Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?

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2.3.2 Quantitative Inhaltsanalyse serieller Textbestände

Nach der zwar grundlegenden, aber zugleich stark kritisierten Definition Berelsons geht es bei der quantitativen Inhaltsanalyse um eine objektive, systematische und quantitative Beschreibung von objektiv vorhandenen Kommunikationsinhalten.[280] Die lebhafte Kritik zielte vor allem auf die Beschränkung auf die objektiv vorhandenen Zeichen, denn dadurch würden weitere, der Kommunikation inhärenten Bedeutungsebenen ausgeblendet. Diese Einwände wiegen schwer, dennoch kommt im vorliegenden Projekt diese Art der Analyse – in Form der Frequenzanalyse – zur Anwendung: Sowohl die an die untersuchten Quellenbestände gestellten Fragen als auch die Art der Quellenbestände erlauben eine quantifizierende Oberflächensicht.

2.3.2.1 Massenmedien

Die zentrale Stellung der geschichtsdidaktischen Kategorie der Geschichtskultur auf der einen Seite sowie die kulturwissenschaftliche Wende innerhalb der Geschichtswissenschaften auf der anderen Seite verleihen den massenmedial vermittelten Realitäten neue Bedeutung. Nicht zuletzt diese Quellen, die das 20. Jahrhundert wesentlich mitgeprägt haben, erlauben es, zeitgenössische Wissens- und Deutungshorizonte zu rekonstruieren.[281] Gerade im Hinblick auf Schweizer Identität und Gedenktraditionen liegen Studien vor, die auf der Analyse massenmedialer Datenbestände basieren.[282] Im vorliegenden Projekt rückt die mediale Berichterstattungsintensität in den Vordergrund. Als Ausdruck eines kommunikativen und sozial bedingten Gedenkens beeinflusst sie die geschichtskulturelle Präsenz des Rütlis wesentlich, dementsprechend fokussiert die einfache deskriptiv-statistische Analyse auf die Berichterstattungsfrequenz. Diesem Fokus liegt die Vermutung zugrunde, dass eine erhöhte Frequenz dazu führt, dass der Gegenstand, hier also das Rütli, stärker ins Bewusstsein tritt.[283] Nicht geleistet werden kann deshalb eine Wirkungsanalyse der Beiträge oder eine zur Produktionsintentionalität.

Die explorativ unternommene Stichprobenanalyse musste aus forschungspragmatischen Gründen tendenziell unsystematisch und mit nur partiell repräsentativem Anspruch erfolgen. Aus der grossen Zahl sozial bedeutsamer und potenziell für Geschichtsbilder wirksamer Massenmedien wurden fünf Zeitungen und das Schweizer Fernsehen ausgewählt.[284] Besonders die Auswahl bei Ersteren verlangte eine kriteriengeleitete Begründung, präsentiert sich die Schweizer Printmedienlandschaft im Untersuchungszeitraum von 1860 bis heute doch überaus dicht, vielgestaltig und in starkem Wandel. Zu berücksichtigen galt es den Umstand, dass die Zeitungen in der Schweiz bis in die 1960er-Jahren als Parteipresse funktionierten, um sich erst danach zur Forumspressse weiterzuentwickeln.[285] Die Auswahl für das vorliegende Projekt deckt deshalb erstens drei wesentliche politische Ausrichtungen ab (liberal-reformiert, katholisch-konservativ, sozialdemokratisch), zweitens ist sie geografisch breit ausgerichtet. Drittens sollten sie eine längere Erscheinungsdauer aufweisen sowie – ein forschungspragmatisches Kriterium – idealerweise über ein internetgestütztes Portal verfügen, das eine effiziente Recherche erlaubt. Die genannten Kriterien führten zu einem Sample von fünf Schweizer Zeitungen:

•Le Nouvelliste, eine katholisch-konservative Zeitung des französisch sprechenden Teils des Kantons Wallis, herausgegeben seit 1903[286]

•24 heures, die liberal-reformiert ausgerichtete Zeitung im französischsprachigen Kanton Waadt, die mit Vorgängerblättern von 1762 bis 2001 erschien[287]

•Schaffhauser Nachrichten (bis 1939 Schaffhauser Intelligenzblatt), eine liberal-reformierte Zeitung des kleinen Kantons Schaffhausen, herausgegeben seit 1861[288]

