Religionsphilosophie

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

c) Wittgenstein: Vom wirklich Wichtigen lässt sich nichts sagen

Ludwig Wittgenstein (1889–1951) gehört zu den ganz wenigen Denkern, die gleich zwei namhafte Richtungen des Philosophierens angestoßen oder doch mit wesentlichen Impulsen versehen haben. Sein Frühwerk ›Tractatus Logico-Philosophicus‹ (1921/1922) ist ein Schlüsselbuch für diejenige Philosophie, die sich der formalen Logik und einem engen Bezug zur Empirie verschrieben hat und für die die klassischen Themen der Metaphysik und auch der rationalen Theologie fern und absurd klingen. Nach gedanklichen Umbruchphasen arbeitete Wittgenstein bis zwei Jahre vor seinem Tod an den ›Philosophischen Untersuchungen‹ (erschienen postum 1952). Dieses Werk hat eine ganz andere Richtung der Philosophie inauguriert, die Philosophie der normalen Sprache. Die Philosophischen Untersuchungen haben in der Theologie – vor allem im evangelischen Bereich – teilweise interessierte Aufnahme gefunden. Das ist durchaus erstaunlich, weil religiöse Themen in ihnen so gut wie keine Rolle spielen. Durchaus anders ist das im Tractatus. Für die Frage nach der Darstellbarkeit des Nicht-Darstellbaren ist ein Blick darauf lohnend, weil Wittgenstein die bei Kant erkennbare Tendenz durchaus noch einmal verstärkt, dabei aber eigene Akzente setzt.

›Der Tractatus‹, wie das Buch, das sein Autor selbst als ›Logisch-Philosophische-Abhandlung‹ betitelte, stets genannt wird, ist ein genauso schmales wie außerordentlich streng komponiertes Buch. Auf unter 80 Seiten legt Wittgenstein unter anderem eine Ontologie, eine Satztheorie, eine Wahrheitstheorie und anderes vor. Die argumentative Struktur ist dabei völlig in die hierarchische Bezifferung der einzelnen Sätze integriert, so dass Satz 1 von Satz 1.1 erläutert wird usw. Das Buch hat sieben Hauptsätze und eine fein gegliederte Hierarchie von mehreren hundert Unter-Sätzen. Bereits hier zeigt sich die strenge Richtung der analytischen Philosophie, die auf logische Nachvollziehbarkeit der Gedankenführung großen Wert legt.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der Tractatus an Themen der Religion keinerlei Interesse haben dürfte. Denn in ihm wird die Anschauung des logischen Atomismus vermittelt: Die Welt ist ein großes gegliedertes Ganzes. Die einzelnen Teile der Welt kann man Dinge oder Gegenstände nennen. Sie treten in sehr vielen verschiedenen Gruppierungen auf, die Wittgenstein Sachverhalte nennt. Die Gesamtheit aller Sachverhalte macht die Welt aus. Einzelne Sachverhalte sind voneinander unabhängig und man kann nicht von einem Sachverhalt auf den nächsten schließen. (2.061 und 2.062) – Das ist bereits die Grundintuition des logischen Atomismus, nach dem wir uns die Welt als Ensemble relativ unverbundener Dinge und Zustände denke sollen, eben als riesiges Aggregat von selbständigen Atomen.

Dieser Welt korrespondiert die menschliche Fähigkeit zur Erkenntnis. Freilich kann als Erkenntnis nur das gelten, was die Struktur der Gegenstände, Dinge und Sachverhalte abbildet. Wahre Sätze sind also Abbilder der Wirklichkeit. Die einfachsten dieser Sätze werden – im Tractatus nicht dem Begriff, aber der Sache nach – oft als Protokollsätze bezeichnet, weil es ihre Aufgabe ist, ein kleines Stück Wirklichkeit getreu abzubilden. (2.18) Neben diesen Protokollsätzen sind nur noch solche Sätze wahrheitsfähig, die als logische strenge Ableitungen aus ihnen hervorgehen. Das damit verbundene Ziel ist: Eine Sprache, die mit Protokollsätzen beginnt und nur logische Ableitungen aus ihnen zulässt, ist wahres Reden über den Zustand und Inhalt der Welt. Alles andere Sprechen – das es ja in größter Zahl und Variationsbreite gibt – ist demgegenüber pure Phantasie und nicht wirklichkeitshaltig.

