spontane Einwanderungen etwa in die Prignitz aus den weitgehend vom Krieg verschonten Gebieten im Norden und Nordwesten des Reiches. Doch die Zahl dieser Immigranten reichte bei Weitem nicht aus, um das verwüstete und brachliegende Land wieder urbar zu machen, deshalb begannen Grundbesitzer wie auch Kurfürst Friedrich Wilhelm, mit Steuerprivilegien, Dienstfreiheit und weiteren Vergünstigungen um Neusiedler für die Kurmark sowie für das Herzogtum Preußen zu werben. Der Kurfürst, der vier Jahre seiner Jugend in den Niederlanden verbracht und dort auch die landwirtschaftlichen Leistungen der Bauern kennengelernt hatte, richtete sein Augenmerk zunächst auf holländische und friesische Einwanderer.

Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges und die Erfahrungen mit der Fremdenaufnahme bewirkten eine verstärkte Hinwendung der Staatstheoretiker zur Bevölkerungsfrage. Der im Dienst der Wettiner stehende einflussreiche Hof- und Kammerrat Veit Ludwig von Seckendorff formulierte in seinem 1656 erschienenen „Teutschen Fürsten-Staat“ die Maxime der kameralistischen Politik für die nächsten anderthalb Jahrhunderte: Die Beförderung der Volkszahl ist eine Aufgabe eines jeden Fürsten, denn es gibt keinen besseren „Schatz, als die Menge vieler Leute und Unterthanen, die an Leibes- und Gemüths-Gaben wol beschaffen sind“. Deshalb „gehet der zweck der gesetze dahin, dass der Leute wenn Unterthanen viel und dieselbe auch Gesund/ und also zu ihrer Verrichtung tauglich und geschickt seyn mögen“.[57] Die Wohlfahrt des Staates basierte nach Seckendorff sowohl auf der zahlenmäßigen Stärke der Landbewohner als auch auf deren Beschaffenheit, Gesundheitszustand sowie „Handel und Wandel“.

Einen immer größeren Stellenwert erhielt in den theoretischen Abhandlungen auch die Wechselwirkung zwischen der Bevölkerungszunahme und der „guten Nahrung“, womit die ausreichenden natürlichen Ressourcen eines Landes wie auch die Erwerbsgrundlage der Landbewohner gemeint waren. Der an der Universität Halle wirkende Universalgelehrte Christian von Wolff hat diese Erkenntnis 1721 auf den Punkt gebracht. Demnach sollte das Volk in einem Land „nicht zu viel und auch nicht zu wenig“ sein:

Nemlich es sind ihrer zu viel, wenn sie nicht im Lande ihren nöthigen Unterhalt finden können – hingegen zu wenig, wenn man noch mehrern Unterhalt verschaffen könnte. […] Also hat man […] nicht alleine darauf zu sehen, daß man die Anzahl der Unterthanen mehret; sondern man muß auch darauf bedacht seyn, ob durch gute Anstalten allen nöthiger Unterhalt kan verschaffet werden.[58]

In der Praxis standen allerdings zunächst weniger die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Bevölkerungsvermehrung und „Nahrung“ als viel mehr zwischen Konfession und Einwanderung im Vordergrund. Johann Elias Keßler, Jurist und fürstlich-oettingischer Hof- und Konsistorialrat, betrachtete in seinem 1678 erschienenen Schriftstück „Reine und unverfälschte Staats-Regul“ die Peuplierung als das wichtigste Mittel der fürstlichen Politik in ökonomisch bedrängten Zeiten. Diese machten es erforderlich, auch sonst nicht erwünschte anderskonfessionelle Einwanderer zuzulassen. In solchen Ausnahmefällen, so Keßler, sollte die „Christliche/ Politische Regular-Dictatur […] mit ihrem Rigeur ein Auge zuthun“[59] und nicht auf die Konfession, sondern auf die für den Staat beste Lösung achten. Für Keßlers Ansichten spielten sicherlich auch die Verhältnisse im lutherischen Fürstentum eine Rolle, das im Dreißigjährigen Krieg häufig zum Schauplatz militärischer Kämpfe, Plünderungen und Einquartierungen wurde, sodass viele Untertanen in die österreichischen Erblanden abwanderten. Nach Kriegsende kehrten nicht wenige von ihnen mit einem katholischen Ehepartner von dort zurück.