•L’Impartial/L’Express, die beiden liberal-reformierten Tageszeitungen des ebenfalls französischsprachigen Kantons Neuenburg, die seit 1861 resp. 1738 erscheinen und seit 1996 kooperieren.[289]

•Volksrecht, eine führende sozialdemokratische Zeitung aus Zürich, jedoch mit nationaler Reichweite, herausgegeben seit 1898, ab 1970 als Zürcher AZ, ab 1976 als Volksrecht, ab 1992 als DAZ (bis 1997), danach in neuem Format als P.S.[290]

Zusätzlich und ergänzend liess sich die Berichterstattung des Schweizer Fernsehens miteinbeziehen. Denn dessen Videodatenbank FARO erlaubt den Zugriff auf sämtliche (deutschsprachigen) Beiträge nichtfiktionaler Art, die seit Beginn des Mediums ausgestrahlt worden sind.[291] Die Stichwortsuche ergab für das Rütli über 230 Treffer aus dem Zeitraum von 1941 bis 2014, die mehrheitlich Nachrichtenformate betreffen. Sie verteilten sich sehr ungleich auf der Zeitachse; die Jahre nach der Jahrtausendwende wiesen mit Abstand die höchste Dichte aus. Dieses unterschiedlich, aber diachron lückenlos verfügbare Material liess sich ebenfalls auf quantitative Fragestellungen hin untersuchen. Dabei erfolgte – als Vorgriff auf das im nächsten Kapitel thematisierte methodische Verfahren der Bildinterpretation – für den visualisierten Teil der ausgestrahlten Beiträge nicht ein wörtliche, sondern lediglich eine deskriptive, stichwortartige Transkription mit anschliessender inhaltsanalytischer Verdichtung.[292] Dieser methodisch qualitative Fokus ermöglichte Aussagen zur Repräsentation des Denkmals und bereicherte so die kollektive Gebrauchsanalyse um einen weiteren Blickwinkel. Hingegen wurde sowohl bei den Presseartikeln als auch bei den Fernsehbeiträgen auf deren inhaltliche Untersuchung verzichtet. Einerseits hätte das den zeitlichen Rahmen der Datensammlung gesprengt, andererseits ermöglichten bereits die quantitativen Erhebungen und die Bilderfassung wesentliche Erkenntnisse in dieser Hinsicht.

2.3.2.2 Rütli-Gästebücher

Die Rütli-Gästebücher stellen einen Quellenbestand dar, der bisher in der Forschung weder berücksichtigt noch ausgewertet worden ist.[293] In diese Gästebücher konnten sich die Besucherinnen und Besucher eintragen resp. ihren Besuch schriftlich bezeugen. Noch heute liegt ein solches Buch auf in der vorderen Rütlistube zu Füssen der hölzernen Tell-Statue (Bild 32). Die archivierten Bände setzen im Jahr 1814 ein, also lange vor dem Rütlikauf durch die SGG, und sind lückenlos erhalten.[294] Format und Rubriken der Bücher haben sich im Verlauf der Zeit verändert: Den listenartigen Bänden mit mehreren Rubriken (in der Regel Datum, Name, Vorname, Wohnort, Beruf, Bemerkungen) stehen die Bände der Nachkriegsjahre gegenüber, die lediglich aus rubrikenlosen, leeren Seiten bestehen.

Auf diesen besonderen Quellenbestand wurden quantifizierende, teils verbunden mit qualitativen Auswertungsfoki gerichtet. So ging es einerseits darum, die Anzahl der Einträge sowie Herkunft, Geschlecht der Personen sowie deren Beruf zu erfassen. Ein anderer methodischer Zugriff diente dazu, die freien Bemerkungen, welche die Besucherinnen und Besucher in den Gästebüchern hinterliessen, auszuwerten. Dies erfolgte in einem ersten Schritt, indem die Häufigkeit aller verwendeten Wörter erhoben wurde.[295] In einem zweiten, qualitativen Schritt wurden die am häufigsten Begriffe zu einer interpretativen Sinneinheit verschmolzen in Form eines Satzes – ein Vorgehen, das in einem gewissen Sinn die Skizzierung einer Concept Map umgekehrt, indem von assoziierten Begriffen auf ein Kernkonzept, eine Kernidee geschlossen wird und damit einer verstehenden Verdichtung entspricht.[296]

