Kein Weg war zu weit

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Kein Weg war zu weit
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Martin Naumann

KEIN WEB WAR ZU WEIT

Eine Erzählung nach Tatsachen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2013

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei Martin Naumann

Fotobearbeitung: Kati Künzel

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kein Weg war zu weit

Anhang

Der graue Asphalt wurde zur Wand, auf die ich hart aufschlug und darüber hinweg schlitterte. Wie aus heiterem Himmel hatte es gekracht; das Klirren von Metall und dann ein dumpfer Aufprall. Die Rennfahrer im Pulk schienen das kaum bemerkt zu haben, niemand drehte sich um, und nach Sekunden war ich allein. Ich wollte aufspringen und hinterher rasen, doch ein heftiger Schmerz hielt mich am Boden fest. Wie ich mir des vergeblichen Bemühens bewusst wurde, schrie ich gegen diesen Schmerz an: „Sinnlos, alles sinnlos“, und blieb liegen.

Doch es war niemand da, der das hätte hören können. Der Lumpensammler, ein Lastwagen, der alles gestrandete Gut, das auf der Rennstrecke liegen blieb, aufnehmen sollte, war noch weit. Er fuhr hinter dem Letzten her, darauf wartend, dass auch dieser seinen Stolz aufgab, um als Geschlagener auf den Wagen zu kriechen.

Und doch war ich nicht allein, denn von dem nahen Dorf, das wir soeben durchfahren hatten, lösten sich zwei kleine Gestalten, die den Vorfall beobachtet hatten. Sie trugen graue Taschen mit einem Roten Kreuz darauf, offenbar junge Sanitäter, ein Mädchen und ein Junge, vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt. Ratlos blieben sie zunächst stehen. „Ob er tot ist?“, flüsterte das Mädchen. „Unsinn“, sagte der Junge, „wenn man vom Rad fällt, ist man nicht tot.“ Da hatte er wohl seine Erfahrungen. Vorsichtig berührten sie mich. „Er hat die Startnummer Dreizehn“, fügte er hinzu, „das müssen wir aufschreiben.“

Ich hatte das Gespräch mit angehört und spürte die kleinen Hände an meinem Körper. Nein, tot war ich wirklich nicht, dafür empfand ich den beißenden Schmerz allzu deutlich. Aber sterbenselend fühlte ich mich tatsächlich. Doch das war weniger die Verletzung, da hatte ich schon Schlimmeres erlebt, es war vor allem das langsam aufkommende Bewusstsein, sehr tief gefallen zu sein. Und ich war hoch gestiegen, stand einmal für wenige Minuten ganz oben auf dem Treppchen als die Nationalhymne erklang: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns dir zum Guten dienen Deutschland einig Vaterland …“ Das durfte man damals noch singen: „Deutschland einig Vaterland.“ Später dann begnügte man sich mit der Melodie und der Phantasie. Doch je höher man steigt umso tiefer kann man fallen. Und nun lag ich hier unten im Dreck mit der Ahnung, dass da etwas davonfuhr, das ich nie wieder einholen würde.

So wagte ich einen Blick und sah dünne, bloße Beine vor mir. Da beschloss ich meinen Trotz aufzugeben und bewegte mich vorsichtig. Die beiden Sanitäter wichen unwillkürlich einen Schritt zurück, mit Verletzten hatten sie wahrscheinlich noch nie etwas zu tun gehabt. Ich sagte kein Wort und stand langsam auf, ungeschickt von den beiden unterstützt. Dann ging ich die paar Schritte zu meinem Rad, das den Sturz besser überstanden zu haben schien. Erst jetzt blickte ich auf mein Bein, es sah schlimm aus. Die scharfen Steine, die hier aus der notdürftig geflickten Asphaltdecke ragten, hatten in der Haut ihre Spuren hinterlassen und sich tief in den Muskel gebohrt. Das Blut lief in dünnen Spuren am Bein hinunter, färbte die weiße Socke rot und versickerte im Schuh.

Mit zitternden Händen kramten die Kinder in ihren Taschen und holten Verbandszeug heraus. Gewiss hatten sie bisher nur Mitschüler behandelt, deren Arme und Beine mit Lippenstift rot bemalt worden waren. „Die Gemeindeschwester hat uns doch gezeigt wie man Verbände anlegt“, sagte das Mädchen, „immer von unten nach oben, dem Herzen zu, damit sich das Blut nicht staut.“ Das hier war etwas ganz anderes, und so jammerte der Junge: „Mir wird schlecht“. Da nahm ihm das Mädchen die Binde aus der Hand und wickelte tapfer den Verband, wie sie es gelernt hatte. Ich half ihr ein wenig, indem ich meine Rennhose, die ebenso zerschlitzt war wie die Haut, nach oben zog, damit die Wunde frei lag. Doch noch immer war ich so abwesend, dass ich mich nicht einmal bedankte.

