Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?

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1.5 Theoretische Rahmung V: Ritual

Die Definitionen von Ritualen sind heterogen. Das liegt daran, dass der Begriff des Rituals von einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen verwendet wird. Das liegt aber auch daran, dass er, insbesondere aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive betrachtet, definitionsbedürftig ist: In den untersuchten Quellen taucht er nicht auf, er dient vielmehr als Analyseinstrument. Für die vorliegende Untersuchung soll die für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen vorgeschlagene Ritualdefinition von Barbara Stollberg-Rilinger zur Anwendung kommen.[57] Diese Beschreibung ist zum einen transdisziplinär breit gefasst, zum anderen enger als der alltägliche Sprachgebrauch. Demnach benennt das Ritual eine menschliche Handlungsabfolge, die erstens durch Standardisierung und Wiederholung der äusseren Form gekennzeichnet ist. Sie ist deshalb erwartbar und wiedererkennbar, jedoch ebenso, wenn auch nur in einem gewissen Masse, veränderbar. Zweitens hebt es sich durch seinen demonstrativen, öffentlichen Aufführungscharakter zeitlich, räumlich und sozial vom alltäglichen Handlungsfluss ab mittels verschiedenartiger akustischer, visueller und sprachlicher Symbolik. Ein Ritual geschieht also nicht zufällig oder unbewusst, sondern wird absichtsvoll inszeniert. Als drittes Merkmal gilt seine Symbolizität, die auf eine spezifische Bedeutung, auf einen grösseren sozialen Ordnungszusammenhang verweist – darin unterscheidet es sich von Routinen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass die Beteiligten bezüglich dieser Bedeutung übereinstimmen, der gemeinsame Vollzug und damit der Glaube an einen gemeinsamen Sinnbezug reichen bereits. Viertens üben Rituale eine Wirkung aus. Ihre Performativität kann soziale Wirklichkeit schaffen, Gefühle der Zusammengehörigkeit erzeugen, ja eine Verpflichtung stiften, sich an das zu halten, was im Ritual gemeinsam darstellt wurde. Letzteres nachzuweisen fällt unter Umständen schwer, entscheidend ist vielmehr die durch das Ritual veränderte Erwartungshaltung. Fünftens schliesslich weist es zeitlich in doppelter Weise über die Gegenwart hinaus: Es erinnert an Vergangenes und verpflichtet zu zukünftigem Handeln. Durch seine elementare, sozial strukturbildende Wirkung verbindet es Individuum und Gesellschaft, Dauer und Wandel. Für Handlungen indessen, die wesentliche rituelle Merkmale nicht aufweisen, insbesondere die herausgehobene Feierlichkeit, schlägt Stollberg-Rilinger den Begriff der Ritualisierung vor. Ritualisierungen bezeichnen ein Verhalten, dass sich in seiner äusseren Form regelmässig wiederholt und in der Regel kommunikativer Natur ist. Die so gefasste Ritualdefinition vereingt die drei Dimensionen von Hettlings «Erlebnisraum» in sich. Für den alltäglichen Rütli-Besuch von Individuen und Gruppen ergibt sich daraus das folgende Analyseraster (Darstellung 1), mit dem der Umgang resp. die Interaktion der Besuchenden mit dem Denkmal – also den Erlebnischarakter und damit die rituelle Intensität – untersucht werden soll.


Analyseraster für die rituelle Interaktion von Einzelbesuchern und Gruppen
Ritual/Erlebnis Die Handlungsabfolge … Ritualisierung Die Handlungsabfolge ist …
… ist formal standardisiert, repetitiv … formal wiederholbar
… ist absichtsvoll inszeniert und vom Alltag herausgehoben … kommunikativ
… ist ortsbezogen symbolisch
… intendiert politische Emotionen, Haltungen zu wirken
… intendiert Gedenken und Tradierung zu wirken

Darstellung 1

Dem entsprechenden Analyseraster für Gedenkfeiern (Darstellung 2) liegen neben Stollberg-Rilingers Ritualdefinition die theoretischen Überlegungen von Bizeul zu politischen Mythen und Ritualen sowie jene von Müller zu historischen Jubiläen und Gedenktagen zugrunde.[58] Diese theoretische Erweiterung vermag der kollektiven Interaktion gerecht zu werden.