Diese philosophische Stoßrichtung war vor allem gegen die spekulativen und metaphysischen Richtungen der europäischen Philosophie gerichtet, die Ideen für das eigentlich Wirkliche hielten und den Kontakt zur empirisch fassbaren Wirklichkeit entsprechend gering schätzten. Ihnen sollte gezeigt werden, dass es sich um nicht mehr als Phantasie und Geisterseherei handelte. Ein von der gesamten Richtung des logischen Atomismus durchaus gewünschter Nebeneffekt war, dass die Rede von Gott und Religion in der Philosophie keinerlei Rolle mehr spielen sollte, weil ihre Sätze ja evidenterweise nicht als Protokollsätze von einfachsten Dingen, Gegenständen und Sachverhalten beginnen und daraus logische Ableitungen vornehmen. Es gehört – auch und zumal für die ersten Rezipienten des Tractatus in den 1920er Jahren – zum Überraschenden des Werks, dass in ihm sehr wohl von Ethik, Gott, Religion und sogar von Mystik die Rede ist.

Möglich oder sogar zwingend wird das für Wittgenstein, weil es die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen gibt. Sinnvollerweise sagen kann man nur Sätze, die die Wirklichkeit protokollieren, sowie Ableitungen von diesen Sätzen. Es gibt aber noch mehr in der Welt, was Menschen durchaus brauchen und worauf sie rekurrieren. So muss zum Beispiel, wer Protokollsätze anfertigt, davon ausgehen, dass die Form seiner Sätze und die Form derjenigen Wirklichkeit, die von ihnen abgebildet wird, identisch sind. Dass das so ist, darüber kann kein sinnvoller Protokollsatz gebildet werden, es muss sich vielmehr zeigen. So ist bereits die Formulierung eines Protokollsatzes darauf angewiesen, dass es die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen gibt. Die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ist aber noch für ganz andere Bereiche wichtig, so zum Beispiel für die Ethik: Dass es Ethik gibt, ist irgendwie klar, denn Menschen müssen sich verhalten und sie müssen sich dabei – nicht immer, aber oft genug – entscheiden. In den logisch bildbaren Sätzen kann die Ethik aber nicht enthalten sein, weil diese ein Abbild der Gegenstände der Welt darstellen und weiter nichts. Folgerung: »Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.« (6.42) Ich kann in sinnvollen Sätzen nicht über Ethik sprechen. Gibt es sie also nicht? Im nächsten erläuternden Satz sagt Wittgenstein: »Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt.« (6.421) Die Schlussfolgerung heißt also: Nur weil sich etwas nicht sagen lässt, heißt es noch lange nicht, dass dies ›etwas‹ nicht existiert. Es gehört allerdings dem Bereich des Zeigbaren, nicht dem des Sagbaren an.

Diese Bestimmung wendet Wittgenstein auch auf den Bereich dessen an, was er im Tractatus Mystik nennt und was mit Religion in etwa deckungsgleich ist. Mystik bzw. das Mystische ist geradezu das Paradebeispiel für die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (6.522)

Und was ist dann das Mystische? Wittgensteins erste Antwort ist knapp und vielleicht enttäuschend: »Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.« (6.5) Das ist, hält man sich die Satztheorie des Tractatus vor Augen, konsequent. Freilich geht Wittgenstein in einigen Andeutungen doch weiter. Wie kann sich etwas zeigen, das außerhalb der sinnvollerweise bildbaren Sätze liegt? Es kann sich nicht auf Teilbereiche der Welt beziehen, weil diese ja in Protokollsätzen beschreibbar wären. Also muss es mit dem Ganzen der Welt zu tun haben. Wittgenstein rekurriert auf die Erfahrung, dass zwei Menschen genau dasselbe sehen und dabei doch ganz andere Empfindungen haben können: »Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die Welt des Unglücklichen.« (6.43) Es geht also um eine Einstellung zur Welt überhaupt. Sie kann sich, so viel sollte klar sein, nur zeigen. In logisch sinnvollen Sätzen kann sie nicht debattiert werden. Und doch ist unabweisbar, dass es solche Einstellungen gibt und dass jeder Mensch so oder so dem Ganzen der Welt gegenüber eingestellt ist. Wer sich in einer Einstellung vorfindet, die das Ganze der Welt dankbar und staunend hinnehmen kann, dürfte den Satz mitsprechen können: »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.« (6.44) Und was, so suggeriert er damit, wäre wichtiger als dies?

