Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen

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Eine Frau wagte sich schließlich ins Dorf und fand heraus, dass keine unmittelbare Gefahr mehr bestand. Wir kehrten nach Hause zurück.

Haus und Hof waren inzwischen von einer polnischen Familie in Besitz genommen worden. Uns gehörte nichts mehr im Dorf, das nunmehr Ugoszcz hieß. Wir kamen im Nachbarhaus unter und mussten den neuen Besitzern zur Hand gehen, ich als Stalljunge bei dem Polen, der den Hof bewirtschaftete, auf dem wir jetzt wohnten, meine beiden Schwestern als Hausmädchen. Lohn für die Arbeit gab es nicht, genug zu essen und zu trinken schon.

Haus und Hof verloren, die Mutter ohne Mann, die Kinder ohne Vater. Mir wurde der Verlust damals nicht richtig bewusst, in mancher Hinsicht war das Leben für mich in dieser Zeit durchaus schön, reizvoll, spannend, wie man heute gern sagt: keine Schule – eine deutsche Schule gab es nicht mehr, die polnische war uns verschlossen –, mit Pferden unterwegs sein, Pflügen, Dung auf die Felder fahren, mit der Hungerharke das verstreute Heu zusammenrechen, mit dem Sohn des neuen Besitzers unseres Bauernhofes gemeinsam Kühe hüten, vorausgesetzt für ihn war keine Schule. Für das Mähen mit der Sense kam ich noch nicht in Frage. Die Kunst war für Kinder nicht erreichbar: zu schwer, zu gefährlich, selbst für Erwachsene war das alles andere als ein Zuckerschlecken. Sich als Mann beweisen, sich einreihen dürfen in die Schar der Mäher, das wäre es schlechtweg gewesen. Der Gleichschritt und Gleichklang beim Mähen, mein Vater als Taktgeber immer vorneweg. Stand die Mahd an, konnte man das Dengeln der Sensen im ganzen Dorf hören, der Klang ist mir seither im Ohr.

Völlig anders empfand verständlicherweise meine Mutter die für sie fast unerträgliche Situation: Sie konnte unser Schicksal nicht fassen, war im wahrsten Sinne des Wortes am Boden zerstört. Wie oft hat ihr Weinen uns Kinder in der Nacht aufgeweckt. Es brauchte Jahre, bis sie begriff, dass an allem Elend der Krieg schuld war, den Hitler, unterstützt von weiten Teilen des deutschen Volkes, heraufbeschworen hatte.

Nach dem Potsdamer Abkommen war vorgesehen, dass die Deutschen, die in den von Polen in Besitz genommenen Gebieten (bis zur Oder-Neiße-Grenze) lebten, nach Deutschland umgesiedelt werden. Fast drei Jahre hat es gedauert, bis wir die Erlaubnis erhielten, die Heimat zu verlassen. Warum es in unserem Fall bis Ultimo dauerte, ist mir bis heute nicht erklärlich. Waren wir billige Arbeitskräfte für die Polen, die polnischen Behörden mit der Aussiedlung überfordert oder war es purer Zufall? Facharbeiter wurden zurückgehalten, solange es ging, Arbeitsfähige generell, in diese Kategorie gehörten wir wohl eher nicht. Im Westen sprach man von Vertreibung, Zwangsaussiedlung, Abschub, Transfer, im Osten von Umsiedlung. Was wir mitnehmen durften, war äußerst begrenzt, zwei Koffer, zwei, drei Taschen. Auf dem Sammelplatz in Bütow wurde das Gepäck einer scharfen Kontrolle unterzogen. Das war’s. Nun ade, du, mein lieb Heimatland. Mit den beiden Kindern der neuen Besitzer Flissakowski, mit Janucz (12) und Theresa (13), hatten wir uns gut verstanden. Als wir Ende 1947 unser Dorf für immer verließen, gab es ein tränenreiches Abschiednehmen.

Fast vier Tage hat es gedauert, bis wir in Zeitz, 40 Kilometer von Leipzig entfernt, ankamen. Das war keine bequeme Reise, immer 20 bis 25 Personen in einem Viehwaggon. Ich dächte, in der Ecke habe ein Öfchen gestanden, von dem wir Kinder uns fernhalten sollten. Zur Notdurftverrichtung hielt der Zug in bestimmten Abständen an, an Bahnhöfen wurde Tee gereicht, in großen Abständen gab es etwas zu essen. Wie wenig von dieser Reise hängen geblieben ist. Einzig das rollende Geräusch der Schiebetüren, wenn die Waggons geöffnet wurden, die Angst, der Zug könnte sich in Bewegung setzen und ich bleibe zurück, die Scham, in der Notgemeinschaft im Graben oder auf dem freien Feld sich hinhocken zu müssen, um sich vom aufgestauten Druck zu befreien. Am schlimmsten war es, sobald der Zug ohne erkennbaren Grund anhielt und man durch die Sehschlitze nicht orten konnte, wo man war, und der Zug hielt und hielt, unzählige Minuten, Stunden.