Erkenntnispraktische und arbeitsökonomische Gründe führten bei der Definition der Stichprobe dazu, nur die Einträge ausgewählter Jahre genauer zu untersuchen. Dazu dienten zum einen fünf Querschnitte im Abstand von 30 Jahren, welche die gesamte Zeitspanne von 150 Jahren, also vom Kauf des Rütlis bis heute, abdecken. Zum anderen wurde der Beginn des 30-Jahre-Rhythmus auf 1875 festgelegt. Diese Setzung bot sich an, weil das Rütlihaus als letztes und wesentliches Gestaltungselement der Neuanlage erst im Verlauf des Jahres 1870 fertiggestellt worden war und die Besuchsfrequenz in den Folgejahren zu steigen begann.[297] Die weiteren zeitlichen Meilensteine liegen ebenfalls günstig, da sie prägende national- und weltgeschichtliche Phasen berücksichtigen.[298] Das Jahr 1905 repräsentiert die für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz essentzielle touristische Hochphase der «Belle Epoque». Das Jahr 1935 liegt in den sozial und politisch bewegten 1930er-Jahren und zugleich am Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland. Und während das Jahr 1965 mitten in der Nachkriegszeit situiert ist, geprägt von struktureller Stabilität und Regelvertrauen auf der einen, von einer sich anbahnenden gesellschaftlichen Orientierungskrise auf der anderen Seite, steht der Querschnitt 1995 für die Phase, in der der Kalte Krieg überwunden wurde und der Schweiz wirtschaftliche und kulturell-identifikatorische Herausforderungen erwuchsen.

 

Sämtliche Einträge dieser fünf Jahre wurden transkribiert. Dabei liessen sich in nur knapp 50 Prozent der Fälle vollständige Angaben erfassen, sei es aufgrund mangelhafter oder fehlender Angaben, sei es aufgrund der erschwerten Lesbarkeit. Zumindest quantitativ hingegen wurde jeder Eintrag berücksichtigt. Familieneinträge («H. Huber mit Familie») erhielten dabei systematisch die Anzahl von fünf Personen zugewiesen, ohne Bezeichnung eines Geschlechts.[299] Gruppeneinträgen von Vereinen und Schulklassen wurde – falls jeweils keine expliziten quantitativen Angaben vorhanden waren – systematisch die Zahl von 28 Personen zugeordnet.[300] Die mithilfe von MAXQDA erfolgte Auswertung der freien Bemerkungen liess Angaben zur Gruppe (zum Beispiel «3. Klasse aus Zürich-Unterstrass») sowie Präzisierungen der Herkunft (zum Beispiel «Schlesien») unberücksichtigt. Überdies wurden fremdsprachige und mundartliche Einträge in deutsche Standardsprache übertragen, um Worthäufigkeiten erfassen zu können. Die sogenannte Stoppliste erlaubte es schliesslich, bei der Häufigkeitszählung gewisse, für die Untersuchung nicht relevante Wörter – also Artikel, Präpositionen oder Jahreszahlen – auszuklammern.

So ausserordentlich dieser Quellenbestand ist, so heikel jedoch ist seine Auswertung und Interpretation: mögliche Verzerrungen (Bias) sind mitzuberücksichtigen. Denn längst nicht alle Personen, die das Rütli besuchten, trugen sich auch in das Gästebuch ein – etwa, weil sie das Rütlihaus gar nicht betraten oder weil sie sich scheuten, sich schriftlich zu äussern? Nicht nur ein Vergleich mit den Passagierzahlen der Schifffahrtsgesellschaften legt dies nahe, sondern auch die neueren, deutlich weniger dichten Bände aus den Nachkriegsjahrzehnten. Quantifizierende Aussagen auf dieser nur scheinbar lückenlosen Grundlage waren deshalb mit der gebotenen Vorsicht zu formulieren.

2.3.3 Quantitativ empirisch

Quantitative Sozialforschung zielt grundsätzlich darauf, Zusammenhänge zu beschreiben und zu erklären.[301] Je nach Komplexität der Fragestellung und deren Bearbeitung lassen sich deskriptive und schliessende Statistik unterscheiden – beide gelangen im vorliegenden Projekt zur Anwendung.

Analog zur quantifizierenden Analyse von Texten geht es bei der Quantifizierung von Zahlenmaterial darum, Häufigkeiten sichtbar zu machen und zu interpretieren. Für die Benutzung des Rütlis liegen zahlreiche serielle Quellenbestände vor, so etwa statistische Aufzeichnungen des Postverkehrs der Poststelle Rütli im Archiv der Schweizerischen Post oder die Frequenzstatistiken der Schiffstation Rütli gemäss den Jahresberichten, die im Archiv der Vierwaldstättersee-Schifffahrtsgesellschaft verfügbar sind. Neben dieser deskriptiven Auswertung kam auch das schliessende statistische Verfahren zum Einsatz, das auf einer Kurzfragebogen-Erhebung beruhte.