Mehr inhaltliche Auskunft gibt der Tractatus zum Mystischen kaum. Wittgenstein deutet noch an, dass sein Mystikverständnis etwas mit Gott zu tun hat, (6.432) und er beendet sein Buch mit dem Hinweis, dass er, um sinnvolle Sätze möglich zu machen, lauter sinnlose sagen musste. (6.54)

Der Beitrag des frühen Ludwig Wittgenstein zum in diesem Kapitel verhandelten Grundproblem lässt sich anhand von zwei Beobachtungen einordnen: (1) Wittgenstein verschärft den bei Immanuel Kant anzutreffenden Zug noch einmal: Eine Lehre über Gott kann es wirklich nicht geben. Das geht für ihn sogar so weit, dass auch eine regulative Idee namens ›Gott‹, die es bei Kant ja gibt, sinnlos ist. Die erkenntnistheoretischen Annahmen – also die Frage, wie und worüber sinnvolle Sätze gebildet werden können – sind bei Kant und Wittgenstein unterschiedlich, die Grundtendenz in Sachen Unaussagbarkeit Gottes aber ähnlich und bei Wittgenstein noch weiter getrieben. (2) Wittgenstein identifiziert, wie eben gesehen, ›das Mystische‹ und die grundlegende Haltung zur Welt: Bei identischem Inhalt der Welt ist die Welt des Glücklichen eine andere als die des Unglücklichen. Gott/Mystik und die Haltung zur Welt sind also eng miteinander verbunden. Dieses Motiv gibt es bei Kant nur recht indirekt: Für ihn ist die Annahme, Gott existiere, eine notwendige Implikation der Ethik. Man soll aber nicht auf Gott schauen und sich Belohnungen erhoffen, sondern nur und ausschließlich pflichtgemäß handeln. Wittgenstein bringt also den Bezug auf Gott/Mystik und das, was man mit einem ungeschickten Wort das Lebensgefühl nennen könnte, näher zusammen als Kant. Damit erreicht er eine Wiederannäherung an die Konstellation, mit der dies Kapitel begann: Für Platon ist der Bezug zum Höchsten ja nur aussagbar, indem der Lebensweg und damit auch die vielfältigen Erfahrungen des Philosophen in den Blick genommen werden.

 

Irgendwie, so scheint es, gehören beide zusammen: Die Unnennbarkeit Gottes auf der einen Seite und der Umstand, dass genau damit Erfahrungen verbunden sind, die etwas mit Orientierung, Ausrichtung des Lebens und mit der Wirklichkeit als ganzer zu tun haben. Dieser Konnex – Unnennbarkeit Gottes auf der einen Seite und damit verbundene Orientierung auf der anderen – ist damit erst anfänglich benannt und absichtlich vage umschrieben. Er wird sich für den religionsphilosophischen Gedanken als zentral erweisen, der im nächsten Kapitel vorgestellt wird.

3. Negative Theologie

Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt/M. 1964; ders., Negative Dialektik, Frankfurt/M. 51988. Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. Vollständige Ausgabe, Freiburg 2006; J. Derrida, Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an der Grenze der bloßen Vernunft, in: ders./G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt/M. 2001, 9–106; ders., Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 22006; M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Abtlg. III, Bd. 65, Frankfurt/M. 32002; ders., Zur Seinsfrage, in: Wegmarken, Frankfurt/M. 1976, 385–426; J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004; G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III, Werke 10, Frankfurt/M. 1986; ders., Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt/M. 1986; Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur, übers. v. L. Noack, Hamburg 31994; I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke II, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1983; A.A. Long/D.L. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, Stuttgart/Weimar 2000; O. Marquard, Apologie des Zufälligen, Philosophische Studien, Stuttgart 1986; G.S. Kirk/J.E. Raven/M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Stuttgart 1994; Pseudo-Dionysius Areopagita, Corpus Dionysiacum II, hg. von G. Heil und A.M. Ritter, Berlin/New York 1991; ders., Über die Mystische Theologie und Briefe, hg., eingel. und übers. von A.M. Ritter, Stuttgart 1994; Plotins Schriften, Bd. V a/b übers. v. R. Harder, hg. v. R. Beutler/W. Theiler, Hamburg Neudruck 2004; Th. Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005, R. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/M. 1987.