Analyseraster für die Gedenkfeiern auf dem Rütli
Ritual der Gedenkfeier/Erlebnis Die Handlungsabfolge …
… ist formal standardisiert, repetitiv
… ist absichtsvoll inszeniert und vom Alltag herausgehoben
… ist ortsbezogen symbolisch
… intendiert Sinnstiftung durch Stabilisierung und Strukturierung des Gedenkens, der Tradition und der gegenwärtigen Wirklichkeit
… intendiert identitätsstiftende Wirkung durch partizipative und emotionale «Wir-Inszenierung»
… legitimiert bestehende Machtverhältnisse und soziale Unterschiede

Darstellung 2

Ein histoisches Jubiläum wird nicht selten geradezu als natürlich gegeben wahrgenommen, in der Tat ist es als geschichtlich bedingtes Ereignis unter der sozialen Zeitkategorie zu subsummieren. Das Gedenken in bestimmten Zeitintervallen dient nämlich als politisches Instrument dazu, Traditionen zu erfinden und zu formen.[59] Solche Gedenkfeiern entsprechen politischen Ritualen, denen Bizeul drei Funktionen zuweist.

Eine erste Funktion erkennt Bizeul in der stabilisierenden Sinnstiftung.[60] Analog zum politischen Mythos strukturiert auch das Ritual die Wirklichkeit, vereinfacht es, stellt ein Koordinationssystem zur Verfügung. Dieses Koordinationsystem enthält die die Gruppe auszeichnenden Werte, Normen und Vorstellungen. Müller vertieft diesen Aspekt, indem er im regelmässig wiederkehrenden Jubiläum einen Verweis auf Tradition und Stabilität sieht; vergangene Stabilität kann die Zukunftserwartung im Sinn einer Selbstversicherung beeinflussen. Gemäss der zweiten Funktion, die Bizeul dem Ritual zuweist, integriert es gemeinschaftsbildende Sinngebungen, wie sie sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart verfügbar sind, und verknüpfen sie identitätsstiftend.[61] Eine solche «Wir-Identität» entsteht durch die Reduktion von Komplexität oder die Exklusion anderer; nur so lässt sich eine «politische Vergemeinschaftung» (Max Weber) erreichen. Die scheinbar einheitliche, konsensual entstehende «Wir-Identität» wird indessen durch die dritte, die legitimierende Funktion eines politischen Rituals relativiert. Denn häufig dient es der Legitimation sozialer Unterschiede und politischer Herrschaft.[62] Generell, so Müller, werde im Jubiläum «Geschichte nicht nur einfach bewahrt, sondern geformt oder – je nach Standpunkt des Betrachters – verformt»[63]. Gesellschaftliche und politische Akteure formen und gestalten nämlich Jubiläen, indem sie absichtsvoll gewählte Elemente der Vergangenheit inszenieren und instrumentalisieren, um ihren politischen und sozialen Einfluss in der Gegenwart zu vergrössern oder ihre Macht zu legitimieren. Dementsprechend erscheint solchermassen «geformte» Gedenkleistung antagonistischen Akteuren als «verformt» sowohl in Form als auch in Inhalt. Damit hängt auch das emanzipatorische Potenzial zusammen, in dem Bizeul die vierte Funktion erkennt.[64] Politische Rituale können nämlich nicht nur der integrierenden Sicherung bestehender Machtverhältnisse dienen, sondern auch der Formung und Prägung antagonistischer, ja reformorientierter Bestrebungen. Aus diesen vergleichenden Betrachtungen resultiert das folgende Raster, das der Analyse der Gedenkfeiern auf dem Rütli dienen soll.

1.6 Forschungsstand I: Denkmäler und ihr Gebrauch

Im Gegensatz zu kunst- und geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zu Entstehung und Gestaltung von Denkmälern sind Gebrauchsanalysen seltener, sowohl was die geschichtskulturelle Prägung und Ausstrahlung als auch was die individuelle Nutzung von Gedenkstätten, historischen Stätten und Denkmälern angeht.[65] Zu beiden Bereichen liegen Untersuchungen vor, von denen nachfolgend wesentliche Ergebnisse diskutiert werden.