2.3.3.1 Kurzfragebogen

2.3.3.1.1 Instrument

Nachdem die Kurzinterviews der Vorstudie ausgewertet worden waren, zeichnete sich ab, dass sich die geschichtlichen Vorstellungen zu Gründungsmythos und Gestaltung des Rütlis durchaus typisieren, jedoch – auch aufgrund der eingeschränkten Stichprobe – kaum quantifizieren liessen, zumal die Äusserungen – aus Sicht einer systematisierenden Analyse – als stark lückenhaft und oft mehrdeutig erschienen. Um quantifizierbares Datenmaterial zu erzeugen, entstand die Idee eines standardisierten Kurzfragebogens, ja eines Kürzestfragebogens. Denn auch hier bestand die forschungspraktische Prämisse, dass die zeitliche Beanspruchung der Besuchenden minimal gehalten musste, umso mehr, als eine deutlich grössere Zahl an Teilnehmenden zu erreichen war.

Der Fragebogen entstand in deutscher und französischer Sprache mit acht Items in Form dichotomer Behauptungen, welche die Befragten mithilfe einer dreistufigen Nominalskala («Ja», «Nein» oder «Unklar») beantworten sollten:[302]

1.Die heutige Schweiz wurde 1291 auf dem Rütli gegründet.

(1. La Suisse actuelle a été fondée sur le Grütli en 1291.)

2.Der Rütli-Rapport fand im Ersten Weltkrieg statt.

(2. Le rapport du Grütli a eu lieu durant la Première Guerre mondiale.)

3.Tell war beim Rütlischwur dabei.

(3. Tell a participé au serment du Grütli.)

4.1848 entsteht die heutige Schweiz.

(4. En 1848, la Suisse actuelle est née.)

5.Schiller hat den Rütlischwur mit der Geschichte von Tell kombiniert.

(5. Schiller a combiné le serment du Grütli avec l’histoire de Tell.)

6.Im Bundesbrief von 1291 steht: «Wir wollen sein ein einig (oder einzig) Volk von Brüdern».

(6. Dans le Pacte fédéral de 1291, on lit: «Nous voulons être un seul peuple de frères».)

7.General Guisan war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auf dem Rütli.

(7. Le général Guisan est venu sur le Grütli au début de la Deuxième Guerre mondiale.)

8.Die heutige Gestaltung des Rütlis (Schwurplatz, Rütlihaus, Rütliwiese) entspricht in etwa dem Zustand um 1300.

(8. La disposition actuelle du Grütli (lieu du serment, maison du Grütli, prairie du Grütli) correspond plus ou moins à l’état en 1300.)

Die inhaltliche Struktur des Fragebogens zielte also auf die Wissensbestände zum Gründungsmythos von 1291, zur Bundesstaatsgründung von 1848, zum Rütli-Rapport sowie zur Wahrnehmung des Ortes in seiner Historizität. Dabei hingen die Items 1 und 4 sowie die Items 2 und 7 im Sinne einer Überprüfung zusammen. Mit den Items 3, 5 und 6 sollte überdies das Wissen zu Schillers Theaterstück untersucht werden.

Die Teilnehmenden wurden am Ende des Fragebogens gebeten, soziodemografische Angaben zu Geschlecht, Alter, Wohnort sowie Ausbildung und Beruf zu machen. Ein letztes Feld bot die Möglichkeit, Bemerkungen anzubringen. Eine dem Fragebogen vorangestellte Information beschrieb die Befragung als Teil eines Forschungsprojekts, das mit Einverständnis der SGG, der Verwalterin des Rütlis, durchgeführt wurde.