Die Rückfragen bei Platon, Kant und Wittgenstein im letzten Kapitel hatten den Zweck, exemplarisch Auskunft zum Basisdilemma der rationalen Theologie zu erhalten. Diese war davon ausgegangen, dass die Religionsphilosophie sich sinnvollerweise mit dem Phänomen ›Gott‹ befasst. Der Wechsel ›Philosophie der Religion statt rationaler Theologie‹ erscheint ihr nicht statthaft. Freilich handelt man sich sofort und hartnäckig das Problem ein, dass es zum Wesen Gottes gehört, über alles Begreifen hinaus zu sein. Auf je ihre Weise zeigten die drei, dass das Problem wirklich persistent auftaucht und dass sich bei allen Unterschieden dennoch eine gewisse Ähnlichkeit bei den Versuchen des Umgangs mit diesem Dilemma ergibt. Man kann in der Reihenfolge der Darstellung wohl von einer Zunahme der Auskunftsarmut in Sachen Gott sprechen – also von einer Radikalisierung des Motivs –, aber die Verbindung aus Bezug zum unnennbaren Gott und einer damit einhergehenden Orientierung in der Welt war doch bei allen dreien zu beobachten. Diejenige philosophische Tradition, die diesen Konnex ins Zentrum ihrer Erwägungen stellt, ist die sog. Negative Theologie. Ihren Namen hat sie von der Unmöglichkeit, positive Aussagen über Gott machen zu können (und nicht etwa davon, dass sie ›negativ‹ im Sinne von etwas Schlechtem sei). Dass ihre Motive schon sehr früh, im vierten vorchristlichen Jahrhundert, anzutreffen sind, war bei dem Blick auf Platon zu sehen – sie finden sich sogar noch früher, erstmals beim vorsokratischen Philosophen Xenophanes von Kolophon (um 570−475 v.Chr.; Kirk/Raven/Schofield 182−188). Zum Programm und einprägsamen Stichwort wurde sie freilich erst gegen Ende der lateinischen Antike, als christliche Theologen von der auf Platon zurückgehenden Tradition Gebrauch machten, um ihre christlich-theologischen Anliegen zu erörtern. Durch eine exemplarische Analyse von wenigen Zeilen aus dem Hauptwerk eines dieser Denker soll die Negative Theologie vorgestellt werden. Im zweiten Schritt wird das mit der Position eines gegenwärtigen Philosophen konfrontiert, der eine teils recht eigene Lesart Negativer Theologie vorschlägt, im dritten folgt eine erste Überprüfung ihrer Leistungsfähigkeit und vierten einige Informationen zu weiteren Ansätzen Negativer Theologie in der Gegenwart.

a) Pseudo-Dionysius Areopagita und die »Mystische Theologie«

Pseudo-Dionysius Areopagita lebte im 6. Jahrhundert nach Christus. Über sein Leben und seine Person ist fast nichts bekannt. Da sein literarischer Name – eine Anspielung auf den Dionysius auf dem Areopag von Athen aus Apg 17,34 – kaum sein richtiger gewesen sein dürfte, wird er gewöhnlich mit »Pseudo-« als Namensvorsatz zitiert. Aus seinem Werk ist vor allem eine kleine, gerade einmal siebenseitige Schrift berühmt geworden, »Über die mystische Theologie«. Ihr Beginn stellt das Sachanliegen der Negativen Theologie in nahezu idealer Weise vor.