Alles weitere geschah mechanisch, nicht vom Verstand geprägt und trotzdem zielgerichtet. Dabei hatte ich das Gefühl, als betrachte ich mich selbst von außen. So bemerkte ich plötzlich, dass ich auf dem Rad saß und fuhr. Aber nicht hinter dem Pulk her, sondern zurück ins Dorf. Einige Ausflügler, die sich dort an der Kreuzung postiert hatten, sahen mir neugierig entgegen. Offenbar hatten sie das Rennen beobachtet und den Vorübereilenden fleißig zugeprostet, denn einige hatten Bierkrüge in der Hand. Das könnte für manchen eine Versuchung sein, vor allem für diejenigen, die sich quälen mussten und zurücklagen. Jetzt riefen die Leute mir zu: „Hier geht’s lang“, und schwenkten dabei ihre Krüge in die Gegenrichtung, doch ich beachtete sie nicht weiter.

Sollte ich hier auf den Lumpensammler zu warten? Unwillig verwarf ich diesen Gedanken wieder; sollten sie mich auslachen, mich, der noch nie auf diesen Wagen der Niederlage gekrochen war?

Mein Verstand war regelrecht benebelt, instinktiv bog ich nach links ein, der Himmelsrichtung entgegen, in der ich Erfurt wusste; die Stadt, aus der ich vor zwei Stunden voller Hoffnungen aufgebrochen war.

Im Dorf läuteten die Glocken Himmelfahrt, Feiertag, christlicher, allen ein Willkommen, ob sie nun glaubten oder nicht. Ich machte mir keine Gedanken darüber. Doch merkwürdig, an diesem Donnerstag im Mai war das Wetter immer schön, vermischte sich der Frühling mit dem herannahenden Sommer. Freilich, die Rennfahrer hatten die Hitze, die über dem staubigen Asphalt flimmerte, nicht so gern. Höchstens die, die sich die Hitze aufs Panier geschrieben hatten, die glaubten gerade darin ihren Verbündeten gefunden zu haben. Bei anderen war es wieder die Kälte oder der Regen oder auch das schlechte Pflaster. Jeder nahm sich so von der Natur etwas, das ihm helfen sollte durchzustehen, besser als die anderen. Himmelfahrt, sinnigerweise hatten die Veranstalter vor vielen Jahren das schwere „Rund um die Hainleite“ gerade auf diesen Tag gelegt. Eine Fahrt war das auch, wollte Gott behüten, dass es im wahrsten Sinne des Wortes eine Himmelfahrt würde.

Und während ich fuhr, wie ein Automat aus Fleisch und Blut, den ein bohrender Schmerz vorwärts treibt, liefen die Kilometer noch einmal vor mir ab. Ich wollte mich dagegen wehren, aber sie verfolgten mich. In den letzten Monaten war ich nicht gerade vom Erfolg verwöhnt worden. Stürze, Formtiefs, Materialschäden, Niederlage auf Niederlage. Immer wieder stand ich auf und warf das Schlechte ab, das mich da verfolgte, doch es wurde mir nicht gelohnt, ich fand nicht mehr heraus aus dem Keller. Heute und hier sollte sich das ändern. Ich hatte mich im Training nicht geschont und war oft 150 ja 200 Kilometer allein gefahren, so dass ich mit müden Beinen, aber voller Zuversicht heimkam. Doch schon heute Morgen, beim ersten Tritt hatten sich die Zweifel wieder eingestellt. Das Gefühl, so kraftvoll auf die Pedale zu treten, dass ich glaubte, sie abbrechen zu können, was mir tatsächlich schon passiert war, hatte ich verloren. Jetzt war es eher ein Gefühl der Ohnmacht, wie ich es noch nie erlebt hatte.

