Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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Und das Bild über dem elterlichen Bett habe ich auch nicht vergessen. Geht es in einem Gespräch, in einer Diskussion um Kitsch, habe ich es vor Augen: nächtliche Waldesstimmung, eine gut ausgeleuchtete Lichtung, Rehe im Hintergrund, links im Bild junge Männer oder waren es irgendwelche Satyrn, trunksüchtige, lüsterne Begleiter des Dionysos, die Blicke auf herannahende Elfen gerichtet, deren nackte Körper leicht verhüllt.

Ich fragte, ob wir uns auf dem Hof und im Garten umsehen dürften. Wir durften natürlich, ich hatte wohlbedacht gefragt, um klarzumachen, wir kommen nicht mit irgendwelchen Ansprüchen. Wir nahmen den Weg an der Pumpe vorbei, die tatsächlich funktionierte, der Schwengel musste einfach bewegt werden, ließen rechts den kleinen Obstgarten liegen, der zum Altenteil gehörte und aus dem wir der Oma gern mal die gut schmeckenden Gravensteiner gestohlen hatten, und standen vor dem eigentlichen Hof.

Können Sie erklären, warum der Protagonist dieses Buches am Samstag, dem 17. Januar 2009 gegen 14 Uhr bei REWE in der Kulturbrauerei (Prenzelberg) Gravensteiner Apfel-Gelee/Aus reinem Gravensteiner Apfelsaft kaufte?

Auf dem Hof prangte die große Dunggrube nebst Jauchengrube. Die war nun wirklich riesig, sie wirkte überdimensional, ein kleiner zerzauster Haufen Mist darin. Flissakowskis besaßen lediglich einen Teil des Bodens, waren Kleinbauern geworden, wie man sie aus Polen kennt: drei, vier Kühe, ein Pferd, ein paar Schafe. Wo sollte der Mist herkommen? Bei sechs Pferden, fast zwanzig Kühen und mehreren Kälbern, Färsen, einem Bulle war das etwas anderes gewesen.

Der Bulle war im Kuhstall von den Kühen getrennt. Er hatte seinen Platz am Übergang zu dem Teil, wo die Kühe standen. Es konnte passieren, dass er mit den Hinterbeinen auf diesem Gang stand. Eines Sonntags, ich war für den Kirchgang in einen adretten Matrosenanzug gesteckt worden, marschierte ich, als die Aufbruchsstimmung auf ihrem Höhepunkt angelangt war und sich keiner um mich kümmerte, in den Stall und forderte den Bullen mit der mir zur Verfügung stehenden Stimmgewalt auf, den Übergang freizugeben: Bulle rum! Dieser hebt stattdessen das rechte Bein, das in der eigenen Scheiße gestanden hatte, und schüttelte den Brei – das Bein leicht nach hinten gestreckt, wo ich auf die Befolgung meines Kommandos erwartungsfroh wartete – voll in mein Gesicht und auf den neuen Anzug. Ach, wie habe ich geschrien. Ganz offensichtlich hatte ich einen falschen Standort für mein Kommando gewählt. Gott sei Dank, Irla war zur Stelle, beruhigte meine Eltern, nahm mich ans Händchen, tröstete mich, „ein Junge weint doch nicht“, befreite mich von dem Übel und fand eine Ersatzkleidung.

Die älteste Schwester musste sich um uns kümmern, und sie tat es mit allem Nachdruck liebevoll. Dass wir Hochdeutsch sprachen, war gesetzt und wurde mit aller elterlichen Strenge durchgesetzt, unterstützt von unserer stellvertretenden Mutter. Ich war der Junge mit den x-Beinen und musste noch vor der Schulzeit über einen längeren Zeitraum hinweg täglich eine bestimmte Zeit im Schneidersitz verbringen. Ein fachmännisch zu belegender Rat steckte wohl nicht dahinter, aber meinen Beinen ist die vom Schwesterchen beaufsichtigte Übung gut bekommen.