Der kollektive Umgang mit und die geschichtspolitische Funktionalisierung von Denkmälern steht im Zentrum dreier neuerer Studien. So fokussiert Sandra Petermann auf zwei historische Räume, die Region um Verdun und die Normandie als alliierte Landestelle 1944. Aus der Analyse von Gedenkorten, Akteursgruppen und Zeremonien und ihren Wandlungsprozessen resultieren mehrere idealtypische Phasen wechselnder Gedenkmotivation: das trauernd-erinnernde, das national-patriotische, das versöhnend-vereinigende und das historisch-pädagogische Gedenken.[66] Marco Zerwas seinerseits zeichnet minutiös die geschichtskulturelle Dynamik des Deutschen Ecks in Koblenz am Rhein nach. Dazu untersucht er nicht nur die Gestaltung des Denkmals, sondern auch die jeweils zeitgenössische Wahrnehmung sowie immer wieder aktualisierte Deutungsmuster samt damit verknüpften mythischen Narrativen.[67] Die neueste Einzelstudie im schweizerischen Kontext legte Konrad Kuhn vor, der Entstehung und geschichtskulturelle Nutzung des Forchdenkmals bei Zürich aufzeigt.[68] Er sieht darin «ein paternalistisch-pädagogisches Lehrprojekt»[69], das durch geschichtspolitische Funktionalisierung die Erinnerungen der Schweizer Bevölkerung an den Ersten Weltkrieg formen sollten. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der drei Arbeiten, dass sich Denkmäler und deren kollektive Nutzung in Gestalt und Gebrauch im diachronen Längsschnitt verändern – insbesondere auch relativ zum zeitlichen Abstand zum Referenzereignis – und gleichzeitig von politischen und gesellschaftlichen Akteuren funktionalisiert werden.

 

Auf den individuellen Umgang mit Denkmälern und Gedenkstätten fokussiert die Besucherforschung, deren neuere, wesentliche Erkenntnisse im Hinblick auf das vorliegende Rütli-Projekt dargestellt werden. Generell ist ein Mangel an Studien festzustellen, die sich Aneignungs- und Erinnerungsformen erwachsener Gedenkstätten-Besuchenden widmen.[70] Christian Gudehus geht in seiner Studie der Funktionsweise von mehreren deutschen Gedenkstätten nach.[71] Dabei stehen die Führungen im Zentrum, die an vier ausgewählten Orten angeboten wurden.[72] In teilnehmender Beobachtung begleitete er mehrere Führungen, um die Narrationen über die Vergangenheit und über dessen Repräsentation sowie die Reaktion der Besuchenden darauf zu analysieren. Er stellt kritisch fest, dass die institutionalisierten Begehungen nicht so sehr auf ein verbessertes Verständnis des vergangenen Geschehens abzielten; vielmehr wirkten die Führungen moralisierend und emotionalisierend und wollten auf diese Weise normative Leitlinien für das eigene, individuelle Denken und Handeln vermitteln, ein Umstand, der letztlich und grundsätzlich nach den Aufgaben von Gedenkstätten als Bildungseinrichtungen fragen lasse.[73] Hier schliesst Bert Pampels Studie zu subjektiven Erfahrungen und Deutungen erwachsener Individualbesuchender an, die er in drei sächsischen Gedenkstätten durchführte.[74] Vergleichbare Resultate konnte Maik Zülsdorf-Kersting in seiner Einzelfallstudie zu Schulbesuchen in einem Konzentrationslager beibringen. Der Besuch, das heisst die direkte Konfrontation, wirke zweifach auf Schülerinnen und Schüler: als emotionale Verstärkung moralischer Überzeugungen und als partielle Infragestellung von vorhandenen Vorstellungen.[75] Die Untersuchung vermag jedoch aufgrund ihres methodischen Settings nicht zu beantworten, inwiefern und ob überhaupt solche punktuellen Auseinandersetzungen mit spezifischen ausserschulischen Lernorten geschichtliche Vorstellungen nachhaltig beeinflussen, ja verändern könnten. Solche Nachweise sind bisher von keiner empirischen Studie erbracht worden.[76]