Ich sah die erste Staffel wieder vor mir, in die ich heute nicht hineingekommen war. Dort fuhren die, mit denen ich mich oft um die Plätze gestritten hatte und auch solche, mit denen ich sonst nicht viel Federlesens machte, mit einem Zwischenspurt war ich an ihnen vorbei gefahren, um mich dann vorn einzuordnen. Respektvoll hatten sie mir Platz gemacht. War das nun überheblich gewesen oder mehr ein Spiel mit der Kraft? Jetzt rasten die anderen dahin, dass es eine Lust war für sie, nicht aber für mich. Hinter der zweiten Staffel war ich hoffnungslos im Wind gefahren, der von rechts vorn kam.

Als ich eingesehen hatte, dass meine Kraft weder reichte um allein nach vorn zur Spitze des Feldes zu kommen, noch, um wenigstens hier den Anschluss zu halten, hatte ich den Drittklassigen, mit denen ich nun fuhr, Befehle und Kommandos zugerufen um eine zweite Staffel zu bilden, ihre und meine letzte Chance. Doch sie begriffen nicht, sie wollten nicht begreifen, sie suchten nur den Windschatten, aber führen wollten oder konnten sie nicht.

Panik hatte mich ergriffen, eine Empfindung, die ich so nicht kannte und die meine Kräfte weiter lähmte. Und wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass mit dem Nachlassen der körperlichen Kräfte auch die geistigen schwinden, so hatte ich das schmerzlich erfahren müssen. Eine Sekunde Unachtsamkeit genügte: Mit meinem Vorderrad hatte ich ein Hinterrad berührt, ich hatte die Welle nicht mehr aussteuern können. Es war meine Schuld.

 

Jetzt fuhr ich allein zurück. Die Landstraße erschien mir endlos. Sie führte zu einem Ziel, das ich noch nicht kannte. In mir rangen zwei Gedanken miteinander: Einmal sagte ich mir, dass alles keinen Sinn mehr habe, ich gestand mir ein, dass dieser Sturz nur der Punkt unter einer langen Reihe erfolgloser Versuche war, wieder ganz nach vorn zu kommen. Dann wandelte sich meine Niedergeschlagenheit in Zorn: Ich werde es schon wieder packen, sagte ich mir, und vor meinen Augen rollten sofort Beispiele ab, wo ich nach Niederlagen erneut triumphiert hatte.

War es je leicht gewesen zu gewinnen oder auf einem vorderen Platz zu landen? Gewiss nicht! Und in manchem Erfolg lag verborgen, welche Energie, welche Mühe, ja welche Qualen dem vorausgegangen waren. Es kam schon vor, dass ich ein halbes Hundert Kilometer und mehr auf dem Rad gehangen hatte, nur um Haaresbreite der Versuchung erlegen aufzuhören. Hatte ich das Martyrium aber durchgestanden, wurde ich meist belohnt. Diesmal hatte mich der Sturz davon abgehalten das Letzte zu versuchen.

Der brennende Schmerz unterbrach meine Gedanken immer wieder und trug vielleicht Schuld daran, dass die aufkommende Hoffnung, an die ich mich klammern wollte, einer erneuten Depression weichen musste.

Dieser Himmelfahrtstag sah aber nicht nur die Rennfahrer, sie waren lediglich bunte Punkte in einer heiteren Landschaft. Ein Feiertag, ein Sonnentag, ein Ausflugstag! Da blieb wohl kaum jemand zu Hause, zumal irgend ein Witzbold vor vielen Jahren diesen Tag zum Vatertag erklärt hatte. Eine Verpflichtung somit für Väter und alle die es werden wollten, an diesem – ihrem Tag – die Fesseln zu sprengen, um ihre urwüchsige Frohnatur ungehemmt ausbreiten zu können. Zurecht geputzt wie Pfingstochsen saßen sie auf gemieteten Pferdewagen, um Feld und Wald zwischen den Gaststätten besser genießen zu können. Oder sie kamen auf Fahrrädern mit Bierdeckeln in den Speichen und Schießblumen am Lenker oder sie zogen ganz einfach zu Fuß von Wirtshaus zu Wirtshaus. Sie glaubten diesen Tag mit Hilfe von geistigen Getränken feiern zu müssen, und nicht wenige feierten so lange, bis sie sich im Himmel wähnten oder auch in der Hölle!

Ich hätte nicht sagen können, warum ich gerade am Gasthaus „Zum letzten Heller“ angehalten hatte, denn in meiner Situation flieht man eigentlich jeder Gesellschaft und möchte sich am liebsten verkriechen. Der Schmerz hatte etwas nachgelassen, dafür fühlte ich eine Schwäche in mir, die nicht unangenehm war, die mir aber den letzten klaren Verstand raubte.