Meine Güte war die Scheune verfallen. Man sah ihr gleich an, dass sie nicht mehr im vollen Umfange gebraucht wurde. Von Quantität und Qualität der eingefahrenen Ernte hing viel ab. Im späten Herbst und im Winter wurde gedroschen: Roggen, kaum Weizen, Hafer, Gerste. Mein Vater legte die Garben oben auf der Dreschmaschine selbst ein. Wir Kinder mussten die Garben, die aus dem jeweiligen Scheunenfach auf die dafür vorgesehene Fläche der Maschine geworfen wurden, zunächst einzeln auf den Garbentisch legen und aufschneiden, bevor der Einleger sie behutsam herunternahm. Oh, diese Tätigkeit war gefürchtet. Exaktheit, Koordination, Augenmaß waren verlangt. Die Ähren immer rechts von einem auf den Tisch, niemals zwei Garben, im richtigen Moment aufschneiden, auf keinen Fall mit der Garbe dem Vater vor dem Gesicht herumfuchteln, geschweige denn ihn treffen. Da konnte er saugrob werden. Einmal habe ich meinem Vater die grantigen Ähren ins Gesicht gewischt. Obschon ich mich für meine Unachtsamkeit sofort entschuldigte, musste ich auf der Stelle die Dreschmaschine verlassen. Gisela hat mich an diesem Tag ersetzt. Ich war geächtet, ein Kind, ein Junge gar, der nicht einmal das richtig konnte.

Die Scheune war von Hause aus ein Abenteuerspielplatz der besonderen Güte. Von den Versteckmöglichkeiten können Stadtkinder bestenfalls träumen. Damit das Versteckspiel nicht missriet, wurde der Raum begrenzt. Solange das Korn nicht gedroschen war, durften wir ohnehin nicht überall in der Scheune herumtoben. Ängstlichkeit war verpönt, die besten Chancen hatten die guten Kletterer. Meine zwei Jahre ältere Schwester war unerreicht. Doch einmal hat es sie voll erwischt, mit vorgebeugtem Kopf war sie gegen eine Wagendeichsel gerannt, die auf der Tenne stand, die Platzwunde musste genäht werden. Ein anderes Mal war Harald, Sohn des Stellmachers und Ortsgruppenleiters, an einem Balken tief ins gedroschene Stroh gerutscht, sodass er sich nicht ohne des Polen Adam Hilfe heraushieven konnte. In der Scheune fanden übrigens die Doktorspiele statt, bei denen die Älteren, Harald und Gisela, die Hauptakteure waren, er der Doktor, sie die Patientin, die sich auf den mit Stroh bedeckten Boden legte, nachdem sie sich ausgezogen hatte. Sie wurde gründlich untersucht. Wir Kleinen waren aufgeregt staunende Zuschauer. Doktorspiele finden, wird behauptet, zwischen 3 und 6 Jahren statt. Wieso war ich da passiver Zuschauer?

An der Stirnseite der Scheune vorbei gelangt man zum Obst- und zum Gemüsegarten, am Ende befand sich ein Teich, in dem sich Enten und Gänse tummelten. Eigentlich schon zu unserer Zeit verschmutzt und unappetitlich, jetzt war er vollends versumpft. Die paar Entchen und Gänschen konnten uns den Blick nicht verstellen.

Heio Popeio, was raschelt im Stroh?/Das Gänschen läuft barfuß und hat keine Schuh/Der Schuster hat Leder, keine Leisten dazu/ drum kann er auch machen dem Gänschen keine Schuh.

Der Obstgarten mit seinen riesigen Apfel- und Birnenbäumen wird zum Gemüsegarten hin von Pflaumenbäumen abgeschlossen: die deutsche Hauspflaume, würzig und knackig. Bis es nicht mehr ging, habe ich die reifen Pflaumen in mich hineingestopft und frischer Pflaumenkuchen war ein unbeschreiblicher Genuss. Nirgendwo auf der Welt habe ich unsere Pflaumen wiedergefunden. Diese großen Pflaumen aus Kalifornien, mit Chemie durchtränkt, sind mir ein Gräuel. Erst als ich 2001 zu einem vom DAAD geförderten Seminar für kasachische Universitätslektorinnen und -lektoren in Astana war, habe ich sie wiedergefunden. Das Klima ist ähnlich, kontinental, mit harten Wintern. Während meines vierzehntägigen Aufenthalts verdrückte ich Tag für Tag ein Pfund, manchmal gleich ein ganzes Kilo. Falls mich meine Geschmacksnerven und mein Erinnerungsvermögen nicht täuschten, schmeckten sie jedenfalls wie die von Zuhause. Hätte meine Mutter zu der Zeit noch gelebt, sie wäre gewiss in der Lage gewesen, die Wiederentdeckung der Pflaume meiner Kindheit zu bekräftigen. Vielleicht war ich nach den vielen Jahren reif für die Relativierung eines Verlustes.