In Zeitz wurden wir in einem der großen Säle der Moritzburg untergebracht, nachdem man uns durch eine Entlausungsstation geschleust hatte. Wir lagen mit über 50 Personen in einem ehemaligen Rittersaal. Mehr als acht Wochen mussten wir dort leben, auf dem Fußboden kampieren, zwei Decken standen jedem am Anfang zur Verfügung. Die Verpflegung war zentral geregelt. Zum Sattessen zu wenig, zum Verhungern zu viel. Hunger hatten wir immer.

Das Mittagessen wurde in Kübeln gebracht. Da sie undicht waren, klebten an den Außenseiten, besonders an den Deckeln übergeschwappte Essensreste. 20 bis 30 Jungen warteten darauf, dass die leeren Kübel auf den Hinterhof gestellt wurden. Kaum kam einer, stürzte sich die Horde darauf, um die unappetitlichen Reste abzukratzen und zu verschlingen. Jedes Mal tobte ein unerbittlicher Kampf, denn nur einer konnte jeweils der Gewinner sein. Es gab an keinem Tag genügend Kübel für alle Hungrigen. Als ich Herta Müllers Atemschaukel las, nachdem sie 2009 überraschenderweise den Nobelpreis bekommen hatte, drängte sich mir ihre Beschreibung des chronischen Hungers geradezu auf:

Was kann man sagen über den chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat.

Am Ende der Moritzburg-Zeit wurde uns ein Zimmer bei einer von der Einquartierung nicht gerade erbauten Familie Urban, Am Eulengrund 10 in Zeitz zugewiesen. Wir bekamen Lebensmittelkarten. Was man uns an Lebensmitteln zugestand, sicherte bedingt das Leben der vierköpfigen Familie. Deshalb waren wir ständig auf der Suche nach Essbarem. Der Schwarzmarkt blieb uns verschlossen, wir hatten nichts anzubieten, was einen sachständigen Tauschwert gehabt hätte. Wir gingen stoppeln, von einem abgeernteten Feld, dem Stoppelfeld, wurden Weizen-, Roggen-, Gerste- oder Haferähren aufgesammelt, die heruntergefallen, übersehen oder in der Boden getrampelt worden waren. Bei abgeernteten Kartoffelfeldern genügte es nicht, die erspähten Erdäpfel aufzulesen, da musste man mit der Hacke blitzschnell nachhelfen, um fündig zu werden.

Sobald ein Feld abgeerntet war, wurde es freigegeben. Zu Hunderten standen die Menschen stundenlang um die Felder und warteten auf den Moment der Freigabe. Aufseher, mit Peitschen unter dem Arm und von bissigen Hunden begleitet, hielten die Masse in Schach. Wagten Kinder sich vorzeitig aufs Feld und das geschah nicht selten, passierte kaum etwas; sie mussten nur sofort Reißaus nehmen, entdeckten die Aufseher die Grenzüberschreitung. Ich war fast immer unter den waghalsigen Kindern, meistens Jungen. Bei Erwachsenen wurde schon mal der Hund losgelassen oder die Peitsche geschwungen.

Einmal war kein Halten mehr, die Massen stürmten von zwei Seiten auf das riesige Roggenfeld bei Osterfeld – mit der Bahn 18 km von Zeitz zu fahren –, bevor das Freigabesignal ertönte. Die noch nicht vom Feld geräumten Garben verhießen volle Rucksäcke. In kürzester Frist war ein Schlägertrupp zur Stelle und jagte die Menge zurück. Diejenigen, die die Puppen, wie die Stiegen in Mitteldeutschland genannt wurden, erreicht und sich vor der Zeit bedient hatten, mussten die Taschen leeren. Zur Strafe wurde das Feld abgesperrt und erst am nächsten Tage freigegeben. Nicht nur einmal kehrte man ohne jegliche Ausbeute zurück. An solchen ertraglosen Abenden konnte es passieren, dass unsere Mutter zerknirscht, ohne etwas zu sagen, todmüde ins Bett fiel.