Wenig später untersuchte Marion Klein den Umgang von Schülerinnen und Schülern mit dem «Denkmal für die ermordeten Juden Europas» in Berlin.[77] Ein bemerkenswertes Resultat ist für sie das Dilemma der Jugendlichen, einerseits dem normativen und intentionalen Anspruch, Trauer zu empfinden, zu genügen, andererseits über keine gemeinsame milieu- bzw. generationenspezifische Erfahrungsbasis mit den Opfern zu verfügen, was Voraussetzung für Trauer wäre. Sie versuchen deshalb mit verschiedenen Strategien, das Denkmal «zu authentisieren», das heisst anschlussfähig zu machen zur eigenen Gefühls- und Erfahrungswelt.[78] Diese Anschlussfähigkeit thematisiert auch Gaynor Bagnall in ihrer Interview-Studie zu zwei englischen «heritage sites», zwei aufbereiteten Industrieanlagen des 19. Jahrhunderts.[79] Hier werden die dargebotenen Informationen bereitwillig aufgenommen, eine kritische Haltung entsteht nur, so Bagnall, wenn die mitgebrachten Vorstellungen nicht dem an Ort Dargebotenen entsprechen. Das bedeutet, dass es sich weniger um einen adaptiven als vielmehr um einen bestätigenden Rezeptionsprozess handelt, der überdies stark emotional und von individuellen Dispositionen geformt wird. Diese Befunde können für amerikanische «historic sites» bestätigt werden.[80] Diese Orte oszillieren zwischen Gedenkstätten und «living history», einem Konzept, das mittels kostümierter Schauspieler Geschichte in Inszenierungen und Führungen wiederaufleben lassen will. Diese Unterschiedlichkeit ist auch im Hinblick auf das Rezeptionsverhalten der Besuchenden zu bedenken. Von den von Conny C. Gratt publizierten Besucherstudien seien hier jene Ergebnisse angeführt, die sich nicht explizit auf die besonderen Inszenierungen beziehen.[81] An erster Stelle steht der Wunsch, durch Erlebnisse zu lernen und durch anschauliche Art in eine andere Zeit zurückversetzt zu werden. Als zweiten Aspekt führt Gratt an, dass die Besuchenden die Vergangenheit aus dem Blickwinkel eigener Erlebnisse wahrnehmen, und drittens wird die solcherart inszenierte Vergangenheit gerne partnerschaftlich als soziales Erlebnis entdeckt.

Für das deutsche Museumsdorf Cloppenburg liegen die Erkenntnisse der quantitativen Fragebogenuntersuchung von Holger Höge vor.[82] Demnach begründeten die Befragten ihren Besuch mit dem Wunsch, historischen Alltag zu erleben und Wissen zu erwerben. Der Rundgang durch die Anlage ermöglichte einer Mehrheit der Besucherinnen und Besucher solche empathischen, sensorischen und kognitiven Erfahrungen. Dass praktische alle angeben, etwas gelernt zu haben – unklar bleibt, was genau –, erstaunt daher wenig. Hingegen scheinen der Besuch individuelle Einstellungen und Vorstellungen sowie die Bereitschaft, diese zu verändern, kaum zu tangieren.

Weitet man schliesslich den ausserschulischen Einflusshorizont von punktuellen Besuchen auf das allgemein ausserschulische Erleben aus, lassen sich zwei Faktoren nachweisen, nämlich Geschlecht und Alter, die eine Rolle zu spielen scheinen. Carlos Kölbl stellt in seinen empirisch gestützten Untersuchungen fest, dass ausserschulische Einflüsse auf das Geschichtswissen und das historische Interesse besonders im Primarbereich bedeutsam seien.[83] Weiter scheint zu gelten, dass Knaben Mädchen übertreffen bezüglich dieser beiden Aspekte, wohingegen sich die Struktur des Wissens, der Methodenkenntnisse und des historischen Denkens im Verlauf des Kindes- und Jugendalters verändert.