Das ist der Daumen/der schüttelt die Pflaumen/der hebt sie auf/der trägt sie nach Haus/und der Kleine, der isst sie ganz alleine.

Wie lebte unsere Mutter auf, als wir ihr einmal aus Polen Schweinebohnen mitbrachten. Sie wurden in unserem großen Garten angebaut und gehörten zu ihren Lieblingsessen. In der DDR waren sie kaum zu finden. Wir erinnerten uns gemeinsam, wie unsere Großmutter die Bohnen, vor dem Garten sitzend, auspuhlte, wie sie in einen großen Kochtopf mit Salzwasser geschüttet, gekocht, abgegossen, in Butter geschwenkt und mit viel Petersilie auf den Tisch kamen. Mehlsuppe gab es dazu, die nach Ansicht meiner Mutter nicht besonders gut zu dem Schweinebohnen-Gericht passte, sie trank deshalb lieber Buttermilch dazu.

Sauerkirschen dagegen habe ich seit der Neuansiedlung in Mitteldeutschland nie vermisst, sie wurden durch die verschiedenen Süßkirscharten ersetzt, die hatte es in Bernsdorf nicht gegeben. Ich lernte sie zuerst in Zeitz beim Öbster Urban kennen, bei dem wir nach der Umsiedlung einquartiert worden waren und dem ich als Schüler beim Pflücken von roten, schwarzen und gelben Knorpel- und Herzkirschen half.

Am Garten entlang führte ein Weg durch die Felder, in Umrissen zu erkennen, ein kaum merklicher Anstieg und man hat einen Blick bis zum Wald, Eichen und Buchen – Buchen sollst du suchen, Eichen sollst du weichen, blitzt und donnert es. Der Wald, der uns mit seinen vielen Früchten lockte, hat sich mit der Zeit dem Dorf genähert. Sein Rand hob sich sichtbar ab. Der Wald als Ort voller Geheimnisse, beängstigend und undurchdringlich. Ich habe im Studium die romantische Naturauffassung leicht nachvollziehen können, wonach der Wald für eine Natur steht, in der sich Wunderbares und Beängstigendes ereignet.

Die Annäherung an das Dorf war keine Einbildung wie beim Koppelberg, sondern wurde mehrmals im Dorf bestätigt. Reizvoll ist der Blick von hier aus insofern, als er zwei Seen einschließt. Zwar erhascht man nur ein paar blaugraue Flecken, die Wasser vermuten lassen, doch machen sie die Landschaft abwechslungsreich. Schulwissen aktiviert sich: Du hast deine Kindheit zwischen Moränenhügeln, Wäldern und Seen verbracht. Glaziale Serie. War das obendrein ein Grund aus der Leipziger Tieflandsbucht auf den Prenzlauer Berg zu ziehen?

Auf dem Rückweg fällt mein Blick zwischen Obst- und Gemüsegarten auf den verfallenen, grün überwucherten Backofen. Wie konnte ich ihn übersehen, am Weg ins freie Feld. Eine Art Hexenhäuschen mit einem kleinen Satteldach, das den riesigen Ofen vor Wind und Wetter schützte. Mehr als 20 Brote auf einmal konnte man darin backen und diverse Kuchen auf großen Blechen.