Man musste schnell, überaus schnell sein, um möglichst viele Ähren zu erwischen. Lange vor dem Sturm auf das jeweilige Feld spähte man guten Ertrag versprechende Stellen aus. Mit beiden Händen gezielt nach links, nach rechts, nach vorn, nach hinten grabschen, alles blitzschnell in die Schürze stopfen, die mit einer großen Tasche versehen, anfangs vor dem Bauch baumelte und nach und nach immer schwerer nach unten zog. Am Ende kam alles in einen Rucksack. Zu Hause wurden die Körner aus den Ähren geschlagen und mit der Kaffeemühle zu Mehl gemahlen. Am 31. März 2010, 17:47 fragt ein Kafka im Kaffee-Netz:

Hat schon mal jemand versucht, mit einer Kaffeemühle Getreide fürs Brotbacken zu mahlen? Funktioniert das halbwegs, oder muss ich dann eine verstopfte Mühle reinigen?

Erst jetzt – 1948 – forderte die Schule ihr Recht. Mehr als 50 Fehler im ersten Diktat machten mich zum krassen Außenseiter der Klasse. Ich schämte mich unendlich, auch wegen der grob gestrickten langen Strümpfe, die keiner mehr trug. Sie waren mithilfe von Strumpfhaltern, heute Strapse genannt, an einem Leibchen festgemacht, welches man zwischen Unterhemd und Hemd trug. Und diese ekligen gelblichen Igelitschuhe, hergestellt aus gesundheitsschädlichem Weich-PVC. Im Sommer schwitzte man furchtbar darin, im Winter fror man erbärmlich. Anfang der fünfziger Jahre wurden sie Gott sei Dank aus dem Verkehr gezogen.

Da ich in die Klasse eingestuft worden war, in die ich vor der Flucht ging, überragte ich alle, geistig schien ich ein Zwerg zu sein. Mein Banknachbar gab mir jedoch eine Chance: „Du stinkst wenigstens nicht.“ Lange hielt meine Drangsal nicht an. Durch den Krieg, den Tod des Vaters und die geschwächte Mutter vollends auf mich gestellt, lernte ich hochmotiviert und holte den Stoff relativ schnell auf, sodass ich innerhalb eines Jahres zwei Klassen überspringen konnte.

In der achten Klasse kam mein Klassenlehrer zu uns nach Hause und schlug meiner Mutter vor, mich auf die Oberschule zu schicken. Sie stimmte zu, obgleich sie lediglich Sozialfürsorge erhielt und es von ihr aus ohne Frage besser gewesen wäre, wenn ich einen Beruf erlernt und schnell Geld verdient hätte. Ich bin ihr unendlich dankbar für ihre Entscheidung, die für sie weiterhin Entsagung bedeutete.

 

Damit wollte ich mit dem Krieg für mich abschließen. Beim Wiederlesen des Kapitels wird mir eine Leerstelle klar: Das Thema Vergewaltigungen, sowohl in der DDR und als auch in der Sowjetunion tabuisiert, ist nicht allein aus meiner kindlichen Erlebnisperspektive zu erzählen, sie verstärkt womöglich das von westlichen Ideologen einseitig geprägte Bild von den Russen.

Im engsten Familienkreis habe ich gelegentlich angedeutet, dass ich neben meiner Mutter stand, als sie von einem Russen in einem Heuschuppen vergewaltigt wurde, wohin sie mit mir geflüchtet war. Sie wähnte, sich und mich sicher versteckt zu haben.

Hätte ich Julika mit Werner Heiduczek, dem Leipziger Schriftsteller aus Oberschlesien, kommen können? Kaum. Er brach 1977 in seinem wohl bekanntesten Roman Tod am Meer das Tabu, indem er auf die Frage „Habt ihr vergewaltigt?“ den sowjetischen Offizier antworten lässt:

Ob Griechen oder Römer, Osmanen oder Chinesen, Amerikaner oder Russen, schick sie in den Krieg, und es wird Mord geben, Raub, Plünderung und Vergewaltigung. Ich finde es dumm, den Menschen in den Zustand des Tieres zu versetzen und dann über seine Unmoral zu meditieren.