2.3.3.1.2 Stichprobe und Erhebung

Gute Stichproben zeichnen sich dadurch aus, dass sich diese Teilgesamtheit hinsichtlich möglichst vieler Merkmale der Grundpopulation, im vorliegenden Fall der Gesamtheit aller Rütli-Besucherinnen und -besucher, gleichen, das heisst ein zwar verkleinertes, aber sonst wirklichkeitsgetreues Abbild der Gesamtheit darstellen und deshalb repräsentativ sind. Es galt also, Stichproben- und Messverzerrungen resp. systematischen Fehlern vorzubeugen.[303] Die Qualität der Zufallsstichprobe wurde in diesem Sinn durch fünf Faktoren sichergestellt. So wurde erstens im Rahmen eines kurzen Pretests die Verständlichkeit der Fragen überprüft.[304] Zweitens blieb der Erhebungsort konstant: Die Zufallsstichprobe wurde – wie die Kurzinterviews – zum grössten Teil auf der Rütliwiese erhoben, ein Punkt auf dem Gelände, der speziell besucht werden muss und beispielsweise von Wanderern ohne spezielles Interesse am Ort nicht angegangen wird. Drittens war der Zeitpunkt der Erhebung insofern variabel, als sie an verschiedenen Wochentagen (werktags und am Wochenende) und sowohl in der Ferien- als auch Nichtferienzeit stattfand. Im Hinblick auf die Teilnahmebereitschaft der Angesprochenen liessen sich viertens die folgenden Gruppen unterscheiden: a) Interviewte, die im Anschluss an ein Kurzinterview den Bogen ausfüllten (50 von 62 Interviewten), b) Besuchende, die kein Interview geben wollten, aber den Fragebogen ausfüllten (ca. 50 Prozent jener, die kein Interview geben wollten), c) Besuchende, die aus zeitlichen Gründen gebeten wurden, nur den Fragebogen auszufüllen (ca. 80 Prozent der Angefragten). Die Bereitschaft zur Teilnahme erwies sich also insgesamt als ausgesprochen hoch, noch höher als beim Kurzinterview. Um die Besuchenden zur Teilnahme zu bewegen, wurde explizit auf den äusserst geringen zeitlichen Aufwand hingewiesen. Schliesslich erfolgte – fünftens – im Vorfeld und während der Befragung bewusst keine Stratifizierung der Stichprobe, um die intendierte, breit gestreute Repräsentativität zu gewährleisten.

Die Erhebung fand von Mai bis August 2014 statt, parallel zu den Kurzinterviews. Die erzielte Stichprobe umfasst 331 Fragebogen, gut 20 Prozent wurden anlässlich der Bundesfeier am 1. August ausgefüllt. Die Auswertung erfolgte mit der Statistiksoftware SPSS.[305]

2.3.4 Experteninterviews
2.3.4.1 Instrument

Während die Kurzinterviews mit Besuchenden einen sozialwissenschaftlichen Charakter aufwiesen, stellten die geführten Experteninterviews eine Form der Oral History dar. Oral History, so die als klassisch geltende Definition von Starr, bezeichnet selbst erzeugte Primärquellen in Transkriptform.[306] Gerade diese Selbsterzeugung erfordert eine speziell hohe methodische Kontrolliertheit bezüglich Befragung, Quellenherstellung und Interpretation, da der hermeneutische Zirkel zu selbstreferenziell ausfallen könnte.[307] Zudem muss damit gerechnet werden, dass die Gespräche vor allem anekdotisches, triviales, ja weitschweifiges Material und Hintergrundinformationen liefern, gespiesen aus unzuverlässigen Erinnerungen.[308] Dennoch kann sich eine Expertenbefragung lohnen, da Wissen produziert werden kann, das in anderen Quellenbeständen so nicht zu finden wäre.

Zentral ist ganz zu Beginn die Frage, was unter «Experten» resp. einer «Expertin» überhaupt zu verstehen ist. Theoretisch werden drei Definitionen unterschieden.[309] Während der «voluntaristische Expertenbegriff» jeder Person ein spezifisches Wissen über das eigene Selbst zuweist und so biografisch orientiert ist, zeichnet den «wissenssoziologischen» Experten aus, dass er über wissenschaftlich gesichertes Wissen verfügt. Gemäss der dritten Definition, der «konstruktivistischen», zeichnet sich eine Expertin dadurch aus, dass sie über besonderes Wissen innerhalb einer bestimmten Forschungsperspektive verfügt und ihre Expertenschaft methodisch-relational bestimmt ist. Das vorliegende Projekt geht von der dritten Definition aus, also von Experten, die im Hinblick auf die Gestaltung und den Gebrauch des Rütlis über spezielles Wissen verfügen oder involviert sind. Im Vorfeld der Befragung galt es also, objekttheoretische Vorarbeit zu leisten und festzulegen, welche Informationen zu welchen Themenbereichen auf welcher theoretischen Grundlage erwartet werden konnten.[310] Theoretische Grundlage bildete auch für dieses Instrument das dem Projekt zugrundeliegende «Erlebnisraum»-Konzept nach Hettling. Dementsprechend bot der Leitfaden der Kurzinterviews auch für die Experteninterviews die Grundlage und umfasste Themenbereiche der eigenen Nutzung des Rütlis, des Wissens zu Mythos und Denkmal, dessen Wahrnehmung und Interpretation. Hinzu kamen expertenspezifische Fragen, um den jeweiligen Wissensbestand möglichst gewinnbringend erschliessen zu können.