›Das‹ klassische Zitat zur Negativen Theologie

»Überwesentliche, übergöttliche, übergute Dreiheit, Wächterin der Gottesweisheit der Christen, leite uns zum höchsten Gipfelpunkt der geheimnisvollen Worte, der überunwissend und überlichtend ist. Dort sind die neuen und absoluten und unwandelbaren Mysterien der Gotteskunde im überlichten Dunkel geheimnisvoll verhüllten Schweigens verborgen. Im Allerverborgensten sind sie übergreifbar und überleuchtend. Inmitten des gänzlich Unsichtbaren und Unberührbaren machen sie die dafür blinden Geister jenes überguten Glanzes übervoll.« (Corp.Dion. II,141f)

Der Autor formuliert hier eine Anrede und man wird vermuten dürfen, dass es sich um eine Gebetsanrede handelt. Freilich ist sie bis hinein in die Details eine eigentümliche Gebetsanrede, was sich schon in den ersten Worten zeigt, die nicht, wie es eigentlich üblich wäre, mit einer kurzen Invokation beginnt. Offenbar ist der ganze Text eine einzige Anrede. Ich beginne mit den hervorgehobenen Wortteilen: Gleich zehnmal steht hier »über«, »hypér« im griechischen Original, in dem es sich übrigens um einen einzigen Satz handelt. Deutlicher kann man das Grundanliegen Negativer Theologie kaum formulieren: Was über Gott zu sagen ist, geht über das Normale hinaus. Mehr als gut, mehr als hell, mehr als begreifbar ist Gott. Das sind Schlüsse via eminentiae, durch Steigerung des gewohnten Sprachgebrauchs. Das hypér, über, setzt Dionysius aber auch noch anders ein. Er schafft damit Absurditäten, etwa, wenn er vom »überhellen Dunkel« spricht oder vom »überunwissenden Gipfel aller Worte«. Das sind bewusste Verdrehungen, die klar machen sollen: Gottes Wahrheit ist nicht nur per Steigerung über unsere Köpfe hinweg. Sie ist zu unserer Sprache und unserem Denken ganz quer. Am deutlichsten wird das vielleicht mit dem Begriff »übergöttlich«. Gott ist übergöttlich, also ist Gott gerade auch durch den Begriff nicht aussagbar, der speziell für ihn eingeführt und reserviert wurde. Mit der Sprache wird hier deutlich gemacht, dass die Sprache in Sachen Gott an ihre Grenzen kommt und kommen muss. Und das wird nicht als These so hingestellt, es wird im Vollzug gezeigt.

Eigentümlich ist zudem: Von ›Gott‹ als Wesen ist in diesem Gebet nicht die Rede. Gotteskunde ja, aber so angeredet wird er nicht. Über-göttlich ist ›er‹ wohl. Aber man liest weder den alttestamentlichen Gottesnamen noch die Gebetsanrede des Vaterunsers. Das Zitat verzichtet also auf einen Gattungsbegriff »Gott« und es verzichtet ebenso auf den biblischen Gottesnamen und auf die Gebetsanrede. Und das präzise in der betenden Anrede! Wieder wird die Unnennbarkeit Gottes nicht nur behauptet, sie wird sprachlich durchgeführt. Es gibt freilich eine direkte Anrede des Ungenannten: trías. Der Begriff bedeutet sowohl Dreiheit als auch explizit die Dreifaltigkeit Gottes. Nur durch diesen Hinweis ist klar, dass dies verdrehende und verdunkelnde Gebet sich anscheinend im christlichen Sprachspiel bewegt. Trías also wird genannt, und zugleich geht alles, was von trías auszusagen ist, hinein in die Sprachverschlingungen, von denen eben zu berichten war. Inwieweit das schon explizit christliches Sprechen ist oder sich gleichsam noch im Vorfeld befindet und strengen Allgemeinheitskriterien zu genügen hat, muss noch eigens diskutiert werden.

Das Zitat kennt auch eine Empfängerseite. Pseudo-Dionysius sagt ja nicht: Man kann über Gott nichts sagen, nichts von ihm empfangen und soll also schweigen. Im Gegenteil! Die »blinden Geister« – das sind offenbar diejenigen, die diese Rede wagen – werden »des überguten Glanzes übervoll«. Und das heißt doch wohl: Die Wahrheit, um die es geht, kann nur mit Sprachverdrehungen ausgesagt werden. Aber diese Verwindungen betreffen nicht nur die unnennbare Gottheit. Sie treffen auch diejenigen, die davon gar nichts sagen können, nämlich uns. »Über«, »hypér« wird nicht nur über die Gottheit gesprochen. Das »über« schließt auch jene blinden Empfänger mit ein. Sie werden in einer Weise mit dem Unnennbaren beschenkt, die diesem Unnennbaren ähnlich ist, nämlich unnennbar.

