Politische Ideengeschichte

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Im Siebten Brief findet sich interessantes Material das Leben Platons betreffend. Platon blickt darin auf sein Leben zurück, erklärt sein politisches Verhalten und berichtet von seinen Sizilienreisen (die auch bei Cornelius Nepos, Diodor oder Plutarch bezeugt sind). Die Echtheit des Siebten Briefs wird seit Langem kontrovers diskutiert. Er wurde immer wieder für unecht gehalten (was nichts Unerhörtes bedeuten würde; in der Antike haben Schreiberlinge zur Übung Briefe berühmter Leute verfasst).14 Gegenwärtig überwiegt hingegen die Meinung, dass der Brief echt sei oder wenn nicht echt, dann von jemandem verfasst, der so gut Bescheid wusste, dass die im Brief enthaltenen Informationen für verlässlich gehalten werden dürfen.15

Nebst der Biografie stellt uns auch die Chronologie der Dialoge vor Probleme. Man hat in der Forschung verschiedene Wege angewendet, um die Abfolge der Werke ermitteln zu können:16 (1) Interne Kriterien orientieren sich an Querverweisen in den Dialogen selbst, so dass z. B. sowohl aus dem Sophistes (217a) wie auch aus dem Staatsmann (258b) hervorgeht, dass der Sophistes früher verfasst wurde.17 (2) Externe Kriterien stellen realgeschichtliche Personen und Ereignisse dar, die in den Dialogen erwähnt werden. Der Tod des Sokrates im Jahr 399 v.Chr. bietet Gewähr dafür, dass all diejenigen Dialoge, die dieses Ereignis erwähnen (und das sind bei Platon viele), nach diesem Datum verfasst worden sein müssen. (3) Sachlich-autorbezogene Aspekte stützen sich auf der Annahme ab, dass Platon einzelne inhaltliche Positionen von früheren zu späteren Werken verfeinert. Erler führt jedoch schwerwiegende Zweifel an diesem Vorgehen an, da Platon z. B. Sokrates nicht immer alles sagen lässt, was er weiß, sondern dieser sich aus Rücksicht auf die Dialogteilnehmenden oft zurückhält und nur andeutet, dass er mehr wüsste, oder da man sich dadurch auch auf die weitergehende, aber ebenfalls nicht zwingend einleuchtende Annahme verpflichten würde, dass Platon immer alles so niederschrieb, wie es sein Wissensstand zuließ.18 Kurzum, der literarische Charakter der Dialoge steht diesem Vorgehen im Weg. (4) Stilistische Kriterien und insbesondere stilometrische Verfahren, bei denen die Dialoge teils computergestützt auf Sprache und Stil ausgewertet werden, haben die größten Erfolge in Sachen Chronologie hervorgebracht, auch wenn sich letztlich auch auf diesem Weg keine Gewissheit erreichen lässt.

Die meisten akzeptieren heute die auf stilistischer Grundlage basierende Dreiteilung des platonischen Werks in eine erste, zweite und dritte Gruppe und akzeptieren des Weiteren auch, dass sich eine genauere Abfolge innerhalb dieser Gruppen nicht ermitteln lässt, außer dort, wo interne oder externe Kriterien angeführt oder überzeugende Argumente hinsichtlich sachbezogener Aspekte vorgebracht werden können.19 Bezüglich der dritten Gruppe hat in jüngster Zeit ein weiterer Gesichtspunkt vermehrt Aufmerksamkeit gewonnen. Es wird vermutet, dass die Gesetze, bei denen die abschließende Textredaktion durch den Platonschüler Philipp aus Opus bekannt ist, keinen Einzelfall darstellen, ja dass in den späten Dialogen öfters mehrere Hände mitgewirkt haben.20

Ein biografischer Ansatz sieht sich bei Platon vor große Hürden gestellt. Diese schwierige Ausgangslage setzt einer biografischen Deutung enge Grenzen und sie muss sich in den angeführten Argumenten und Vermutungen adäquat spiegeln, wenn man den Ansatz seriös verfolgen möchte. Freilich eignet sich aus diesem Grund Platon besonders, um die Herausforderungen, die sich an eine jede Interpretation mit dem biografischen Ansatz stellen, herauszuarbeiten und kritisch zu diskutieren.