2.3.4.2 Stichprobe und Erhebung

Gemäss dem «konstruktivistischen» Verständnis des Experten resp. der Expertin wurden Personen angefragt, die im Hinblick auf die Gestaltung und den Gebrauch des Rütlis über spezifisches Wissen verfügen. Dazu zählten als erste Gruppe Personen, deren berufliche Tätigkeit eng mit dem Rütli zusammenhing (Pächter, Führer, Tourismus-Fachpersonen), zu der zweiten Gruppe zählten Personen, die einen besonderen regionalen Bezug zum Rütli aufwiesen (lokale Medien, Tellspielgesellschaft Altdorf). Der Verfasser der neuen Geschichte des Kantons Uri bildete schliesslich die dritte Gruppe. Darstellung 8 führt die jeweiligen objekttheoretischen Vorüberlegungen auf.

 

Die Gespräche dauerten zwischen 45 und 120 Minuten und fanden nicht auf dem Rütli, sondern am Arbeits- oder Wohnort der Expertin oder des Experten statt. Die 2014 geführten Interviews wurden transkribiert und in MAXQDA eingelesen. Die partielle Kodierung verlief deduktiv entlang der durch die Kurzinterviews erhaltenen Codes; weitere wurden – bei Bedarf – induktiv gebildet.[311]


Objekttheoretische Überlegungen zu den interviewten Expertinnen und Experten
Name Tätigkeit/Bezug zu Rütli Erwartete Informationen
Edi Truttmann Rütlipächter von 1995 bis 2014 Umgang der Besuchenden mit Rütli; Anekdoten/mündlich tradiertes Wissen
Dr. Herbert Ammann Ehemaliger Geschäftsführer SGG (Verwalterin des Rütlis) Bedeutung des Rütlis für die SGG, Gebrauch des Rütlis, Gestaltung des Denkmals
Fredy Zwyssig Pensionierter SBB-Angestellter; langjähriger Rütli-Führer Rütliführungen, deren Inhalte und Frequenz; die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppen, deren Interesse; Anekdoten / mündlich tradiertes Wissen
Frieda Muff Langjährige Rütli-Führerin (im Auftrag von Tourismus Brunnen) Rütliführungen, deren Inhalte und Frequenz; die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppen, deren Interesse; Anekdoten / mündlich tradiertes Wissen
Fabienne Vollenweider Geschäftsleiterin Tourismus Brunnen Touristische Bedeutung des Rütlis
Christoph Näpflin Historiker, Geograf (lic.phi.); Geschäftsführer der Treib-Seelisberg-Bahn Touristische Bedeutung des Rütlis im Urnersee-Kontext; Rütliführungen, deren Inhalte und Frequenz; die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppen, deren Interesse; Anekdoten /mündlich tradiertes Wissen
Werner Lüönd Leiter Marketing und Sales, Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersee SGV Touristische Bedeutung des Rütlis aus Sicht der Schifffahrtsgesellschaft
Markus Zwyssig Stv. Redaktionsleiter, Urner Zeitung, Altdorf Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern, Rolle SGG als Verwalterin
Dr. Josef Arnold Ehem. Rektor des Kollegiums (Mittelschule) in Altdorf (UR), Mitglied Tellspielgesellschaft Bedeutung Tellspiele, Bezug Tellspiele–Rütli, Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern
Barbara Bär Regierungsrätin des Kantons Uri, Mitglied Tellspielgesellschaft Bedeutung Tellspiele, Bezug Tellspiele–Rütli, Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern
Dr. Hans Stadler-Planzer Freischaffender Historiker, Autor der «Geschichte des Landes Uri» (2015) Bedeutung Tellspiele, Bezug Tellspiele–Rütli, Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern

Darstellung 8