Es sind zwei Größen, die hier einander bedingen, eine komprimierte Gotteslehre und eine komprimierte Lehre vom Heil. Die Gotteslehre führt Dionysius ein als eigentümliche Nicht-Rede von Gott. Wohl Trías, aber eben auf die beschriebene Weise über Sprechen und Denken hinaus, ja selbst über jeden Namen hinaus. Dem entspricht aber, zweitens, kein Schweigen oder Achselzucken. Dem entspricht, dass Menschen sich davon alles erwarten sollen: vom göttlichen Glanz übervoll zu werden.

Damit haben wir einen wichtigen Grundzug der Negativen Theologie vor Augen, der im vorigen Kapitel bereits sichtbar wurde. Mit der Nichtbeschreibbarkeit Gottes fängt alles an. Und sie behauptet: Bei dem, den wir nicht nennen können, geht es um alles! Um unser Heil, um die ganze Welt. Diese beiden Elemente kann man die negative Gotteslehre und die negative Soteriologie (= Lehre vom Heil) nennen. Sie werden in unterschiedlicher Gewichtung und unterschiedlicher Auslegung jede der zahlreichen Varianten negativ-theologischen Denkens prägen.

Weitere Bemerkungen zur platonisch beeinflussten Negativen Theologie: Die Aufstiegsmetaphysik

Pseudo-Dionysius präsentiert die Negative Theologie in christlicher Lesart. Im zitierten Textausschnitt wird das durch die Worte »Gottesweisheit der Christen« und »trías« deutlich. Offensichtlich beansprucht Dionysius eine für die Kirche mögliche Interpretation. Das heißt nun freilich nicht, dass Negative Theologie nur eine christliche Möglichkeit wäre und man sich mit ihr bereits innerhalb der kirchlichen Theologie befinden würde. Vielmehr waren Pseudo-Dionysius und der andere große christliche Neuplatoniker Johannes Scotus Eriugena (um 810−877) Denker, die von den orthodoxen Vertretern des Christentums kritisch betrachtet wurden, weil sie mit zentralen christlichen Überzeugungen – etwa der trinitarischen Personalität Gottes oder, deutlicher noch, der Rede von Gottes Menschwerdung in Christus – ihre Schwierigkeiten hatten. Die von ihnen ausgehende Faszination war, dass mit den weit verbreiteten Denkmitteln der Philosophie für die Sache des Christentums geworben werden konnte, ohne dass dadurch eine Deckungsgleichheit von Philosophie und Theologie behauptet wäre. Beide greifen auf die großen Arbeiten der neuplatonischen Philosophie, namentlich auf Plotin (204−270) und Proklos (412−485) zurück, die die Negative Theologie als Integral einer Philosophie verwenden, die platonische, aristotelische und andere Einflüsse zu einer großen Synthese zusammenfasst.

Der Grundgedanke von Plotins Fassung der Negativen Theologie ist dieser: Der Welt aller Erscheinungen und Ideen liegt das absolute Eine zu Grunde. Das, was wir sehen und womit wir umgehen, ist jeweils irgendwie zusammengesetzt oder geteilt. Durch Abstraktionen kann man diese Zusammensetzungen oder Teilungen zu den Einheiten zurückführen, aus denen sie kommen, etwa die Menge aller Tische zur Idee ›Tisch‹ überhaupt. Mehr noch, Vielheit können wir überhaupt nur denken, wenn wir das auf der Folie einer dahinter liegenden Einheit tun, weil wir die Elemente von Vielheit ja zueinander ins Verhältnis setzen müssen und also ein hinter der Vielheit liegendes Bezugssystem annehmen müssen. Wenn nun das letzte, höchste Eine aber völlig ungeteiltes und unzusammengesetztes Eines ist, dann ist es über unser Begreifen absolut hinaus. Denn Begreifen heißt ja immer, etwas zu einem anderen in Beziehung zu setzen und es deshalb nicht als streng Eines zu sehen. Es gibt, so Plotin, dies absolute Eine hinter der Fülle der Erscheinungen, aber wir haben keinen begrifflichen Zugang zu ihm. In einer mystischen Weise können wir seiner innewerden, aber das ist eine Form der Versenkung, in der das Denken sich selbst überschreitet und aufhebt. (Halfwassen 32−58 unter besonderem Hinweis auf Plotin, Enneade V,4)