Die Aufnahme von Konfessionsfremden war zwar keine Seltenheit, doch mussten weltliche Obrigkeiten darüber oft mühsame Diskussionen mit den jeweiligen kirchlichen Oberen austragen, die auf die Reinheit der Konfessionen besonders bedacht waren. Das war auch in den 1680er-Jahren zur Zeit der Aufnahme der aus Frankreich geflüchteten Hugenotten der Fall. Außer den reformierten Fürsten wie dem Kurfürsten von Brandenburg oder dem Landgrafen von Hessen-Kassel nahmen Landesfürsten lutherischer Territorien nur wenig Hugenotten auf, weil sie sich gegen den Widerstand ihrer obersten Kirchenämter nicht durchsetzen konnten oder wollten. Die ersten Erfolge der Hugenottenansiedlungen führten erst dazu, dass im protestantischen Bevölkerungsdiskurs Peuplierung und tolerante Haltung in Konfessionsfragen nicht mehr als einander ausschließende oder gegeneinander wirkende, sondern, wie Nipperdey betont, als einander verstärkende Faktoren betrachtet wurden.[60]

Den Durchbruch der konfessionellen Hindernisse bei der Fremdenaufnahme in den protestantischen Ländern dokumentiert besonders einprägsam das 1714 gedruckte Werk „Schriftmäßiges und wohlgemeintes Gedencken über die […] Neutralität in der Religion“ aus der Feder des lutherischen Theologen Johann Gottlob Stoltze. Der Autor befasste sich im Auftrag des Fürsten von Sachsen-Eisenach mit der im März 1712 von Graf Ernst Casimir I. zu Ysenburg und Büdingen erlassenen „Gewissensfreyheit“ für Einwanderer. Der Graf, dessen Land sich noch immer nicht völlig von den Verlusten des Dreißigjährigen Krieges und des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688–1697) erholt hatte, übte auch gegenüber jenen Einwanderern Toleranz, die aus „Gewissensscrupel, oder aus Überzeugung sich zu gar keiner der drei dominanten Religionen“ im Alten Reich bekannten. Er verlangte von ihnen lediglich eine christliche Lebensführung und Gehorsamkeit gegenüber der Obrigkeit. Stoltze befürwortete diese Praxis und wies jedweden Einspruch dagegen mit der Bemerkung ab, „die Theologie und Gelehrte mögen darzu sagen/ was sie wollen/ hat man doch Mittel genug/ ihnen das Maul zu stopffen […]“.[61]

 

Wie weit religiöse Aufgeschlossenheit im Hinblick auf die Peuplierung reichen konnten, zeigt die im Vorfeld der Hugenottenansiedlung geführte Gelehrtendiskussion über die Ansiedlung afrikanischer Sklaven. Gegen Ende 1681 unterbreitete der Hamburger Kaufmann Martin Elers Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg einen Vorschlag, Regimenter mit Schwarzen afrikanischer Herkunft aufzustellen. Elers war der Ansicht, dass die „swartzen menschen“, die „von natur hardi und starck weren“, auch das „lant mit volck vermeeren“ und es „mit nutzen bebauwen“ würden.[62] Ähnliche Vorschläge wollte er auch anderen Fürsten unterbreiten, deshalb bat er den braunschweigischen Rat und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz und den gelehrten kursächsischen Kommerzienrat Johann Daniel Crafft um Vermittlung. In der Korrespondenz der drei kam die Hautfarbe als Hindernis überhaupt nicht und die Religion nur kurz zur Sprache, da man glaubte, die Afrikaner schnell missionieren zu können. Der Kurfürst, der 1682 die Gründung einer Brandenburgisch-Afrikanischen Kompagnie initiierte, war dem Vorschlag gegenüber anscheinend zunächst nicht ganz abgeneigt. Ob er sich für das Projekt entschieden hätte, ist allerdings sehr fraglich, aber als die Hugenotten aus Frankreich in großen Scharen flüchteten, entschied er sich, anstelle der ins Gespräch gebrachten 20.000 afrikanischen Sklaven 20.000 Hugenotten aufzunehmen.

Auf protestantischer Seite setzte sich allmählich ein Paradigmenwechsel in der Fremdenaufnahme ohne konfessionelle Grenzen durch. Doch wie verhielt es sich mit Theorie und Praxis in den katholischen Gebieten? Als Beispiele sollen das ab 1571 nach dem Landesverweis der Lutheraner durch Herzog Albrecht V. konfessionell weitgehend homogene katholische Herzogtum (ab 1623 Kurfürstentum) Bayern und die konfessionell heterogene österreichische Monarchie der Habsburger näher betrachtet werden.

In Bayern, so Nipperdey, legte der Jesuit Adam Contzen, Beichtvater und Ratgeber Max III. Josephs, die theoretischen Grundlagen der Bevölkerungspolitik. Nach Contzen sollte die Vermehrung der Untertanen allein durch die bessere Nutzung der eigenen Ressourcen, nicht jedoch durch Einwanderungen erreicht werden. Der bayerische Diskurs im 17. Jahrhundert war von einer widersprüchlichen Bewertung des Bevölkerungswachstums geprägt. Denn während man einerseits die Anzahl der Bewohner als Grundlage des Reichtums erhöhen wollte, galt es andererseits, übermäßiges Wachstum als mögliche Quelle für Armut zu verhindern. In der Praxis gewannen schließlich die Befürworter eines mäßigen Bevölkerungswachstums die Oberhand. Um die Balance zwischen Bevölkerungswachstum und „Nahrung“ halten zu können, schlugen sie einerseits die Ehebeschränkung mit dem Ziel vor, die Geburtenzahlen niedrig zu halten, andererseits befürworteten sie den Landesausbau und die Ödlandbesiedlung, um die Zahl der Bauernstellen zu vergrößern.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreiteten sich die Ansichten der französischen Physiokraten, die allein die Landwirtschaft für wertschöpfend hielten. Auch in Bayern erfolgte eine verstärkte Hinwendung zu diesen Vorstellungen, indem man anstelle der kleinen Bauernstellen die leistungsfähigeren und größeren Bauernhöfe propagierte. Mit der Parzellierung betrat Bayern allerdings keinen Sonderweg, denn auch in anderen kameralistischen Staaten wie etwa in Brandenburg-Preußen und Österreich förderte man die Zunahme der bäuerlichen Produktionskräfte durch Parzellierung von staatlichen Domänen- bzw. Kameralgütern. Doch sollten daran in Bayern, anders als in Brandenburg-Preußen und Österreich, ausschließlich eigene Untertanen als Binnenansiedler und keine Einwanderer aus dem Ausland teilhaben.