Trotzdem lehnte ich mein Rad behutsam an den Zaun. Ich behandelte es fast so wie ein Jockei sein Pferd: Im Rennen verlangt er ihm alles ab, um es danach umso mehr zu pflegen.

Ein Kreis von Neugierigen umringte mich. „Hattest wohl keine Lust mehr?“, wollte ein junger Mann mit Zylinderhut wissen, dabei sah der leise Spott aus seinen Augen. Ein anderer wieder meinte: „Die Rennstrecke geht hier aber nicht lang!“ und lachte schallend über den Witz, den er soeben gerissen hatte.

„Ihr Schafsköpfe“, sagte eine grauhaarige Frau, „seht ihr denn nicht, dass er verletzt ist?“ Und zu mir gewandt fragte sie: „Möchten Sie ein Bier?“, und blickte dabei auf mein Bein. Auf dem Verband, den das Mädchen angelegt hatte, zeigten sich frische rote Flecke, die Blutspur am Bein war angetrocknet. Die Frau wartete meine Antwort nicht erst ab, sondern nahm dem Wirt, der gerade mit vollem Tablett hinzukam, einfach ein Glas Bier ab und reichte es mir hin. „Geht auf meine Rechnung“, sagte sie dabei. Ich nahm das Glas und trank es unter den beifälligen Blicken der Menge in einem Zug aus. Merkwürdig, das schmeckte mir, mir, der sonst nie Bier trank.

Die freundliche Frau aber sagte: „Ihr Bein sieht übel aus. Das müsste sich ein Arzt ansehen, doch die sind wohl alle unterwegs, eben Himmelfahrt. Ein Stück weiter, in Richtung Erfurt, ist ein kleines Krankenhaus, die haben auch eine Ambulanz“ und sie beschrieb mir den Weg.

Bei jedem Tritt spürte ich die Verletzung. Endlich kam das Krankenhaus. Der Pförtner döste am Eingang vor sich hin, wahrscheinlich wäre er auch lieber unterwegs gewesen. Er kam heraus, sah kurz auf mein Bein und zeigte auf eine Tür. „Dort finden Sie den diensthabenden Arzt.“ Ich stellte mein Rad ab und bat den Pförtner, er solle es im Auge behalten, weil ich es nicht anschließen konnte. „Ich passe auf“, sagte er, „gestürzt beim Rennen?“

„Ja, eben Pech“ erwiderte ich und ging zur Tür, an der Ambulanz stand. Eine Schwester erschien und rief nach dem Arzt: „Doktor, es gibt Arbeit.“

Dieser sah mein Bein und mein Trikot und sagte: „Da hat es wieder einen erwischt beim Himmelfahrtsrennen, bei den miserablen Straßen kein Wunder.“ Ich musste mich auf die Pritsche legen und erklären, wer den Verband angelegt habe, und offenbar war der Arzt mit der Arbeit der Jungen Sanitäter zufrieden.

„Zuerst muss die Hose runter, Schwester helfen Sie mal.“

Ich schämte mich, aber mir blieb nichts anderes übrig und so zogen mir beide vorsichtig die Rennhose aus und der Arzt meinte: „Da die Haut an mehreren Stellen durchtrennt ist, hat Nähen nicht viel Zweck. Ich werde die Wunde nur säubern und einen festen Verband anlegen.“

Nach der Prozedur wollte ich aufstehen, doch der Arzt drückte mich vorsichtig wieder auf die Pritsche und fragte: „Sie wollen doch nicht etwa mit dem Rad weiter fahren?“

„Doch, ich muss erst einmal nach Erfurt, dort habe ich meine Sachen im Hotel, und dann werde ich mit dem Zug nach Leipzig weiterfahren.“

„Nun, das ist nicht gut, aber Sie sind wohl hart im Nehmen. Trotzdem – überanstrengen Sie das Bein nicht, machen Sie lieber öfters eine Pause und strecken es lang aus. Zu Hause aber müssen Sie gleich zum Arzt.“ Ich sollte noch eine Tetanusspitze bekommen, doch ich war bereits geimpft. So wollte er nur noch wissen, ob ich einen Ausweis bei mir habe, er brauche die Daten.