 

Alle 14 Tage war Backtag. Das Heizen mit Holz war Großmutters Aufgabe. Die Aussicht auf frisches Brot, frischen Kuchen machte den Tag zum Festtag. Für die Mutter war es eine Plackerei: Der Teig musste in einem Holztrog fast eine Stunde lang geknetet, der Ofen auf Backhitze gebracht werden. War das Feuer erloschen, wurden Asche und verkohlte Holzreste fein säuberlich entfernt und Brote und Kuchen hineingeschoben. Ein Schieber stand nach wie vor in einer Ecke. Im Herbst nutzte man die Restwärme zum Trocknen von Obst, Äpfeln und Birnen, Pflaumen. Wann immer gebacken wurde, wir Kinder waren dabei. Aus dem fertigen Teig etwas formen zu dürfen, machte uns glücklich, zu Künstlern, die beim Anblick des bereitgestellten Materials kaum ihren Schaffensdrang zu bändigen vermögen. Nach allem das fertige Produkt in den Händen halten und ohne Skrupel hineinbeißen. Kaum waren die Brote und Brötchen im Ofen, quälten wir die Mutter mit der Frage, wann unsere Brötchen denn endlich fertig seien. Der Backprozess musste ständig beobachtet werden. Unsere Mutter zum Backofen eilen sehen, hingen wir schon an ihrem Rockschoß. Backen in einem freistehenden Backhäuschen ließ Mutter den Wechsel der Jahreszeiten intensiv miterleben: Sommerhitze und Eiseskälte, herbstliche Stürme und Frühjahrsschauer. Und welche Freude, kam man im Sommer ins angenehm kühle und im Winter ins wohlig warme Wohnhaus zurück.

Auf dem Rückweg kommen wir direkt an dem Örtchen vorbei, windschief nun, irgendwie verloren, zwei Türen: die linke für die Magd, den Knecht, die Saisonarbeiter. Bei 30 Grad minus konnte einem in der rechten Hälfte ebenso kalt um den nackten Po werden wie in der linken.

Wenn der Bauer an den Waldesrand hetzt,

war das Plumpsklo schon besetzt.

Ich denke, 30 Meter waren vom wärmenden Haus aus zu überwinden, das im Winter an der Kellerseite zum Hof hin mit einer mannshohen und einen Meter dicken Wärmedämmung aus Mist bepackt wurde, die den Ratten behagte. Die Toilette auf halber Treppe in der Posaer Straße in Zeitz, der ersten eigenen Wohnung nach der Umsiedlung, wurde dagegen bei größter Kälte als eine wohltuende Einrichtung empfunden. Eigenartigerweise habe ich das Klo, in dem Edgar Wibeau, Held des Romans Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf, zufällig ein altes Exemplar von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther findet, immer mit dem Plumpsklo in Berndorf verbunden. Das angedachte Familien-Projekt Toiletten in aller Welt, das leider nicht das Licht der Welt erblickte, sollte mit dem Häuschen in Berndorf beginnen. Weitere Höhepunkte das Café 89 in New York, die Toiletten eine Treppe höher, die Kabinen durchsichtig, sodass man Klarsicht der draußen Stehenden befürchtet, doch kaum schließt man die Tür von innen, wird glücklicherweise die Einsicht vermilchglast. Jörg hatte das Café entdeckt, und wir wiederum führten Enkelin Hanna auf der New York-Reise, unserem Geschenk zu ihrer Jugendweihe, in diesen Toilettenwitz ein. Und der Hinweis auf der Herrentoilette im größten Supermarkt von Quingdao (Tsingtao) in China: Step Forward to Get Closer to Civilization.

An dem Holzhäuschen vorbei verlief ein schmaler Weg zur Stellmacherei; sie gehörte uns, war jedoch verpachtet. Da entlang mussten wir zwangsläufig auf die Dorfstraße zum Bahnhof stoßen. Und etwa 200 m weiter sehe ich das Deputatshaus. Da wohnten fünf Familien, die die Miete in Form von saisonbedingter Arbeit auf unserem Hof abzahlten: Kartoffeln und Rüben pflanzen, hacken und aus der Erde holen, Getreide ernten. Weder die Stellmacherei noch das recht bescheidene Deputatshaus habe ich je als Eigentum meiner Eltern angegeben. Man hätte mich womöglich gleich zum Sohn eines Rittergutsbesitzers erhoben.