Die Folge des 1762 erlassenen Mandats über die Landesparzellierung war die Einschränkung der bis dahin vor allem auf Ungarn gerichteten Auswanderung. Max III. Joseph wandte sich mehrmals, so 1764, 1766, 1768 und 1771, gegen die „Depopulation und Ausödung“[63] seines Landes. Er hielt die Behörden an, die Auswanderung nur für Bettelarme und Vaganten zu genehmigen, die für die Ansiedlung als Bauern als nicht geeignet angesehen wurden. Die Gefahr der Vermehrung der Landlosen war und blieb ein Angelpunkt der bayerischen Bevölkerungspolitik.

Eine andere Praxis verfolgte Österreich, wo allerdings keine einheitliche landesfürstliche Politik möglich war, weil die Monarchie aus einem Konglomerat von Ländern mit unterschiedlicher Verfassungseinrichtung und Rechtspraxis bestand. Zu ihren Erblanden im Donauraum und den Gebieten im Vorderösterreich gesellten sich seit 1526 die Länder der Wenzelskrone mit Böhmen, Mähren, Schlesien und bis 1635 auch die beiden Lausitzen sowie die Länder der Stephanskrone mit Ungarn, Siebenbürgen und Kroatien.

Die habsburgische Bevölkerungspraxis war vor allem von zwei Faktoren beeinflusst. Erstens befand sich das Herrscherhaus in einer über 150 Jahre lang andauernden kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich. Dieser Zustand bewirkte empfindliche Bevölkerungsverluste und eine hohe Mobilität der Bevölkerung. So wurden beispielsweise schon bei den großen Türkeneinfällen in den Jahren 1529 und 1532 in Niederösterreich mehrere zehntausend Menschen getötet und in Gefangenschaft verschleppt. Auf die verwaisten Stellen siedelten die Grundbesitzer kroatische Flüchtlinge an. Doch schon bald beklagten sich die niederösterreichischen Stände beim Landesfürsten und Kaiser Maximilian II. wegen der hohen Anzahl der Kroaten, die sich über ihre einheimischen Nachbarn zu erheben begannen. In seiner Abschrift an die Stände am 29. Dezember 1573 nahm Maximilian die Kroaten mit der Begründung in Schutz, dass „sy mit irer arbait dem landt nit schedlich, sonder dasselb treulich helffen erbauen, dadurch die einkomen, ränth und gült vermeren […]“.[64] Seine geheime Verfügung, in der Zukunft keine kroatischen Siedler mehr aufzunehmen und diese aus den Ämtern zurückzudrängen, wies allerdings auf die Probleme der ethnischen Gemengelage in den östlichen Gebieten der Monarchie hin, die sich infolge von weiteren Flucht- und Siedlungsbewegungen in den nächsten zwei Jahrhunderten weiter verstärkten.

Zweitens sagte die katholisch gebliebene Herrscherdynastie dem sich in ihren Ländern schnell verbreitenden Protestantismus den Kampf an und unterstellte die Bevölkerungspolitik ihren konfessionellen Leitprinzipien. Danach wurde die Wiederherstellung der konfessionellen Einheit zum obersten Staatsziel erklärt. Den Protestantismus versuchte man in den österreichischen Erblanden mit Mitteln wie der ökonomisch erzwungenen Auswanderung und dem Landesverweis zurückzudrängen. Infolge der in den Erblanden nacheinander erlassenen Auswanderungsmandate wanderte das Bürgertum im 17. Jahrhundert in besonders großer Zahl aus. In Nieder- und Oberösterreich erreichte die Auswanderung protestantischer Untertanen in das kriegszerstörte Mittelfranken nach dem Westfälischen Frieden mit mehreren Zehntausenden einen Höhepunkt. In Böhmen setzte die Emigration schon kurz nach der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620 u. a. in das benachbarte Kursachsen ein und erfasste bis Ende des Jahrhunderts etwa 150.000 Personen, neben Adel und Bauern vor allem das Bürgertum. Durch die verstärkte Auswanderung der Bürger aus den Städten ging der Habsburgermonarchie ein kommerziell wichtiger Bevölkerungsteil verloren.

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