Im Trikot steckte mein Sportausweis, sonst fuhr ich ja nicht mit diesem Ausweis herum, aber seit es einmal in Berlin bei einer Kontrolle Ärger gegeben hatte, nahm ich ihn lieber mit. Der Arzt blätterte eine Weile darin herum und sagte: „Das hier ist nicht sehr aufschlussreich, ich sehe auch nur eine Untersuchung im Jahr, was wurde denn da gemacht?“

„Ja, den Stempel brauche ich, da wird der Blutdruck gemessen und so.“

„Und so“, wiederholte der Arzt, maß nun seinerseits den Blutdruck und hörte dann lange in das Herz hinein. „Durch die Verletzung und das Ausscheiden aus dem Rennen sind sie wohl etwas deprimiert, denn das sind keine normalen Werte. Sie müssten sich mal genau untersuchen lassen, Blutdruckmessen allein genügt da nicht. Ich gebe Ihnen eine Überweisung mit an meinen Studienfreund an der Leipziger Uni, dort haben sie bessere diagnostische Möglichkeiten.“

Ein Straßenrennfahrer, der aus dem Rennen ausgeschieden ist, ist ein Nichts. Er ist überhaupt kein richtiger Bürger. Außer seinem Rad, seiner Niedergeschlagenheit und seiner Rückennummer hat er nichts.

Er trägt kein Geld bei sich, denn das schleppt man nicht im Renntrikot mit. Das würde ja von vornherein bedeuten, nicht an sich, sondern an seine Niederlage zu glauben.

Einmal bei „Rund um Berlin“ kam die Klasse I, die Erstrangigen, nicht an die Vorgabeleute, die Zweit- und Drittrangigen heran. Nur Erich Schulz brachte dieses Kunststück fertig. Wir aussichtslos zurückliegenden Fahrer aber verließen den Rundkurs, der im 220-Kilometer-Bogen um die Stadt führte, um auf dem kürzesten Weg wieder in das Zentrum zu gelangen.

Weit kamen wir nicht, dann war die Straße durch einen Schlagbaum gesperrt, vor dem zwei Uniformierte standen. Diese Posten erstarrten nicht ehrfürchtig vor den prominenten Sportlern, die passieren wollten, sie verstanden nichts vom Radsport, sie interessierten sich nicht für die Kostümierung, sie wollten nur die Ausweise sehen.

Wir antworteten als Geschlagene weder höflich noch diplomatisch: „Greif mal einem nackten Mann in die Tasche. – Haben wir nicht, wir kommen vom Rennen.“

Die Posten wurden misstrauisch, bestimmt ein ganz neuer Trick, sich ohne Ausweis in die geteilte Stadt zu schmuggeln. Dabei gerieten sie unversehens in einen Gewissenskonflikt, denn jeden Bürger ohne Ausweis mussten sie bis zur Identitätsklärung festhalten. Doch das bedeutete große Umstände und vielleicht waren die Rennfahrer auch echt? Am einfachsten war es, sie schickten die Sportler auf ihre Rennstrecke zurück, sollten sie dort weiter fahren.

Doch wir protestierten energisch: „Mann, stellt euch nicht so an. Hier sind unsere Rückennummern, einen anderen Ausweis haben wir nicht.“

„Und hier ist keine Rennstrecke“, erwiderte der Posten, „uns ist nichts gemeldet.“

Wir wurden unwillig: „Von hier sind es 25 Kilometer bis ins Zentrum, auf der Rennstrecke müssten wir noch 100 Kilometer fahren. Wir wollen hier durch.“

Die Verhandlung wurde immer lauter geführt; wir sahen uns doppelt bestraft. Und da wir ohnehin müde waren, traten wir einfach in den Sitzstreik, sollten sie uns wegtragen lassen, da brauchten wir nicht selbst zu fahren.

Während die Posten völlig ratlos dieser Situation gegenüber standen, kam Hilfe in Gestalt eines Leutnants, ihres Vorgesetzten, der an der Rennstrecke zugesehen hatte.

Er hieb den Knoten einfach durch, er sah die niedrigen Rückennummern der Leistungsklasse: „Na, heute hat es nicht geklappt?“, er wollte uns in ein Gespräch verwickeln. Wir aber hatten keine rechte Lust dazu und gaben einsilbige Antworten, so dass uns der Leutnant mit militärischem Gruß in Richtung Berlin entließ.

Während ich nun Richtung Erfurt fuhr, bohrte der Schmerz in meinem Bein, und ich versuchte die Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Beim Training dachte ich auch oft an alles andere, bei einem Rennen ging das natürlich nicht, da musste man hellwach sein, was aber diesmal nicht funktioniert hatte.