Auch wenn die Resultate insbesondere für Gedenkstätten nationalsozialistischer Verbrechen nur begrenzt auf historischen Stätten und Denkmäler mit geschichtspolitischer Intentionalität übertragbar sind, lassen sich dennoch einige grundsätzliche Erkenntnisse festhalten. Zum einen tendiert das vor Ort bestehende Informationsangebot – moralisierend und emotionalisierend – zu einem normativen Anspruch. Zum anderen erfolgt die individuelle Rezeption vor allem emotional, kaum kognitiv, jedoch abhängig vom pädagogisch-didaktischen Setting der Anlage. Sie beeinflusst deshalb emotional-moralische Überzeugungen, nicht jedoch geschichtliche Vorstellungen, die sich kaum verändern resp. die eher bestätigt werden wollen als hinterfragt. Normativ-gesellschaftliche Ansprüche sowie der mitgebrachte Erfahrungshorizont prägen das Erleben, wo Letzteres zu einer spezifischen Authentifizierung führen kann.

1.7 Forschungsstand II: Geschichtliche Vorstellungen zu den rütlibezogenen Mythen

Empirische Untersuchungen über Vorstellungen zu Gründungsmythos und Rütli sind rar. Markus Kübler geht der Dichotomie von Geschichte und Mythos nach, und zwar mit geschichtskulturellem Blick auf Materialien zur Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft, die Grundschullehrkräften zur Vorbereitung und Durchführung von Unterricht zur Verfügung stehen.[84] Er stellt fest, dass gerade diejenigen Materialien, die als Zielpublikum die Schülerinnen und Schüler aufwiesen, noch stark dem mythisch-identitätsbildenden Paradigma verpflichtet seien und die fachwissenschaftlich modernen Sichtweisen kaum miteinbezögen. Breiter angelegt ist Markus Furrers Studie, in der er die Leitbilder der Schweizer Nationalgeschichte in Schweizer Geschichtslehrmitteln der Nachkriegszeit und Gegenwart untersucht.[85] Dabei zeigt er anhand des gesetzten Rahmens auf, wie Geschichtsbilder zu Meistererzählungen zusammengesetzt werden und wie sich die Schulbuchdarstellungen entwickeln im Kontext der europäischen und der Schweizer Geschichte. Die kanonisierte Form der Gründungserzählung sieht er Ende des 19. Jahrhunderts entstehen und in überraschend unveränderter Form bis in die 1970er-Jahre weiterbestehen. Die darauffolgende Erschütterung des traditionellen Geschichtsbildes habe, gemäss Furrer, dazu geführt, dass die nationale Geschichte als Ganzes in den Lehrmitteln fast verschwunden sei, um in einem weltgeschichtlichen Fokus aufzugehen. Diese Entwicklung negiere die Notwendigkeit, Mythen im Sinne von Marchals Gebrauchsgeschichte im schulischen Kontext zu thematisieren, denn nur auf diese Weise lasse sich eine kritische und kontrollierte Identitätsbildung anstossen. Dass eine detailliertere Darstellung seiner Ergebnisse – zusammen mit denjenigen einer Studie zu Schweizer Lesebüchern – erst in den Kapiteln 4.1.3 und 4.1.4 folgt, also im Analyseteil des vorliegenden Projekts, hat seine Gründe darin, dass die Ergebnisse Furrers mit eigenen Recherchen ergänzt werden und die rütlispezifische Diskussion seiner Resultate direkter in das Zwischenfazit der kollektiven Gebrauchsanalyse einfliessen kann.