Reflexionsbox 4: Die Tücken der Chronologie

Wenn man den Siebten Brief und seine Ausführungen zu Platons erster und zweiter Sizilienreise als erklärenden Text für die biografische Interpretation des Staatsmanns heranzieht und sich zugleich auf die Chronologie erste und zweite Sizilienreise – Abfassung Der Staatsmann – Abfassung Siebter Brief verpflichtet, ergibt sich eine besondere und etwas heikle interpretative Konstellation. Genauso wie die zwei ersten Sizilienreisen den Inhalt des Staatsmanns beeinflusst haben können, so kann auch die Niederschrift des Staatsmanns die Ausführungen im Siebten Brief beeinflusst haben. Beim Siebten Brief handelt es sich um eine Quelle, die vermutlich im Abstand von einigen Jahren über die Ereignisse Auskunft gibt (nach 354 v.Chr. geschrieben). Der Rat, den Platon im Siebten Brief an die Syrakuser gibt (337c–d) und der zum im Staatsmann Gesagten passt, mag vom Staatsmann beeinflusst sein, kann diesen rückwirkend aber unmöglich erklären. („Sind aber die auf dem sittlichen Gefühle des Volks beruhenden Gesetze aufgestellt, so liegt alles Heil des Staates an ihrer Befolgung, denn erst dann wenn die obsiegende Partei sich selbst mehr zu Knechten der Gesetze macht als die Besiegten,

ist überall Heil, Glück und Befreiung von allen früheren Übeln.)“21. Völlig unklar ist denn die Situation zum Beispiel hinsichtlich des Wortes kairos, welches im Brief Verwendung findet (327e), als Dion den Platon des günstigen Zeitpunkts wegen nach Sizilien bewegen möchte, und welches im Staatsmann in dieser Bedeutung einen Schlüsselbegriff darstellt. Was hier was beeinflusst hat, kann kaum geklärt werden.22

3. Der Text als Ausdruck des Lebens des Autors: Platons zweite Sizilienreise und die Gesetze in Der Staatsmann

3.1 Identifizierung und Textdatierung von Der Staatsmann

Dass Der Staatsmann dem Platon zugeschrieben werden kann, der Dialog also authentisch ist, gilt heute in der Forschung als „unumstritten“; im 19. Jahrhundert wurde im Kontext eines neuen, durch die Romantik beförderten historischen Bewusstseins und im Zuge eines daraus erwachsenden Hyperskeptizismus jedoch die Echtheit mitunter in Abrede gestellt, während zuvor die Frage schlicht niemanden großartig interessiert hatte.23

Was lässt sich zum Abfassungszeitpunkt des Texts sagen? Welcher Teil von Platons Biografie ist also für die Interpretation relevant? Auch der Abfassungszeit des Staatsmanns wird in der Forschung in den oben beschriebenen Weisen nachgegangen. Einerseits interessiert die relative Abfassungszeit im Vergleich mit anderen Dialogen; andererseits das absolute Datum, wobei es bei Platon um die Angabe einer Jahreszahl oder eines Zeitraums geht. Beide Weisen sind für den biografischen Ansatz von Bedeutung. Bereits verfasste Texte sind Teil der Biografie des Autors und können über diese auch Auskünfte enthalten. Der Staatsmann kann aufgrund stilistischer Merkmale den späteren Dialogen zugerechnet werden, ist also etwa nach den Dialogen Der Staat, Phaidros, Thaitetos oder Parmenides entstanden. Interne Kriterien lassen darauf schließen, dass der Text nach (oder allerhöchstens gleichzeitig mit) dem Sophistes verfasst wurde. Mit Bezug auf ein absolutes Datum finden sich hauptsächlich Vorschläge, die eine Abfassung zwischen 367/5 und der ersten Hälfte der 350er Jahre für wahrscheinlich halten. Mit der Periode 367/5 wird auf die zweite Sizilienreise von Platon verwiesen. Damit ist für die Interpretation so etwas wie ein terminus post quem gegeben, da abweichende Vorschläge die Abfassungszeit allesamt später ansetzen. Allerdings wird die zweite Sizilienreise im Dialog selbst nicht explizit erwähnt und gibt damit kein externes Kriterium für die Abfassungszeit her. Implizite Bezugnahmen wurden etwa für 292aff. und 296bff. behauptet.24 Weiterhin bleibt so die Möglichkeit durchaus im Raum, dass Der Staatsmann auch erst nach der dritten Sizilienreise 361/0 v.Chr. verfasst worden ist. Der in diesem Kapitel vorgestellte biografische Ansatz stützt sich deshalb hauptsächlich auf die zweite Sizilienreise als entscheidendes Ereignis für die Interpretation des Staatsmanns.