Just diese Stelle veranlasste den damaligen sowjetischen Botschafter in der DDR, Abramowitsch zu intervenieren. Einfach lächerlich, die Spatzen pfiffen es von den Dächern, kein Geringerer als Ilja Ehrenburg hatte es in seinem Tagebuch bestätigt. Gut ein Jahr vor Heiduczek hatte Christa Wolf in ihrem Roman Kindheitsmuster das heikle Thema gewissermaßen gestreift, indem sie von einem jungen russischen Offizier erzählt, den Flüchtlingsfrauen über ein eigens installiertes Alarmsystem regelmäßig gegen zudringliche Rotarmisten zu Hilfe rufen. Heiner Müller gab dem Thema in seinem letzten dramatischen Text Germania 3 Gespenster am toten Mann zudem eine neue Perspektive:

Schlafzimmer mit Doppelbett. Ein russischer Soldat vergewaltigt eine deutsche Frau. Auftritt ein Mann in der gestreiften Uniform des Konzentrationslagers mit dem roten Winkel des politischen Häftlings. Er sieht eine Weile zu, dann erschlägt er den Soldaten.

Hier beginnt die Befreiung, der Frieden mit einem Mord.

Es hat lange gedauert, bis ich die Fragwürdigkeit erkannte, sich gegenseitig die Untaten im Krieg vorzuhalten. Letztendlich dient ein solches Vorrechnen und Aufrechnen dazu, den Krieg zu humanisieren und ihn akzeptierbar zu machen.

Hätte es den Film Anonyma – eine Frau in Berlin zu der Zeit gegeben, als ich Julika eine Version meines Textes nach Thailand schickte, hätte ich ihn ihr empfohlen: Max Färberböck, der mit seinem Erfolgsfilm Aimée & Jaguar das Dritte Reich versucht hatte darzustellen, inszenierte 2008 erneut einen historischen Stoff nach Aufzeichnungen einer anonym gebliebenen Frau und behandelt darin die vielmals beschriebenen Massenvergewaltigungen durch russische Soldaten in Ostberlin am Ende des Zweiten Weltkriegs. Er bricht Stereotype auf und macht nicht den Fehler, die Russen durchweg als grobschlächtige Bestien zu zeigen.


Familientreffen in Abwesenheit von Onkel Hugo

Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.

Alle glücklichen Familien gleichen einander.

Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi

„Du, Martin, zu deinem Begräbnis komme ich nicht und du musst auch nicht zu meinem kommen“, sagt Irla am letzten Tag der gemeinsamen Reise zu unserem Heimatdorf. Jacob Böhme stellt sich stracks ein: „Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, verdirbt, wenn er stirbt.“ Im ersten Moment bin ich verdutzt, flachse, wo ich hätte ernsthaft reagieren sollen: „Kommt Zeit, kommt Rat, noch ist es ja nicht so weit.“ In Wahrheit gibt die ausgesprochene Befreiung von der Begräbnisteilnahme den letzten Anstoß, in Berlin ein Familientreffen zu organisieren, bevor es zu spät ist: Irla ist die Älteste in der Löschmannfamilie und als Zeitzeugin anerkannt. Ein Treffen, keine Feier, wie Jörg und andere die Begegnung trotz meines Einspruchs immer wieder nannten, eine Begegnung mit bestenfalls katalysatorischem Effekt. Die Idee hatte es seit langem gegeben. Umbruchzeiten führen zur Besinnung auf die Familie. „Denn zu Zeiten der Not bedarf man seiner Verwandten.“ (Goethe)

Es brauchte jedoch eine lange Zeit, bis die Idee zum Durchbruch kam. Für den langen Weg bis zur Realisierung – fast 20 Jahre – gibt es verschiedene Erklärungen: Der Krieg hatte unsere Familie nicht nur dezimiert, sondern ihr auch die Existenzgrundlage entzogen. Vater, Bruder und Schwager, alle erwachsenen Männer, waren nicht zurückkehrt und der Rest der Familie in die verschiedensten Gegenden Deutschlands verschlagen. Irla kam, wie weiter oben mitgeteilt, nach Schleswig-Holstein, ihr folgte nach drei Jahren die Zweitälteste, Renate, unsere Mutter blieb mit den beiden Jüngsten, Gisela und mir, in Sachsen-Anhalt. Dort, aus dem Güterzug zermürbt ausgeladen, richtete sie sich traumatisiert, schicksalsergeben als einzige in der Ostzone ein. Der auf Grund der Entfernung einsetzende Entfremdungsprozess wurde durch den Mauerbau jäh verstärkt: Schluss mit Besuchen von Mutter und Geschwistern aus dem Osten, nun mussten die aus dem Westen uns besuchen. Außer Irla und Renate kamen keine weiteren Westverwandten nach Zeitz. Sie hatten mit dem Osten nichts im Sinn, höchstens ein Kopfschütteln parat, dass meine Mutter mit uns nicht in den Westen gegangen war, als es noch ging. Somit kann man sie getrost zu dem Fünftel der Westdeutschen zählen, die bald ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall nie in Ostdeutschland waren. Erst nach 1964, als Rentner wieder in die Bundesrepublik fahren durften, durchbrechen die Reisen der Mutter den einseitigen West-Ost-Verkehr.