Zu individuellen, rütlibezogenen Vorstellungen wiederum sind ebenfalls einige empirische Untersuchungen greifbar. Die frühesten Daten liefern die regelmässig durchgeführten Rekrutenbefragungen, die mit der Einführung öffentlicher Bildungssysteme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einhergingen.[86] 1874 beschloss der Bundesrat, die Prüfungen jeweils bundesweit durchzuführen und die Resultate, unter anderem zur Vaterlandskunde, zu publizieren – ein Vorgehen, das bis 1915 stattfand.[87] Die in den kantonalen Staatsarchiven aufbewahrten Unterlagen konnten im Rahmen dieses Projektes jedoch nicht aufgearbeitet werden.[88] Einzig die zusammenfassenden Berichte der Bundesbehörden enthalten allgemeine Hinweise zum jeweils erhobenen Zustand geschichtlichen Wissens. Demnach lag das Bildungsniveau in protestantischen Kantonen im Vergleich zu den katholischen wesentlich höher. In Bezug auf die abgefragte Vaterlandskunde holten letztere jedoch – aufgrund spezifischer Schulungsmassnahmen – bis zum Ersten Weltkrieg auf.[89] Im Zuge der «Geistigen Landesverteidigung» nahmen die Behörden die Rekrutenprüfungen wieder auf. Von diesen Erhebungen sind nun rütlispezifische Daten greifbar. So gaben in den Rekrutenbefragungen von 1953 87 Prozent, 1965 84 Prozent der Teilnehmer das Jahr 1291 als Gründungsjahr der Eidgenossenschaft an.[90] Von denjenigen, die Inhalte aus dem Bundesbrief anführen konnten (gut 40 Prozent), zitierte die Hälfte ganz oder auszugsweise den Rütlischwur aus Schillers «Wilhelm Tell».[91] Sowohl diese eindeutigen Werte als auch die weiter oben angeführten Erkenntnisse von Kübler und Furrer spiegeln sich teilweise wider in den Resultaten der repräsentativen Umfrage einer Schweizer Zeitschrift aus dem Jahr 2004, dem Jubiläumsjahr von Schillers «Tell». Sie ergab, dass 75 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer noch immer der Ansicht sind, die heutige Schweiz sei vor 700 Jahren auf dem Rütli entstanden; 51 Prozent glauben, dass Tell die Schweiz tatsächlich von Habsburger Vögten befreit habe.[92] Eng mit dem Festhalten an der mittelalterlichen Geschichte verbunden ist die grosse Emotionalität, mit der einige Personen reagieren, wenn diesbezügliche und als gültig empfundene Vorstellungen in Frage gestellt werden.[93]

 

Der mit dem Rütli-Rapport eng verbundene General Guisan erfreute sich gemäss der Rekrutenbefragung von 1972 grösserer Bekanntheit, denn nur gerade knapp drei Prozent der Befragten hatten seinen Namen noch nie gehört.[94] In einem gewissen Gegensatz dazu steht das Resultat einer Umfrage, die eine Schweizer Zeitung 2008 durchführte.[95] Bei der Frage nach den «bedeutendsten Schweizern» lag Guisan erst an 16. Stelle.

Weitet sich der Untersuchungshorizont vom Gründungs- und Unabhängigkeitsmythos hin zum nationalen Selbstbild, rückt die Studie von Meier-Dallbach, Rosenmund und Ritschard aus dem Jahr 1979 in den Vordergrund. Eine grössere Sammlung von Pressetexten des Zeitraums von 1920 bis 1977 bildet die geschichtskulturelle Datengrundlage, um die Dynamik des Selbstbildes der Schweiz zu erforschen. Dabei unterscheiden sie ein Vorkriegs- von einem Nachkriegsgedächtnis. Ersteres operiere grundsätzlich bedeutend mehr mit Symbolvorräten, die essenzialistische Umweltdarstellungen ermöglichten und dadurch sakrale, metaphysische oder räumlich-identive Konnotationen aufwiesen, beispielsweise Vaterland oder Heimat. In den Nachkriegsgedächtnissen hingegen sinke die Bedeutung dieser Symbole markant und würde ersetzt durch analytischere, neutralere, womit der Abstraktionsgrad der Symbole in den Nachkriegsgedächtnissen zunehme. Fokussiert auf politische und nationale Identitätssysmbole stellen sie fest, dass diese im deutschschweizerischen Vorkriegsgedächtnis präsenter seien als im gleichzeitigen französischsprachigen und im deutschweizerischen des Nachkriegsgedächtnisses. Die Autoren sehen die Begründung dafür in der direkteren und stärkeren Exposition gegenüber Deutschland, einer Exposition, die eine stärkere Abgrenzung erforderlich gemacht habe.

Insgesamt also kanonisiert sich die Meistererzählung des Gründungsmythos Ende des 19. Jahrhunderts und hielt sich bis in die 1970er-Jahre stabil, um danach zwar dekonstruiert, jedoch nicht durch eine andere, wirksame Erzählung ersetzt zu werden. Die 1291-Gründung wird auch heute noch von einer grossen Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer für authentisch resp. historisch gehalten, Tell dagegen geniesst weniger Glaubwürdigkeit, Guisan weniger Bekanntheit. Im Hinblick auf das nationale Selbstbild wird eine Vielzahl sakraler und räumlicher Symbole nach dem Zweiten Weltkrieg abgelöst durch abstraktere Zeichen, denen zudem weniger Bedeutung zukam.