Das relevante biografische Ereignis muss nicht zwingend zeitnah zur Abfassungszeit vermutet werden. So kann die Verurteilung des Sokrates 399 v.Chr. ein relevantes Ereignis sein, obwohl zwischen der Abfassung des Staatsmanns und dem Schierlingsbecher 40 Jahre liegen. Die Handlung im Staatsmann spielt ja direkt vor dem Prozess gegen Sokrates. In einem gewissen Sinn beziehen sich sogar alle Texte Platons auf die Verurteilung des Sokrates – insoweit nämlich diese tatsächlich dafür Anlass gegeben haben soll, dass Platon zunächst von einer politischen Karriere absah und sich dem Schreiben zuwandte. Damit ist aber keineswegs gesagt, dass jeder Text und jeder sich daraus ergebende Interpretationsbedarf mit Vorteil auf dieses Ereignis bezogen werden kann. Beispielsweise mag sich der Interpretationsbedarf aus dem Vergleich zwischen zwei nach dem Ereignis verfassten Texten ergeben, weil vielleicht ein Gesinnungswandel des Autors vermutet wird, oder ein bisher vernachlässigter neuer Gesichtspunkt an Prominenz zu gewinnen scheint. In diesem Fall muss entweder auf zusätzliche Ereignisse verwiesen werden, die zwischen der Abfassung der zwei Texte liegen, oder eine Erklärung vorgebracht werden, wieso dem Ereignis in den zwei Texten eine je andere Bedeutung zukommt. Es könnte schließlich sein, dass ein zurückliegendes, im früheren Text weitgehend wirkungsloses Ereignis durch ein neues Ereignis erst wieder ins Bewusstsein eines Autors gerückt ist, ihn umtreibt und zu einem Gesinnungswandel führt, der sich erst im späteren Text manifestiert.

3.2 Zusammenfassung des Dialogs

Wer den Dialog Der Staatsmann liest, der sieht sich zu Beginn noch mit einem kurzen Austausch zwischen Sokrates und Theodoros konfrontiert, bevor diese Figuren vollständig in den Hintergrund treten und sich ein Gespräch entwickelt zwischen einem Gast (dem Fremden aus Elea) und einem Schüler, der ebenfalls den Namen Sokrates trägt und im Dialog als der jüngere Sokrates bezeichnet wird. Der Dialog präsentiert ein Lehrgespräch zwischen den zweien: Der Fremde leitet das Gespräch und setzt derweil zu längeren Ausführungen an, wohingegen der jüngere Sokrates Nachfragen stellt oder zumeist lediglich affirmative Floskeln beisteuert („gewiss“, „gut gesagt“, „richtig“, „das soll geschehen, sprich nur weiter“, etc.). Nur ganz am Ende meldet sich der ältere Sokrates nochmals zu Wort und bedankt sich beim Fremden dafür, dass er so schön ausgeführt hat, was sich als zentrale Frage des Dialogs präsentiert: „Vortrefflich, o Gastfreund, hast du uns nun auch den Herrscher und Staatsmann dargestellt“ (311c).25

 

Genauer geht es im Dialog um die Bestimmung und Darstellung des wahren Staatsmanns. Eine erste begriffslogische Bestimmung des Staatsmanns definiert ihn als „Hirten der Menschen“, was sich dann sogleich als unbefriedigend erweist, wenn aus einem groß angelegten Mythos vom goldenen Zeitalter des Kronos die Pointe entspringt, dass ein göttlicher Hirte der menschlichen Herde im Zeitalter des Zeus (also in dem Zeitalter, in dem der Dialog spielt) schlicht nicht auffindbar sei. Man habe, so der Fremde, „einen Gott statt eines Sterblichen“ beschrieben (275a) und auch anderweitig gefehlt, was im Text zu einer Neubestimmung führt: Der wahrhafte und wirkliche Staatsmann ist derjenige, der die Kunst der „freiwilligen Herdenwartung“ (die nun von der Aufzucht der Herde losgelöst ist) über „freiwillige zweibeinige lebendige Wesen“ beherrscht (276e). Der Diskussion über das Wesen des Beispiels (277d–277e) schließt sich ebenfalls beispielhaft eine weitere begriffslogische Bestimmung an, dieses Mal eine Bestimmung der Webkunst (279a–281d) sowie eine Erörterung über das Wesen des Maßes (283b–287a). Die politische Thematik tritt in der Folge alsbald expliziter in den Vordergrund (und Überlegungen zur begriffslogischen Methode der Dihairesis entsprechend in den Hintergrund), wenn der Fremde vorschlägt: „Lass uns jetzt wieder zum Staatsmann zurückkommen und das vorher durchgeführte Beispiel der Weberei an ihm versuchen“ (287a–287b). Dieser Versuch rückt einen neuen Gesichtspunkt ins Zentrum der Diskussion:

DER FREMDE: Notwendig ist also auch unter den Staatsverfassungen, wie es scheint, diejenige die richtige vor allen andern und einzige Staatsverfassung, in welcher man bei den Regierenden wahrhafte und nicht nur eingebildete Erkenntnis findet, mögen sie nun nach Gesetzen oder ohne Gesetze regieren und über Gutwillige oder Gezwungene und arm sein oder reich, denn davon ist gar nichts niemals irgendwie für die Richtigkeit mit in Anschlag zu bringen.

DER JÜNGERE SOKRATES: Schön. (293c)

Die Ausführungen zum wahren Staatsmann verbinden sich nun mit Fragen der richtigen Staatsverfassung, in der es schon vorkommen kann, dass der Staatsmann „einige töten oder verjagen, und so zu seinem Besten den Staat reinigen“ muss (293c).26 Es ist dennoch nur diese die einzig richtige Staatsverfassung; alle anderen, die man vielleicht auch so nennt, sind „Nachahmerinnen jener, von denen die wohlgeordneten sie besser, die anderen schlechter nachahmen“ (293d–293e).

Dass Gesetze keine Rolle spielen sollen, das findet der jüngere Sokrates dann doch nicht schön, sondern „hart anzuhören“ (293e). Es folgt ein Exkurs zu den verschiedenen nachahmenden Staatsverfassungen, wobei sich das Königtum, die Aristokratie und die bessere Form der Demokratie als „gute“ oder „bessere“ Abbilder (mimemata) der einzig richtigen Staatsverfassung genau dann erweisen, solange sie, „wenn ihre Gesetze einmal bestehen, niemals etwas tun, weder gegen die geschriebenen noch gegen die väterlichen Gebräuche“ (301a). Der Grund dafür ist, dass unter ihnen keine „Kunstverständige“ seien, welche die „Staatswissenschaft“ beherrschten, was vonnöten wäre, um Gesetze sachgemäß zu ändern. „Gute“ Nachahmungen der einzig richtigen, auf einen wahren und wissenden Staatsmann aufbauenden Staatsverfassung sind demnach solche, die auf Gesetzen beruhen und diese unberührt lassen. Der Text lässt keinen Zweifel daran, dass es sich hierbei um „gute“ Gesetze handeln muss.

Der Dialog endet mit einer letzten Bestimmung des wahren Staatsmanns, die nun tatsächlich auf das Beispiel der Weberei abhebt (305d–305e; 310d–311c). Der wahre Staatsmann ist laut dem Fremden aus Elea derjenige, der ein Experte darin ist, die unterschiedlichen grundlegenden Charaktere und Temperamente und die sich dahinter verbergenden Tugenden, besonders die Tapferkeit und die Besonnenheit, „zusammenzuweben“ (306a). Würden diese „in Feindschaft und Zwietracht“ (306b) belassen, müssten zwangsweise politische Probleme resultieren. Die Staatskunst erweist sich als übergelagerte Expertise, den „richtigen Moment“ (kairos) für die Anwendung anderer Arten von Expertenwissen zu erkennen. Damit scheint der Dialog inhaltlich in Umrissen eine klare Position zu vertreten (wobei letztlich aber unklar bleibt, ob der Dialog insgesamt nicht eher auf methodische Aspekte abzielt oder beides in bedeutsamer Weise zusammenhängt). Die politische Kunst ist einigen Wenigen vorbehalten – ja, wie der Dialog suggeriert, zu Zeiten des Geschehens wohl von niemandem beherrscht.