Die vermauerte Teilung Deutschlands hatte unerbittliche Familieneinschnitte mit sich gebracht. Zum Beispiel die Verpflichtung, während unseres dreijährigen Finnlandaufenthaltes Ende der 60er Jahre jeglichen Briefkontakt mit Irla und Renate aufzugeben. Wir akzeptierten das Schreibverbot offiziell, hielten trotz dessen von Finnland aus wie bisher eher losen Kontakt, aber beschämend war das Verbot auf alle Fälle, zumal meine beiden Schwestern keinerlei Position mit Geheimnisträgerschaft innehatten, um in irgendeiner Weise für irgendjemanden von Interesse zu sein: Hausfrau in Hohenaspe die eine, Arzthelferin in Dortmund die andere.

Kati gehörte von Anfang an zu den Befürwortern des Treffens und setzte sich für sein Gelingen ein. „Für mich ist das Familientreffen eine stille Nachholestunde.“ Die Feststellung war umso bemerkenswerter, als unsere Tochter lange Zeit Alternativen zu dem ihr vorgelebten Familienleben gesucht hatte, raus aus dem bürgerlichen, erst recht aus dem sozialistischen. Nach Promotion und einem für die Arbeit als zugelassene Psychotherapeutin erforderlichen Zweit-, einem kostenintensiven Fernstudium in Bamberg, ist sie in Chemnitz angekommen und dieses Angekommensein schloss die Besinnung auf die Familie wohl ein. Von unseren beiden Kindern ist sie dasjenige, das einen engen Kontakt zu Anverwandten hat, zu Maren insbesondere, der Jüngeren von Giselas zwei Töchtern.

Meine Mutter unkte ein wenig herum, als 1958 die Doppelhochzeit von Irla und Gisela in Zeitz feststand. Solche Hochzeiten verhießen für sie nichts Gutes. Kinderlosigkeit wäre eine Strafe für eines der Paare, Krankheit und Tod eine andere. Sie hatte es selbst erfahren und konnte den Aberglauben nicht gänzlich beiseiteschieben: Doppelhochzeit, Erna und ihre Schwester Gertrud Krack aus Morgenstern heirateten zwei Löschmann-Brüder: Max und Hugo. Während meine Eltern fünf Kinder in die Welt setzten, starb Tante Gertrud kinderlos an Tuberkulose, zwei, drei Jahre nach der Hochzeit.

Solange meine Mutter lebte, ging es mit beiden in Zeitz getrauten Ehepaaren – Irla plus Christian Mundt und Gisela plus Wolfgang Fuhrmann – gut. Fast dreißig Jahre wohnte meine Mutter mit der Tochter zusammen, führte ihr auf weiten Strecken den Haushalt, betreute die Kinder, beaufsichtigte sie beim Lernen und Musizieren. Obwohl sie prinzipiell nicht in die Erziehung eingreifen wollte, gelang es ihr nicht, sich herauszuhalten: „Britta hast du schon …, Maren vergiss bitte nicht …, Gisela, du musst jetzt gehen, sonst kommst du zu spät.“ Vor meinem Schwager allerdings verstummte sie. Kam sie nach Leipzig zu Besuch, hielt sie sich bei uns konsequent aus allem heraus, lobte dies und jenes mit kargen Worten, vermied alles, was als Einmischung hätte aufgefasst werden können. Sie habe nicht vergessen, wie ihre Schwiegermutter sie immer wieder aufs Neue bevormundete.