An unserem ehemaligen Besitz wieder angekommen, bedanken wir uns artig bei Frau Flissakowski für die freundliche Aufnahme und versprechen wiederzukommen. Und wir kamen schneller als gedacht wieder. Ein Jahr darauf machten wir uns gleich mit zwei Autos auf den Weg, mit Schwester Gisela und ihrem Mann Wolfgang, also Familie Fuhrmann mit Tochter Britta, Löschmanns mit Sohn Jörg und Nabil, unserem syrischen Familienmitglied, ehemals Student am Herder-Institut, einer der besten im Jahrgang 1967/68. Sein Volkswagen war das zweite Auto. Der Reiz der Fahrt bestand für mich vor allem darin, dass ich den anderen das zeigen konnten, was sie bisher nur aus Erzählungen kannten, außer mir hatte lediglich Gisela eigene Erinnerungen daran.

Große Ernüchterung überkam mich als Fremdenführer. Beim ersten Besuch hatte ich spontan erklärt: Der nächste Sommerurlaub wird in Ugoszcz verbracht, ich werde Janucs bei der Ernte helfen. Es muss überzeugend geklungen haben, sonst hätte Marianne nicht dermaßen vehement reagiert: „Ohne mich.“ Im Moment des Aussprechens dieser Ferienaussicht war an deren Ernsthaftigkeit nicht zu zweifeln. Heute weiß ich, der unterdrückte und fast völlig vergessene Bauernsohn in mir hatte sich in vertrauter Umgebung ein Ventil gesucht. Ganz und gar klar war mir schon damals, es führt kein Weg zurück, auch nicht nach erfrischender Abkühlung im Pfaffensee, dem Badesee im Gegensatz zum Dorfteich, auf halber Strecke nach Studnice.

Am Pfaffensee hatten wir einst im nahe gelegenen Erbsenfeld bei schönstem Sonnenschein Aale überrascht und zwei, drei mit Knüppeln erschlagen, nachdem Harald uns versichert hatte, es seien keine Schlangen. Oder waren es tatsächlich welche? Jedenfalls zeichnet Aale ein extrem zähes Wanderverhalten aus, das sie zu Landgängen befähigt. Du suchst wohl ein Gegenstück zu Günter Grass’ verwestem Pferdekopf. Nein, ich will keine Legenden stiften. Wie bestechend die Szene in der Blechtrommel literarisch sein mag, Aale sind keine Aasfresser, sie verstecken sich bestenfalls in einem Kadaver, was früher durch das Auslegen von Tierschädeln zum Fang genutzt wurde. Ob es nun Aale waren oder nicht, Krebse gab es auf jeden Fall. Im Bach, der sich durch das Dorf schlängelte, fingen wir im Sommer Flusskrebse. Da sie dämmerungs- und nachtaktiv sind, mussten wir sie in ihren Verstecken unter Steinen und Geröll, in das Flüsschen ragenden Baumwurzeln aufstöbern, von hinten packen und in den Eimer werfen. In der Küche wurden sie in kochendes Wasser geworfen, nicht länger als fünf Minuten und die leuchtend rot erstrahlenden Krebse waren zum Essen bereit, durch geschickte Drehbewegungen die Schwänze und Scheren vom Körper gelöst, um an das zarte Fleisch heranzukommen. Bei uns zu Hause war Krebsessen nichts Besonderes, ein Angebot der heilen Natur.

Ich bin dann doch noch einmal nach Bernsdorf gekommen, und zwar 2006 mit meiner damals 83jährigen Schwester, die sich im Juni in Bad Polzin an der Ostsee zusammen mit ihrem Mann Christian einer Kur unterzog. Wir besuchten sie dort und verwirklichten an einem recht kühlen Tag einen Plan, der mehrmals geschmiedet, bislang aus den verschiedensten Gründen nicht erfüllt worden war – zwei Jahre nach dem EU-Beitritt Polens.

Als wir uns auf den Weg nach Bernsdorf machten, hatte sie längst erkennbar mit unserem Heimatort abgeschlossen. Sie hatte vieles von mir und anderen gehört bzw. gelesen, war zu Treffen der Pommerschen Landsmannschaft gereist, doch in die Jahre gekommen, fiel es ihr nicht schwer, sich von dem Erinnerungsband Spatzen Pellkartoffeln. Als Kind auf der Flucht aus Hinterpommern von Eckehard Oldenburg, ein Jahr jünger als ich, zu trennen. Der Autor, Sohn ihres Biologie- und Englischlehrers an der Mittelschule in Bütow, war bei seinem Onkel August von Mroczek in Bernsdorf, kurz bevor der Krieg in unser Dorf kam, und ist zusammen mit uns auf die Flucht gegangen. Im Gegensatz zu mir konnte er sich auf Aufzeichnungen seines Großvaters stützen und Flucht, Rückkehr und Vertreibung aus des Großvaters und seiner eigenen Perspektive erzählen.