3.3 Identifizierung des interpretationsbedürftigen Texts

Natürlich ließe sich diese Schlussdefinition des Staatsmanns als Weber in vielerlei Hinsicht weiterverfolgen und hinterfragen. Mit Blick auf die Gesamtstruktur des Dialogs erweist sich jedoch auch der Teil zu den Gesetzen und ihrer unterschiedlichen Rolle zum einen in der einzig richtigen Staatsverfassung und zum andern in den diese nachahmenden Staatsverfassungen als interpretationsbedürftiger Exkurs. Auch wenn die Dramaturgie des Dialogs insgesamt auf eine Darstellung des wahren und wissenden Staatsmanns hinausläuft, so rückt der Exkurs ein Thema in den Vordergrund, das nicht ohne Grund prominent behandelt wird und dessen Bedeutung an Aktualität kaum eingebüßt haben dürfte. Auch demokratisch verfasste Staatsverfassungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts basieren auf dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit.

Vielen, die den Dialog studiert haben, ist ein Problem aufgefallen, das damit zu tun hat, wie und was genau nachgeahmt wird. Es ist unklar, was die auf unabänderlichen Gesetzen beruhenden Staatsverfassungen noch mit der auch ohne Gesetze auskommenden, einzig richtigen Staatsverfassung gemein haben sollen, da hier die Gesetze jederzeit verändert werden dürfen. Was rechtfertigt es, von „Abbildern“ oder „Nachahmungen“ zu sprechen? In anderen Worten: Wie kann man behaupten, dass Verfassungen, deren Hauptmerkmal unabänderliche Gesetze sind, gute „Nachahmungen“ einer Verfassung darstellen, deren Hauptmerkmal auf dem Wissen des wahren Staatsmanns und explizit gerade nicht auf der Existenz und Bedeutung von unabänderlichen Gesetzen beruht? Wäre es nicht gar naheliegender, wenn die „schlechten“ Verfassungen (also die Tyrannis, die Oligarchie und die schlechte Form der Demokratie“) sich als die „besseren“ Abbilder entpuppten, da ihr Hauptmerkmal ja ebenfalls in der Abwesenheit guter Gesetze besteht?

Genau besehen scheint die ‚Nachahmung‘ auf einem Paradox zu beruhen, wie dies z. B. an einer Stelle auch Melissa Lane beschreibt.27 Einige Erklärungen für das Paradox sind schnell zur Hand, aber wohl auch ebenso schnell entkräftet. So kann man getrost die Möglichkeit ausschließen, dass Platon sich des Paradoxes vielleicht nicht bewusst war, hat er doch ausführlich zum Wesen der Nachahmung geschrieben, nicht zuletzt im Der Staatsmann selbst im Rahmen seiner Untersuchung zum Wesen des Beispiels (paradeigma) und der Rolle, die dabei die Ähnlichkeit spielt.28 Auch scheint die Erklärung wenig überzeugend, dass der Fremde glauben machen möchte, dass der beste Weg, die einzig richtige Staatsverfassung zu imitieren, eben darin bestünde, nicht zu versuchen, sie zu imitieren.29 Eine weitere Erklärung versucht die Nachahmung so zu präzisieren, dass die gesetzmäßigen Verfassungen unabänderliche gute Gesetze hätten, die von einem wissenden Gesetzgeber in der Vergangenheit übernommen worden seien. In Abwesenheit dieses Gesetzgebers wäre dann das Festhalten an den Gesetzen die bestmögliche Lösung. Auch diese Erklärung überzeugt jedoch nicht, da ihr gemäß streng genommen gar nichts mehr nachgeahmt wird, sondern man einfach in der Situation der Abwesenheit des wissenden Staatsmanns verharrt, die auch der Dialog in seinen Ausführungen zur einzig richtigen Staatsverfassung behandelt. Dort ist im Übrigen zudem festgehalten, dass der „wissende Gesetzgeber in der Vergangenheit“ die Gesetze notwendigerweise aus Unwissenheit aufgestellt hat. Wie der Fremde von Elea erwähnt, hat er doch lediglich auf seine Erfahrung und die Meinung der Mehrheit zurückgegriffen (298a–299c).30