 

Plotin kombiniert also zwei Elemente. Zum einen bietet er das, was man eine Aufstiegsmetaphysik nennt: Der Denker steigt von der Fülle des Wahrnehmbaren über immer abstraktere und einheitlichere Bereiche und Gedanken zum absolut Einen auf. Zum anderen wird dieses Aufstiegsdenken mit der Betonung der strikten Unaussagbarkeit des absolut Einen kombiniert.

Moderne Fassungen der Negativen Theologie verhalten sich zu diesen beiden Basiselementen in differenzierter Weise: Meistens lehnen sie die metaphysische Idee, der Kosmos sei ein gegliedertes und hierarchisches Ganzes, durch das man gedanklich aufsteigen könne, ab. Diese Kritik wird nicht nur, aber vielleicht wesentlich von Immanuel Kants schneidender Kritik an der herkömmlichen Metaphysik gespeist. Dem zweiten hier genannten Element des Plotinschen Denkens stehen die heutigen Vertreter einer Negativen Theologie weitaus offener gegenüber. Sie wenden sich damit sowohl gegen diejenigen, die den Gedanken Gottes überhaupt ablehnen als auch gegen die, die meinen, man könne einen zureichenden Begriff von Gott gewinnen. Heutige Negative Theologie hat also eine doppelte Frontstellung gegen den kämpferischen Atheismus einerseits und gegen spekulative Gottestheorien andererseits.

b) Thomas Rentsch und das Programm einer heutigen Negativen Theologie

Der Dresdener Philosoph Thomas Rentsch (*1954) ist bei weitem nicht der einzige gegenwärtige Denker, der sich für Negative Theologie interessiert und sie programmatisch bearbeitet. Seine Arbeiten zum Thema sind aber besonders deswegen interessant, weil sie das Thema systematisch übersichtlich ausarbeiten und weil Rentsch besonders deutlich auf diejenige Struktur aufmerksam macht, die zu Ende des letzten Kapitels sichtbar gemacht wurde: Der rationalen Theologie bleibt letztlich nichts anderes, als sich in reine Negative Theologie zu wandeln. Es gibt gute Gründe dafür, am Gottesbezug festzuhalten, aber ebenso gute, dass dies Gottes Unerkennbarkeit immer mitdenken muss. Damit nun verbindet sich die Einsicht, dass mit dem Bezug auf den unnennbaren Gott in irgendeiner Weise Orientierung in der Welt einhergeht – zu sehen war das an den Andeutungen, die Ludwig Wittgenstein zur mystischen Erfahrung machte: Sie ist nicht Erfahrung von etwas in der Welt, sondern Erfahrung mit der Welt als ganzer. Sich auf Gott beziehen zu müssen, ihn zugleich aber nicht nennen zu können auf der einen Seite, und dass dies – auf noch aufzuklärende Weise – mit der Entstehung von Sinn und Orientierung zu tun hat, das scheint die Grundstruktur von Negativer Theologie zu sein. Rentsch fasst dies so: »Je genauer wir (…) den konstitutiven Zusammenhang von Negativität und Sinn philosophisch erfassen und analysieren, desto näher kommen wir den Dimensionen der menschlichen Lebenswirklichkeit, die mit der Rede von Gott und mit dem Gottesbezug gemeint sind und allererst eröffnet werden.« (Rentsch 54)

Dies Zitat hat folgende Implikationen: Erstens, es gibt Gott, aber das auf eine Weise, die für jede Rede von ihm konstitutiv ist, und zwar prekär konstitutiv. Zweitens, prekär ist sie insofern, als es eine Beschreibung oder gar Theorie Gottes nicht geben kann, zugleich aber unwidersprechlich klar ist, dass menschlicher Lebensvollzug von ihm herkommt. Drittens, menschlicher Lebensvollzug kommt insofern von Gott her, als sich diese Negativität als sinngenerierend erweisen wird. Existenz Gottes, Negativität jedes Bezugs auf ihn und Sinngenerativität genau dieses Bezugs: Das will Rentsch zeigen.