Woran Irla sich nicht alles erinnerte, während wir durch die gefällige Endmoränen-Landschaft mit den vielen kleinen und großen Seen fuhren. Welch ein Enttäuschung für sie, als wir vor dem Hof standen, die Ställe, die Scheune, der Speicher und der riesengroße Misthaufen in der Mitte verschwunden, alles plattgemacht, eine saftige Grasnarbe bedeckte den für uns historischen Grund. Das Haus angemessen rekonstruiert. Es wirkte viel einladender als unser ehemaliges Haus, der Vorgarten gleichermaßen. Wertsteigerung allemal. Andererseits hatte das alles nichts mehr mit uns zu tun. Im wahren Sinne des Wortes: Gras war darüber gewachsen. Leider waren die jungen Leute unterwegs, die sich auf unserem ehemaligen Anwesen eingerichtet hatten, wie uns ein Dorfbewohner berichtete. Ich denke, es war gut so, denn keine Frage, im Haus wurde ebenfalls vieles verändert. Von Flissakowskis war niemand mehr da, Janusc auf dem Friedhof, mein damaliger Arbeitgeber auch. Der Bahnhof stillgelegt.

„Mit unserem Besuch in Bernsdorf/Bütow habe ich noch lange zu tun gehabt“, schrieb Irla in ihrem Brief vom 26. Juli 2006, „innerlich muss es mich doch sehr bewegt haben. Vielleicht hätte ich doch lieber die alten verfallenen Gebäude an ihrem alten Platz plus Plumsklo und Backhaus mit den alten Bäumen gesehen, weil die Umgebung des Wohnhauses eben fremd war. Aber ich habe gestaunt, was noch alles in meinem Gehirn geruht hat. Viele Namen von Bernsdorfer Einwohnern kamen zum Vorschein. Fast allen konnte ich ein Haus zuordnen, neben uns vor der katholischen Kirche wohnten Dargatz, Lüdtke und Stangohr. Martin, sind Dir die Namen noch ein Begriff?“ Nein, sind sie nicht. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf: Sprechen wir von Heimat, ist immer Verlust mit im Spiel. Eine zweite Heimat gibt es eigentlich nicht.

Hier und jetzt wird endgültig ein Schlussstrich gezogen. Ich werde meinen Geburtsort nun nie wieder besuchen. Es gibt kein Erbe mehr. Der Erbhofbauernsohn wurde nach dem Umschwung mit 4.000 DM von der Kohl-Regierung abgespeist. Erstaunlich, dass gerade diese Regierung die Vertriebenen völlig gleichstellte. Unabhängig von dem, was sie besessen und verloren hatten, bekamen alle DDR-Bürger und -Bürgerinnen aus den ehemaligen Ostgebieten des deutschen Reiches die einmalige pauschale Abfindung. Jenny Neumann, eine ehemalige Kollegin – wohl aus Schlesien kommend – hat das Almosen mit der Begründung abgelehnt: Mit der Empfangsbestätigung würde man sich seiner Ansprüche begeben. Ich erhebe keinen Anspruch auf mein Erbe in Hinterpommern, das sei an dieser Stelle besonders all den 61,5 Prozent Polen versichert, die sich nach mehr als 60 Jahren Kriegsende weiterhin vor deutschen Besitzansprüchen fürchten.

Ich fahre mit meinem Neffe Gernot zu dem Restaurant, wo das festliche Essen anlässlich des 80. Geburtstages meiner Schwester stattfindet, durch eine prächtige Villengegend Hamburgs: „Onkel Martin, siehst du dort drüben diese Jugendstilvilla? Da wohnt ein Kollege von mir, hat die Villa von seinen Eltern geerbt.“ Ich habe das Fazit einer statistischen Untersuchung parat und biete sie Gernot verschmitzt lapidar, quasi als Trost an: „Die Werte, die in den neuen Bundesländern nach dem Tod weitergegeben werden, sind vielfach geringer als in den alten.“