Ja, in die Stadt Erfurt war ich voller Hoffnung gekommen, ich hatte zwar bei fünf Teilnahmen noch nie das Himmelfahrtsrennen gewinnen können, aber ich hatte doch den Großen die Zähne gezeigt und zweimal waren nur zwei Fahrer vor mir im Ziel und hundert hinter mir. Das erste Mal hatte der Olympiadritte von Helsinki gewonnen und beim zweiten Mal waren nur der Deutsche Meister Ost und der Deutsche Meister West vor mir angekommen. Das alles hatte mir Mut und Zuversicht gegeben, es noch einmal zu versuchen. Auch im letzten Jahr hatte ich es beim Himmelsfahrtsrennen wissen wollen. 15 Kilometer vor dem Ziel war ich auf einer Steigung mit einem Zwischenspurt der Spitzengruppe davon gefahren. Nur Rudi Kirchhoff, der Berliner Zeitungsfahrer, konnte mir folgen, obwohl er am Berg seine Schwierigkeiten hatte. Wir wechselten uns in der Führung ab und ich wusste, dass er mich im Spurt schlagen würde, denn er hatte in diesem Jahr schon einige Rennen im Endspurt gewonnen. Doch fünf Kilometer vor dem Ziel wurden wir eingeholt, und ich hatte mich ziemlich verausgabt. Der spurtgewaltige Kirchhoff gewann, und ich wurde nur Sechster. Ein sechster Platz war schlecht, aber heute wäre das ein Gewinn gewesen. Immerhin, meine Freundin hatte die Rennreportage gelesen und geschrieben, dass sie sich über den Bericht gefreut habe, auch weil ich berghoch der Bessere gewesen sei.

Doch das war genau vor einem Jahr; was würde sie jetzt sagen? Würde sie mich bemitleiden oder mich wieder aufrichten? Versuchen würde sie es gewiss, aber das wäre wohl jetzt sinnlos. Dabei war schon immer das Fahrrad wichtig für mich, und meine Gedanken glitten weit zurück in die Kindheit, als ich mit 12 Jahren erstmals in die Pedalen trat. Damit hatte alles angefangen

Zunächst war das Rad nur eine Utopie. Das erste Rad, das ich benutzen konnte, hatte nicht unter dem Weihnachtsbaum gestanden, keine Großmutter hatte es mir geschenkt, kein reicher Onkel oder sonst wer, nein, es war das Rad des Vaters, der es nicht brauchte, weil er in Russland Flugzeuge der Luftwaffe reparieren musste. Er hatte es auf Teilzahlung gekauft und die letzte Rate vor seinem unfreiwilligen Dienstantritt noch bezahlen können. Das Rad hatte mich gelockt, zu sich gezogen. Ich griff in den Lenker, zog die Bremse, hob das Hinterrad hoch und drehte die Kurbel. Das Rad surrte: „Fahr mich doch!“ Und so setzte ich mich im Kellergang darauf und fuhr immer vor und zurück. Der Gang war fünf Meter lang und an einer Lattenwand konnte ich mich gut festhalten. So wagte ich mich endlich auf die Straße. Da war keiner, der mich hätte halten können, doch das Rad gehorchte mir. Etwas bockte es noch, aber es warf mich nicht ab. Ganz im Gegensatz zu dem, was mir heute passiert war.

 