Eine interessante Erklärung, die nicht so leicht von der Hand zu weisen ist, streicht ebenfalls die Situation der Abwesenheit des wissenden Staatsmanns hervor, behält aber die Trennung von nachgeahmter und nachahmenden Staatsverfassungen bei.31 Indem die nachahmenden Staatsverfassungen vorsehen, dass die Gesetze nicht geändert werden können, imitieren sie ein Merkmal der einzig richtigen Staatsverfassung, das dort eben relevant wird, wenn der wissende Staatsmann abwesend ist. Insoweit ein solcher Staatsmann den nachahmenden Staatsverfassungen ebenfalls nicht zur Verfügung steht, es um sie also so bestellt ist, als wäre ein zur Verfügung stehender wissender Staatsmann soeben abwesend, findet tatsächlich eine Nachahmung statt. Das Merkmal, das für die Nachahmung konstitutiv ist, also dafür sorgt, dass überhaupt etwas nachgeahmt wird, bezieht sich nur auf einen Teilaspekt der einzig richtigen Staatsverfassung. Es handelt sich um eine Art Notfallregelung, die im Dialog in praktischer Hinsicht als unumgänglich eingestuft wird und angesichts der schieren Anzahl von Einzelfällen der Praxis des wissenden Staatsmanns zugestanden wird. (Auch er wird ja Gesetze erlassen müssen, da er nicht fähig ist zu tun, wozu sein Wissen ihn prinzipiell befähigen würde, nämlich jeden Einzelfall in seiner Besonderheit zu beurteilen, cf. 295a.) Im Prinzip wird im Dialog aber diese Notwendigkeit, sich auf Gesetze stützen zu müssen, unmissverständlich als eine Abweichung vom Ideal ausgewiesen.

Eine ähnliche, ebenfalls ausführlich argumentierte Erklärung betont, dass die eben erwähnte Notwendigkeit, dass auch der wissende Staatsmann Gesetze erlassen muss, die einzig richtige Staatsverfassung zunächst einmal „rehabilitiert“.32 Im Dialog wird ja auch die Möglichkeit erwogen, dass die als Memoranda erlassenen Gesetze nicht so rigide sein können, dass ein vorzeitig zurückkehrender wissender Staatsmann sie bei geänderten Umständen nicht anpassen könnte. Nur in dieser Hinsicht erfüllten Gesetze in der einzig richtigen Staatsverfassung eine wichtige Funktion. Den Gesetzen werde im Dialog, in der Diskussion um die nachahmenden Staatsverfassungen, also durchaus „eine neue Rolle“ gegeben.33 Die einzig richtige Staatsverfassung wird „so weit wie möglich“ (eis dunamin) nachgeahmt, indem die Gesetze nicht geändert werden; dieser Ausdruck und die darin erwähnte Möglichkeit sind nun so zu verstehen, dass „im Kontext einer Anwendung des Ideals auf eine begrenzte und fehlerhafte materielle wie menschliche Welt … unweigerlich substantielle Änderungen involviert sein werden“ – und der Dialog im Staatsmann handle im Exkurs zu den Gesetzen genau von einem solchen Anwendungskontext.34 Nachahmung sei im Der Staatsmann nicht so zu verstehen, als ginge es darum, möglichst ähnlich wie ein Modell zu sein (eine Sicht, die in den Dialogen Der Staat und Timaeus propagiert werde). Vielmehr basiere das Wesen der Nachahmung im Der Staatsmann auf einem Merkmal „zweiter Ordnung“, welches dem Modell wie der Nachahmung gemeinsam ist. Diese Sichtweise der Nachahmung erlaubt es, dass Modell und Kopie sehr verschiedener Gestalt sein können. Auch hier handelt es sich bei diesem Merkmal darum, dass sowohl die nachahmenden Staatsverfassungen wie die einzig richtige Staatsverfassung ihre Gesetze nicht ändern, solange dafür keine Expertise vorhanden ist:

Der Staatsmann, der in den zweitbesten Städten nicht erschienen ist, ist vergleichbar mit dem Staatsmann in der besten Stadt, der weggeht und geschriebene Instruktionen hinterlässt. In keinem Fall werden die Gesetze geändert bis dass der Experte (wieder) erscheint. Dies verbindet die zweitbesten Staatsverfassungen mit der idealen nur in Hinblick auf das Merkmal zweiter Ordnung ‚nicht die Gesetze ändern ohne den Rat des Experten‘. Oberflächlich werden sie ziemlich verschieden sein. Jedes wird seine eigenen Gesetze herleiten, im Fall des Ideals in Form von Memoranda, und im Fall der Zweitbesten aus Erfahrung und Überredung. Es gibt keinen Grund zu erwarten, dass der Inhalt dieser Gesetze irgendwie ähnlich sei. Nachahmung der idealen Verfassung ‚so weit wie möglich‘ ergibt keine plausible Ähnlichkeit auf der Oberfläche, aber eher – mit Blick auf das radikal unterschiedliche Material, das aus der Anwesenheit oder Abwesenheit von Wissen resultiert – eine strukturelle Gemeinsamkeit unter der Hautoberfläche.35

 