Nach dem Tod unserer Mutter verfing sich mein Schwager Wolfgang in der Liebe zu einer Verlagsmitarbeiterin und verließ Gisela. Sie, die viele Jahre als Schöffin zahlreiche Ehescheidungen erlebt und beurteilt hatte, konnte es nicht fassen, dass ihre Ehe auseinanderbrach. Da half kein Reden, schon gar nicht das Verweisen auf die Vielzahl von Scheidungen um sie herum, da half keine Unterstützung: „Du kannst mit Maren zu uns kommen, bis du wieder Grund unter den Füßen hast.“ Einen langen Brief habe ich ihr geschrieben, um sie von den angedeuteten Selbstmordgedanken abzubringen und ihr als Wichtigstes die Verantwortung für ihre beiden Töchter, Maren, gerade mal 13, und Britta als Studienanfängerin in Jena auf die Familienbande besonders angewiesen, vor Augen und Seele zu führen. „Martin, wenn du mit mir sprichst, leuchtet mir ein, was du sagst, ich fasse Mut und denke, recht hat er. Aber wenn ich nach Hause komme, überfällt mich eine Dunkelheit, tut sich vor mir ein Abgrund auf, aus dem es kein Entrinnen gibt.“

Eine psychotherapeutische Behandlung hätte sicher etwas ausrichten können, doch die gab es in der DDR kaum. In der Nähe von Halle befand sich zwar eine Einrichtung, in der Suizidgefährdete erfolgreich behandelt wurden, wie wir in Erfahrung gebracht hatten, lange Wartelisten jedoch verhinderten die Aufnahme akuter, für den Aufbau des Sozialismus nicht unmittelbar relevanter Fälle. Bis zu einem Jahr Wartezeit in ihrem Fall. Dieses Jahr hätte mein Schwager mit seiner Frau gemeinsam überbrücken müssen. Sie war psychisch erkrankt, was uns und wahrscheinlich auch ihm nicht wirklich klar war. Da Wolfgang nicht die Kraft und die Entschlossenheit besaß, mit Gisela gemeinsam einen für beide dornigen Weg bis zur fälligen Psychotherapie zu finden und zu gehen, haben wir den Kontakt zu ihm abgebrochen und ihn deswegen nicht zum Familientreffen eingeladen, wie Jörg es gewünscht hatte. Die Wunde wird wohl offen bleiben. Wir erkennen unsere Schuld daran.

Nach zwei erfolglosen Suizidversuchen legte sich Gisela die Schlinge um den Hals. Für alle Hinterbliebenen ein furchtbarer Schlag, unfassbar, alles nur nicht das. Wie war sie lebenslustig, stand mit beiden Beinen sicher im Leben, leitete erfolgreich eine Buchhandlung in Halle-Neustadt, ließ uns die eine oder andere Lektüre-Bückware erwerben – Böll, Faulkner, Miller, Sartre, Stefan Zweig. Die gab es einzig und allein unter dem Ladentisch. Es konnte aber auch passieren, dass sie geschäftstüchtig unumwunden sagte: „Martin, den Hemingway kannst du nicht bekommen, ich habe da einen Kunden, der kauft deinen Hemingway plus ein Bündel von Parteiliteratur“ und dabei auf einen Stapel Broschüren zeigte, der mittels Bindfaden zusammengehalten auf den Abholer wartete. „Ich muss meine Vorgaben erfüllen.“

Buchhändlerin war ihr zweiter Beruf. In den Wochen der Umschulung an einer Fachschule in Leipzig war sie oft bei uns und wir haben in unserer Wohnung in der Springerstraße 4 trotz angestrengten Studiums eine recht lustige Zeit mit ihr verbracht. Über die Familienbande hinaus verband uns mit ihr und ihrem Mann eine feste Freundschaft. Es gab gegenseitige Besuche zu allen Gelegenheiten, wir haben tolle Feste gefeiert, gelegentlich Urlaub gemeinsam verbracht. Wir konnten uns aufeinander verlassen – Zusammenhalten der zwei jüngsten Geschwister, der durch gemeinsame Kriegs- und Nachkriegserlebnisse Geprägten, und nun diese jähe Wendung. Weshalb ich in meiner kurzen Begrüßungsrede zum Familientreffen darauf hinweise, dass uns nicht nur die gemeinsamen Gene verbinden, sondern mehr noch die gemeinsamen sozialen Erfahrungen, familienbedingte Schicksale. Die Geschwister gehören zur ersten Gruppe, in die man sich einfügen muss und dabei kann sich eine Tiefenbindung herausbilden, wie ich sie Gisela gegenüber empfunden habe.