Doch bis hierher war es ein weiter Weg, nicht nach Kilometern, sondern ein Irrweg in der Geschichte; es begann mit dem Inferno von Leipzig. Die Stadt war bombardiert worden, ein einziges Flammenmeer in der Nacht. Es brannte die historische Innenstadt, kein kriegswichtiges Ziel, aber eine Buch- und Messestadt. Durch die Straßen raste ein Feuersturm, die Feuerwehr war machtlos, kleinere Brandherde bekämpften beherzte Bewohner selbst, auch mein Großvater hatte sich daran mit Erfolg beteiligt, und die Thomaner löschten mit geistlicher Hilfe einen Brandherd in der Thomaskirche. Das war am 4. Dezember 1943. Meine Tante hatte alles verloren, beinahe auch das Leben. Gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn konnte sie das brennende Haus nicht mehr verlassen, es gelang ihr aber durch eine Reihe von Mauerdurchbrüchen, angelegt als Fluchtweg von Haus zu Haus, zu entkommen. Sogenannte Christbäume schwebten da am Himmel, bis Weihnachten war es noch eine Weile hin, aber es ging nicht um Weihnachten sondern darum, die Bombenziele zu markieren. Und das waren nicht die Rüstungsbetriebe, sondern das historische Zentrum der Messestadt. Es gab 2 000 Tote und 150 000 Menschen hatten ihre Wohnungen verloren. Das nächtliche Drama spiegelte sich in den gefrorenen Pfützen wider. Fassungslos standen die Menschen, die es diesmal nicht getroffen hatte, vor ihren Häusern. Darunter der alte Wilhelm, der sagte: „Wenn sie wenigstens die Kugellagerfabrik bombardiert hätten, dann wäre der Krieg bald aus, denn ohne Kugellager fliegt kein Flugzeug, fährt kein Panzer, überall braucht man Kugellager“, er musste das wissen, er hatte dort gearbeitet. Der Blockwart, der ebenso fassungslos auf das Inferno schaute, hatte noch einen halben Satz gehört und lauernd gefragt: „Wie meinst du das?“ Schließlich musste er hier an der sogenannten Heimatfront aufpassen, dass keiner defätistische Gedanken äußerte, er musste das sonst weitermelden. Doch Wilhelm hatte begriffen, in was er sich da hinein manövrieren könnte und schnell gesagt: „Zum Glück ist die Kugellagerfabrik nicht getroffen worden, die Präzisionsarbeit dort ist nicht ersetzbar.“

Der Blockwart war so schlecht nicht. Nach Beginn der Dunkelheit ging er regelmäßig durch die Straße und kontrollierte, ob alle Fenster richtig verdunkelt waren. Die meisten hatten Rollos, wir begnügten uns aus finanziellen Gründen mit einer Decke, die einmal etwas verrutscht war. Da klopfte er laut an die Tür, ob wir dem Gegner das Ziel weisen wollten? Es passierte uns nicht wieder. Dabei hätte er wenig später allen Grund gehabt gegen uns Kinder vorzugehen, aber er tat es nicht.

Am Anfang des Luftkrieges konnten die Bomber der Alliierten noch nicht so große Lasten aufnehmen. Neben den Bomben, von denen manche so stark waren, dass sie ein ganzes Haus in einen Trümmerberg verwandeln konnten, setzten sie Stabbrandbomben ein, schlanke sechseckige Körper aus Magnesium mit einem Hohlzylinder aus Blech, der für einen senkrechten Flug nach dem Abwurf sorgen sollte. Diese Bomben richteten zunächst kaum Schäden an, solange sie kein Haus trafen. Wenn aber doch, durchschlugen sie die Dachhaut und während die Bewohner noch im Luftschutzkeller auf das Ende des Angriffs warteten, brannte bereits das Obergeschoss. Wenn diese Brandbomben das Ziel verfehlt hatten, blieben sie irgendwo im Boden stecken ohne sich zu entzünden. Eine dieser Bomben hatten wir Kinder auf der Wiese entdeckt und ausgebuddelt, scheinbar ein harmloses Stück Metall. Ich schlug damit gegen eine Bordsteinkante und sofort geriet das Magnesium in Brand. In der abendlichen Dämmerung wurde die Hausfassade in ein blaues grelles Licht getaucht. Der alarmierte Blockwart kam hinzu und löschte mit einem Eimer Sand das Teufelsding.

Wir wohnten in einer Siedlung, die sich dadurch auszeichnete, dass sich ringsum Rüstungsbetriebe befanden, nur deshalb war für die Arbeiter auch die Siedlung gebaut worden, billige Häuser mit dünnen Wänden. Da war der Flughafen Leipzig-Mockau, ein historischer Platz, denn von dort starteten 1910 die ersten fliegenden Kisten, dann kamen die Postflieger, ab 1913 war er Verkehrsflughafen, den Zeppelin hatte ich dort ankern sehen. Im Krieg wurde in den Hallen das Jagdflugzeug ME 107 zusammen montiert und danach eingeflogen. Ein Stück weiter lagen die Mitteldeutschen Motorenwerke, der Lärm der Prüfstände für Flugzeug- und Panzermotoren war meilenweit zu hören. Dann kam weiter im Kreis die Flakkaserne und ein Stück weiter die HASAG, ein geheimnisvoller Rüstungsbetrieb, wo auf den Prüfständen schnellfeuernde Waffen getestet wurden, was man nicht sehen aber hören konnte. Nicht weit von der Siedlung entfernt, standen die eilig aus dem Boden gestampften Hallen des Flugzeugwerkes. Damit schloss sich der Kreis und mitten drin unsere Siedlung. Als nun die Alliierten begannen die Rüstungsbetriebe zu bombardieren, waren wir sehr gefährdet.