Die in der Sekundärliteratur zu Der Staatsmann zahlreichen, mit Blick auf die paradox anmutende Nachahmung vorgebrachten Erklärungen zeigen, dass der Dialog an dieser Stelle im Exkurs zu den Gesetzen einen Interpretationsbedarf aufweist, der als solcher im Fachdiskurs anerkannt ist. Nachfolgend soll nun mittels einer Interpretation mit dem biografischen Ansatz ein Klärungsversuch unternommen werden. Diese Herangehensweise unterscheidet sich von den genannten Interpretationen nur teilweise, denn auch sie erhoffen sich nicht selten Klärung durch die Herstellung von Bezügen zu Platons Leben. Von Willamowitz-Moellendorfs Anfang des 20. Jahrhunderts verfasstes Buch wendet den biografischen Ansatz sogar konsequent an. Zur Rolle der Gesetze, der in der nachstehenden Anwendung mit dem biografischen Ansatz detailliert nachgegangen werden soll, ist so Folgendes zu lesen:

Platon selbst hat den durch keine Gesetze auf die beschränkte Wirksamkeit eines Beamten herabgedrückten, in wahrhaft königlicher Freiheit zum allgemeinen Segen herrschenden Weisen hier zwar vorgezeichnet, aber gerade hier denkt er nicht daran, dass er jetzt oder jemals in Erscheinung treten soll. Gerade hier hat er durchaus das praktisch Durchführbare im Auge; kein Zweifel, dass er an Syrakus denkt. Daher ist ihm die durch eine Verfassung gebundene Monarchie die beste mögliche Staatsform (305e).36

3.4 Interpretation: Platons neuer Realismus

Lässt sich die paradox anmutende und interpretationsbedürftige Rolle der Gesetze in der einzig richtigen Staatsverfassung und den sie nachahmenden Staatsverfassungen mittels Rückgriff auf ein Ereignis oder eine Begebenheit im Leben Platons erklären? Für von Willamowitz-Moellendorf ist es klar, dass Platon Syrakus vor Augen hatte – und Platons zweite Reise dorthin bietet tatsächlich den naheliegendsten Kandidaten für ein Ereignis, das Platons Denken über die Rolle von Gesetzen verändert haben könnte. Hatte Platon sich nach dem Tod des Sokrates von einer politischen Karriere zunächst abgewendet und sich ganz dem Philosophieren verschrieben (und vielleicht bereits einen guten Teil vom Der Staat verfasst37), so hat sich ihm mit der Einladung an den Königshof des Dionysios I. nach Syrakus eine Gelegenheit geboten, sich politisch zu betätigen. Platon nahm diese Einladung an, lernte dort Dion kennen, und wurde aber aufs Neue enttäuscht. So soll er, nach Athen zurückgekehrt, dort seine Akademie begründet haben und sich ganz aufs Unterrichten konzentriert haben.

Auch wenn die erste Sizilienreise in einer Enttäuschung geendet hat, so hat sie Platon auch die Freundschaft mit dem Dion gebracht, der viele Jahre später Platon ein zweites Mal nach Sizilien zu bewegen vermochte. Dieses Mal sah er sich einer gänzlich neuen Situation gegenüber. Inzwischen war Dionysios I. verstorben und ihm sein Sohn Dionysios II. auf den Thron gefolgt. Inzwischen hatte Platon auch seinen Dialog Der Staat (Politeia) mit der zentralen Idee der Philosophenkönige fertig geschrieben, damit in Athen aber kaum ein Echo hervorrufen können. Als er die Einladung nach Syrakus erhielt, schien sein Moment gekommen. In Dionysios II. muss er die Chance gesehen haben, das in Der Staat ausgeführte Ideal in die politische Wirklichkeit umzusetzen. Freilich kam es nicht dazu. Dionysios II. war für Platons Vision nicht zugänglich. Nur mit Mühe konnte Platon überhaupt aus Sizilien wieder ausreisen und schrieb in Athen angelangt bald darauf den Staatsmann. Die erneute Enttäuschung in Sizilien führte dazu, dass sich im Dialog Der Staatsmann ein neuer Realismus bei Platon zeigt, unter anderem, was die Rolle von Gesetzen anbelangt. Gesetze dürfen nun im Rahmen der das Ideal nur nachahmenden Staatsverfassungen nicht mehr übergangen werden, wenn sich der Staatsmann als wissend gebärdet, ohne es zu sein. Das Ideal eines keiner Gesetze bedürfenden wahren und wissenden Staatsmanns bleibt im Dialog bestehen. Daran wird nicht gerüttelt. Gerade weil es sich bei den behandelten zweitbesten Staatsverfassungen nur um „Nachahmungen“ handelt, ermöglicht es Platon mit einem im Licht seiner Sizilienerfahrung gewonnenen, neuen Realismus auch philosophisch neue Wege zu gehen. Dass die „Nachahmung“ nicht vollends aufzugehen scheint und paradox anmutet, scheint er bewusst in Kauf genommen zu haben. Derart einschneidend war das Erlebte in Syrakus.