 

Wochen vor dem Familientreffen deutete sich an, dass Maren mit ihren Kindern, Paul und Birte, und ihr Partner nicht kommen würden. Sie fühlte sich seit längerer Zeit nicht besonders, litt zu dieser Zeit an Depressionen, war zur Kur nicht weit von Chemnitz, von ihrer Cousine Kati entfernt. Sie sagte am Ende ab, offensichtlich wollte sie dem psychischen Druck einer solchen Begegnung aus dem Wege gehen. Sie musste erwarten, dass der Tod ihrer Mutter, meiner Lieblingsschwester, in irgendeiner Form thematisiert wird. Ich lasse den Begriff Lieblingsschwester stehen, wiewohl ich eine solche Bezeichnung lange Zeit für höchst fragwürdig hielt. Irla dagegen war eher wie eine Zweitmutter für mich.

Kati war es, die Maren nach der Verzweiflungstat ihrer Mutter aus Halle-Neustadt zu uns nach Leipzig holte. Offensichtlich unter Schock hatte Maren im Zug gepfiffen, sich verhalten, als wäre nichts passiert. Auch bei uns zu Hause zeigte sie keine Spur von Betroffenheit, geschweige denn irgendeine Art von Trauer. Vergeblich versuchten wir mit ihr ins Gespräch zu kommen, die Versuche prallten wie von einer leeren Wand ab. Ihre Mutter kam bei ihr einfach nicht mehr vor, den Platz nahm Giselas Nachfolgerin ein. Erst nach Abschluss der psychotherapeutischen Behandlung und dem Familientreffen kam sie auf uns zu, um sich nun endlich selbst ein Bild zu verschaffen.

Zu unserer Überraschung gestand sie, was uns die ganze Zeit unverständlich gewesen war, dass sie von ihrer leiblichen Mutter überhaupt keine Vorstellung mehr hatte. Wir verschwiegen ihr nicht, dass es für uns bis heute unbegreiflich ist, dass Gisela sie, ein liebes Mädchen, ein vielseitig interessiertes Kind, eine sehr gute Schülerin, mit dreizehn Jahren im Stich gelassen hatte. Immer wenn Maren mit guten Leistungen im Abitur, im Studium, im Beruf, in ihrem Unternehmen Tapir glänzte, denken wir an Gisela. Wie konntest du nur, du hättest so viel Freude an deinen Kindern und Enkeln haben können.

Britta war in diesen Vorwurf Gisela gegenüber zunächst viel weniger involviert, weil sie für uns beim Tod ihrer Mutter im Vergleich zu Maren erwachsen schien. Dabei hatte sie nicht weniger am Verlust zu tragen. Heute denke ich, sie brauchte eine Mutter noch ebenso wie Maren. Sie war auch die einzige der Familie, die über Jahre in Halle-Neustadt sowohl die Grabstätte ihrer Großmutter wie die von Gisela pflegte. Obwohl ich in den 70er Jahren wenig von Friedhofsbesuchen und kommunizierte Erinnerungen für viel wichtiger hielt, hatte ich lange Zeit ein schlechtes Gewissen, weil ich Britta mit den beiden Gräbern allein gelassen hatte. Beim Familientreffen spreche ich mein passiv gebliebenes Schuldgefühl an.

Auf den entscheidenden sozialen Aspekt bei der gefühlten Familienzugehörigkeit macht Olafs erste Reaktion auf das Familientreffen aufmerksam. „Ich kenne euch doch gar nicht“, lässt sich Irlas Sohn aus zweiter Ehe vernehmen. Recht hatte er, als er in der Familie aufwuchs, trennte uns die Mauer und als sie geöffnet wurde, gingen die verschiedenen Familien auf den unterschiedlichen Generationsebenen längst ihre eigenen Wege. Ausschlaggebend für Olafs Entscheidung, mit seiner Sabine am Ende zu kommen, war wohl Geralds Rat. Er, der Ehemann der vor Jahren verstorbenen Renate, meiner Schwester zwischen Irla und Gisela, kinderlos geblieben, hatte zu Olaf eine enge Bindung aufgebaut. Meinem Schwager bin ich für seinen guten Rat noch aus einem anderen Grund dankbar.