Drei Transzendenzen: Welche Erfahrungen des ›Vonwoher‹ sind genauso unvermeidlich wie unaussprechbar?

Wie ist nun der negative Bezug auf Gott aufzufassen? Die Überzeugungen, die Pseudo-Dionysius Areopagita, Plotin und den anderen heidnischen wie christlichen Neuplatonikern zur Verfügung stand – dass die Welt ein hierarchisch gegliedertes Ganzes ist, durch das man gedanklich-meditativ zum unnennbaren Höchsten emporsteigen kann – steht nicht mehr zur Verfügung. Rentsch legt die Sache so an, dass er drei Transzendenzen aufweist, drei basal-menschliche Weisen des Weltumgangs, die sich auf Überschreitendes, auf Unverfügbarkeit beziehen und genau daraus Sinn erschließen. Die erste der drei nennt er »ontologischkosmische Transzendenz«: (Rentsch 58−67, Herv. d. M.H.) Es ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts. Das ist Anlass zum Staunen. Dieses Faktum, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, ist aber an sich nicht etwas, was Gegenstand meiner Erfahrung wird, was mein Objekt sein kann. Denn dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, das muss ich immer schon voraussetzen. Es macht alles andere möglich, mich auch. Was das Vorausgesetzte ist, kann ich also nicht sagen, weil ich immer schon in ihm bin, weil es mich immer schon ermöglicht. Und doch komme ich gar nicht umhin, es vorauszusetzen. Das ist das Unerklärliche schlechthin und Anlass zu philosophischem Staunen. Und andererseits ist uns dieser Transzendenzaspekt völlig selbstverständlich, vertraut und nah. Er ist nicht auf besondere Erfahrungen angewiesen, weil er jeder Erfahrung zu Grunde liegt. Er ist nicht ein isoliertes Sinnerlebnis in einem Meer von Flachheit, weil er jedem Sinnerleben zu Grunde liegt. Er ist nicht privilegierter Erfahrungsgegenstand von besonders Befähigten, sondern prägt jeden Menschen. Diese Transzendenz ist nicht irgendwie jenseitig und elitär, sie ist Transzendenz mitten in der Immanenz. So funktioniert die theologia negativa: Ich muss eine Größe als vorhanden setzen, bei der ich zugleich setzen muss, dass sie für mich unerkennbar ist. Und dieses eigentümlich Negative ist es doch, was mich ermöglicht, Sinn ermöglicht.

Ein Detail dieser ersten Transzendenz ist interessant, weil es für die Frage von Bedeutung ist, wie der Dialog dieser philosophischen mit einer explizit theologischen Theologie aussehen könnte. Noch einmal Rentsch direkt: »Der Sinngrund, der sich im Transzendenz-Aspekt der ontologisch-kosmologischen Transzendenz zeigt, kann weder räumlich noch zeitlich festgelegt und festgestellt werden, er kann weder subjektiv noch objektiv vergegenständlicht werden. – Gleichwohl ist der ständig ›da‹, ständig leben wir durch diesen unerklärlichen Grund«. (Rentsch 61) Aus genau diesem Umstand schließt Rentsch nun: Die traditionelle Sprache von Theologie und Religion spricht »aus guten Gründen« (ebd.) von Schöpfung. Denn beide reden vom absolut unerklärlichen Hervorgang. Rentsch setzt hier mit Bedacht den Begriff des absoluten Wunders ein: Ein Wunder ist schlechterdings unerklärbar und nur um seiner selbst willen da. (Rentsch 63) Er sieht – und da ist die Vokabel wichtig – eine Entsprechung seiner philosophischen Rede zur theologischen von creatio ex nihilo (Schöpfung aus nichts) und creatio continua (fortdauernde Schöpfung). Diese Entsprechung gibt es, weile beide, Philosophie wie Theologie hier von Unerklärlichkeit sprechen.