Worauf stützt sich diese biografische Deutung? Es scheinen folgende Ereignisse und Begebenheiten für die Interpretation besonders bedeutsam:

(a) Abwendung von der Politik nach dem Tod des Sokrates bis auf Weiteres.

(b) Die erste Sizilienreise als neuerliche Hinwendung zur Politik.

(c) Entwurf der idealen Staatsverfassung in Der Staat, die praktisch umgesetzt werden sollte oder wenigstens praktisch umgesetzt werden könnte.

(d) Zweite Sizilienreise als Chance, die ideale Staatsverfassung umzusetzen.

(e) Enttäuschung der zweiten Sizilienreise; Erkenntnis, dass sich die ideale Staatsverfassung nicht einfach umsetzen lässt; Herrschaft guter, unveränderlicher Gesetze als beste Nachahmung der idealen Staatsverfassung.

Sind diese Ereignisse und Begebenheiten durch frühe biografische Quellen abgestützt und welche zusätzlichen Einzelheiten können aus diesen des Weiteren herbeigezogen werden?

Der Siebte Brief

Die bei weitem ergiebigste Quelle für Platons Leben wie auch für eine biografische Deutung des Staatsmanns und des darin enthaltenen Exkurses zur Rolle der Gesetze ist der bereits mehrfach erwähnte Siebte Brief.

Reflexionsbox 5: Nochmals – der Siebte Brief und der biografische Ansatz

Wenn die Informationen im Siebten Brief für verlässlich gehalten werden können, dann dürfen diejenigen, die den Brief nicht Platon selbst, sondern dem engeren Umfeld zuschreiben, die im Brief zum Ausdruck gebrachten Gefühle und Motivationen argumentativ nur mit Vorsicht in Betracht ziehen, wohingegen diejenigen stärker psychologisieren dürfen, die den Brief für vollständig authentisch halten. Der Unterschied ist graduell, da ja ein naher Vertrauter durchaus auch etwas über die Motivationen und Gefühle von Platon wissen könnte. Die in diesem Kapitel vorgebrachten Verweise zum Siebten Brief gehen davon aus, dass der Brief von einem nahen Vertrauten geschrieben wurden. Sollte der Brief tatsächlich von Platon stammen, ändert das die vorgebrachte Interpretation nur insoweit, als dass ihr noch größere Überzeugung zukäme.

Zu (a)

Der Siebte Brief unterteilt Platons Abwendung von der Politik in zwei Phasen. Nachdem die Absicht des jungen Platons betont wird, sich nach dem Heranreifen „an der Verwaltung des Staates zu beteiligen“ (324c), wird eine ersten Abwendung geschildert, nachdem die dreißig Tyrannen (denen Platon laut Brief zunächst Vertrauen schenkte, 324d–e) den Sokrates vergeblich für ihre Zwecke einspannen und ihn „ausschicken wollten, um ihnen einen der Bürger mit Gewalt zur Schlachtbank zu führen“ (324e). Im Brief heißt es in der Folge: „Als ich, sag’ ich, alle diese und noch etwelche andere Gräueltaten ansah, da bekam ich einen Ekel an dieser neuen Politik und zog mich zurück von der damaligen Misswirtschaft“ (325a–b). Nach dem Sturz der dreißig Tyrannen erwägt Platon wiederum eine politische Aktivität mit den zurückgekehrten „Demokraten“, die verständlicherweise, so der Briefautor, „Repressalien“ ergreifen würden, denen er aber auch „Mäßigung“ attestiert (325b–c). Doch „ein Unstern“ kündigte sich in Platons politischem Leben an, der zu einer zweiten Abwendung führen sollte, als Sokrates von einer „Stimmenmehrheit“ wegen „Gottlosigkeit“ zum Tod verurteilt wird. Der Brief beschreibt die Abwendung folgendermaßen:

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