Nach dem Tode von Renate hatte Gerald jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen und war selbst nach dem Umbruch nicht bereit, mich anzuhören. Und das kam so: Renate war stolz auf ihren Bruder, nicht zuletzt deshalb, weil er studiert hatte. Sie hatte ihn und seine Familie unterstützt, durch ‚Westpakete‘ zu Weihnachten und mitgebrachte Geschenke, wenn sie uns besuchten, z.B. zu Katis Jugendweihe Raufasertapete, Jahre später in der DDR zu haben. Als Verwandter ersten Grades hätte ich laut Gesetz die Erlaubnis bekommen müssen, an der Bestattung teilzunehmen. Nachdem ich die traurige Nachricht von Renates Tod erhalten hatte, teilte ich Gerald sofort mit, dass ich selbstverständlich kommen werde, fest der Überzeugung, man würde mich trotz des für mich derzeit bestehenden Reiseverbots nach Dortmund fahren lassen. Mitnichten. Ich lief von Pontius zu Pilatus, hatte die Unterstützung meines Direktors, Professor Hexelschneiders. Das Verbot, ins kapitalistische Ausland zu reisen, wurde für diesen Todesfall nicht aufgehoben. Anstatt den Tatbestand meinem Schwager ohne Umschweife zu sagen, gab ich aus Angepasstheit, aus Untertanengeist, Etabliertheit, Bequemlichkeit, Feigheit, Karrieredenken – ich stand kurz vor der Habilitation – nicht den wahren Grund an, sondern hielt mich an die offizielle Sprachreglung bei solchen Fällen: plötzliche Krankheit.

Gerald konnte nur schlussfolgern, der will nicht, ist zu bequem, pflichtvergessen, undankbar, ach was weiß ich; er hat mir mein Nichtkommen niemals verziehen, ich kann es ihm nicht verdenken. Er musste meine zwei Briefe nach der Wende als kläglichen Versuch empfinden, die erzwungene Absage zu rechtfertigen. Da war indes nichts zu rechtfertigen, bestenfalls ein Versagen zu erklären. Würfe mir jemand meine vorgestanzte Notlüge vor, akzeptierte ich es voll, heute noch leide ich an meiner damals geringen Zivilcourage. Man hätte mich zwar unter keinen Umständen nach Dortmund fahren lassen, jedoch hätte ich ein besseres Gewissen.

Auch Olafs Bruder Gernot gehörte wie Birge, Tochter von Ute und Gernot, von Anfang an zu den Befürwortern des Treffens. Birge wollte, obschon hochschwanger, unbedingt teilnehmen. Allein die Geburt ihrer Tochter Karoline verhindert das. Das freudige Familienereignis wird zur gelungenen, von allen Seiten begrüßten Parallelveranstaltung: „Hallo, Birge, Onkel Martin ist gerade am Ende seiner Begrüßungsrede. Gratulation zur Geburt von Karoline und wirklich alles, alles Gute für Kind, die Mutter und den Vater, schade, dass ihr nicht hier sein könnt.“ Keine Frage, Karoline war zum Baby-Star des Treffens avanciert.

„Das Familientreffen als eine Möglichkeit des Bekanntmachens und des Kennenlernens, der Zuordnung und Einordnung, des Austausches, der Aussprache, des sich Vergewisserns, des Bewusstwerdens von sozialer Vererbung, als Möglichkeit, sich mit dem Leben der Eltern, Großeltern, von Kindern und Enkeln, der Tanten und Onkel auseinanderzusetzen. Es geht nicht um Beschuldigungen, Rechtfertigungen, Verteidigung irgendwelcher Positionen, nicht um Spiegeleffekte, schon gar nicht um die Verteilung eines Lottogewinns“, schreibe ich an Jörg, weil ich ihm einsichtig machen will, worin ich den Sinn des vorerst einmaligen Treffens sehe. Mein Schreiben war notwendig geworden, weil ich seine thailändische Partnerin, jetzt seine Ehefrau, aus seiner Sicht brüsk ausgeladen hatte und er darüber so erbost war, dass er nicht teilnehmen wollte. Heike, seine damals angetraute Frau, hatte ich nämlich zuerst von allen Familienangehörigen eingeladen, sie ist die Mutter zweier unserer Enkelkinder und gehört bis heute selbstverständlich zur Familie.

Ohne es auszusprechen, hatte ich Suksan nicht in der Planung berücksichtigt. Ausschlaggebendes Argument für mich, dass sich die beiden Frauen bisher nicht über den Weg gelaufen waren, und die erste Begegnung sollte ausgerechnet bei dem Familientreffen stattfinden. Ich sah das nicht erprobte, brisante Aufeinandertreffen von Angehörigen, die sich zum Teil bislang niemals begegnet waren, unnötig belastet. Dass wir kein Problem mit Suksan hatten, wurde Jörg unmissverständlich vorsorglich gezeigt und sie schon mal zur bevorstehenden Feier zu seiner Mutters 70. Geburtstag, ein halbes Jahr darauf, eingeladen.