Am 20. Februar 1944 war es soweit. Sonntagmittag, das Essen stand auf dem Tisch, da kamen die amerikanischen Bomber um in einem Tagangriff das Flugzeugwerk auszuschalten, es war das erste Präzisions-Bombardement der Amerikaner, denn die Messerschmitt Jagdflugzeuge hatten schon zu viele Bomber abgeschossen. Flakgeschütze begannen mit der Abwehr und dann heulten die Bomben nieder – ein Höllenlärm. Der Keller, in dem wir Zuflucht gesucht hatten, erzitterte bei den Explosionen. Der größte Teil des Erla Maschinenwerks war zerstört. Der Betrieb gehörte zu den Hermann-Göring-Werken, das hatte sich der Luftmarschall und zweitmächtigster Mann im Reich gesichert. Manche nannten ihn heimlich auch Meier, denn er soll gesagt haben, wenn es den Alliierten gelänge, auch Berlin aus der Luft anzugreifen, dann wolle er Meier heißen. Tage nach dem Angriff traf eine Wagenkolonne aus Berlin ein, es kam der Luftmarschall in weißer, Orden behangener Uniform um die Schäden zu besichtigen. Er sah, dass das Werk gründlich zerstört war, aber Ausweichbetriebe standen schon bereit.

In diesem Flugzeugwerk hatte auch mein Vater gearbeitet, aber als ziviler Monteur war er auch auf den Flugplätzen in Belgien und Frankreich eingesetzt worden. Dann aber kam der Russlandfeldzug und er musste dienstverpflichtet dorthin, um auf den Feldflugplätzen die Flugzeuge zu reparieren, die im Freien standen. Das war nun eine andere Welt. Während er von Frankreich aus Päckchen schicken konnte mit Raritäten, die es dort noch gab, wie Schokolade und Kaffee, gab es in Russland nichts.

Als Zivilangestellter hatte er seine Adler-Reiseschreibmaschine mitnehmen können, und da seine Briefe nicht mit der Feldpost befördert wurden, sondern ans Werk gingen, wo sie die Angehörigen abholten, hatte er bei aller Vorsicht auch kritische Töne über diesen Krieg gewagt: Planerisches Chaos, ständig fehlende Ersatzteile, schlechte Versorgung, keine Wintersachen; denn wenn auch die Frauen an der „Heimatfront“ Pullover, Handschuhe und Schals strickten, konnten sie damit keine Armee ausrüsten. Aus Angst vernichtete unsere Mutter die meisten dieser Briefe. Aus den wenigen, die erhalten geblieben sind, geht aber das Chaos des mörderischen Krieges hervor. In einem Brief schrieb er an meinen Bruder Wolfgang und mich, dass sie mehrere Russenkinder retten mussten, die verbotener Weise mit einer freiliegenden Gleichstromleitung spielen wollten und daran hängen blieben. „Die Russenkinder hören genau so wenig wir ihr“, setzte er mahnend hinzu, wir sollten auf keinen Fall freiliegende Drähte berühren, die nach einem Luftangriff herunter gerissen waren.

Er schrieb von der Kälte und vorher vom Schlamm, dann fiel das Thermometer auf minus 25 Grad, trotzdem mussten die Flugzeuge im Freien repariert werden. Die Mechaniker wurden krank und es gab Erfrierungen. Winterkleidung war für diesen Feldzug nicht vorgesehen, weil die Wehrmachtsführung den Sieg vor dem Winter eingeplant hatte. Da ereilte meinen Vater ein erster Schlaganfall. Er galt aber noch als arbeitsfähig und wurde zurück an die Heimatfront geschickt. Doch auch hier hätte es ihn treffen können. Es war wohl ein Zufall, dass das Flugzeugwerk an einem Sonntag bombardiert wurde, dem einzigen Tag in der Woche, an dem nicht gearbeitet wurde, dafür anderntags 12 Stunden. Die Schutzräume für die Arbeiter waren unzureichend und so gab es folgerichtig viele Opfer, besonders Fremdarbeiter, die dort untergebracht waren. Der Vater eines Schulkameraden hatte gerade Aufsicht und den Angriff nicht überlebt.