Wie wir töten, wie wir sterben (eBook)

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5

Die eigentliche Residenz des US-Botschafters lag mehr als einen Kilometer entfernt, doch das Gros der Botschaftsangehörigen war in einem Nebengebäude des Schlosses am Rheinufer untergebracht. Unter »Schloss« hatte sich Vanuzzi allerdings etwas anderes vorgestellt. Dies hier war nicht viel mehr als eine aufgeblasene Villa, und die daran anschließenden Erweiterungsbauten hatten den Charme einer Marines-Kaserne in Central Indiana. Der Wachsoldat am Eingangstrakt sah ihm genervt entgegen, um diese Uhrzeit hatte hier niemand mehr etwas verloren, schon gar nicht jemand in einer abgewetzten Fliegerjacke. Vanuzzi selbst arbeitete zwar schon lange nicht mehr für US-Dienste, aber er kannte noch immer die wichtigen Namen, und das öffnete ihm einmal mehr Tür und Tor. Er folgte einem zweiten Mann in Uniform zu einem etwas versteckt liegenden Seiteneingang, dann über zwei Treppen und mehrere Flure in die Tiefen des Gebäudes. Der Uniformierte platzierte ihn in einem Zimmer, das größer war als Vanuzzis Wohnung, außer einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einem Bücher- und Aktenschrank aber nichts enthielt. Und niemanden. Als Vanuzzi auf seine Uhr schaute, waren zehn Minuten vergangen, ohne dass etwas geschehen war. Dann öffnete sich eine Nebentür und der Mann, den er suchte, trat ein.

Graeme van Doren war in Vanuzzis Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Mittelgroß, Schnurrbart, nach unten ziehende Augen- und Mundwinkel, dazu schütter werdendes grau-braunes Haar. Er hatte noch einmal deutlich Gewicht zugelegt, seit Vanuzzi ihn zuletzt gesehen hatte, wirkte steifer, schwerfälliger, umständlicher in seinen Bewegungen. Er stammte zwar aus keiner der »First Families«, die mit der Mayflower in die neue Welt gekommen waren, doch die van Dorens gehörten zu denjenigen niederländischen Händlern, die Nieuw Amsterdam, das spätere New York, mitbegründet hatten. Sein Akzent ließ auf eine exzellente Ausbildung an einer Universität in Neuengland schließen, welche eine Laufbahn im diplomatischen Dienst vorgezeichnet hatte; selbst seine Arbeit für den ehemaligen Heeresnachrichtendienst CIC, wo sie sich kennengelernt hatten, war nur eine Station auf dieser Karriereleiter, die van Doren nun in die US-Botschaft in der BRD geführt hatte.

»Vanuzzi … behalten Sie Platz. Was kann ich gegen Sie tun?«

Van Dorens sonore Tenorstimme wurde von einem leisen hohen Knurren begleitet.

»Ganz ruhig, Mister Cough.«

Vanuzzi entdeckte einen Yorkshireterrier, der neben van Dorens Füßen verharrte.

»Mister Cough …?«

Van Doren gab dem Hund ein Zeichen, es ertönte ein Geräusch wie ein heiseres Husten.

»Meine Kinder haben so lange gebettelt, ihn zu bekommen. Jetzt hab ich die ganze Arbeit mit ihm.«

»Und doch, man weiß nicht, wie, dreht die Welt sich weiter. – Sie rauchen nicht mehr, Veedee? Oder lüften Sie den lieben langen Tag?«

»Au contraire, mon cher, ich habe auf Zigarren umgestellt. Wir haben ein eigenes Rauchzimmer mitsamt Humidor, ist das nicht reizend?«

Van Doren hatte sich einen Whiskey eingeschenkt und deutete mit dem Zeigefinger darauf. Vanuzzi schüttelte den Kopf. Dann setzte sich der Botschaftsangehörige hinter seinen Schreibtisch.

»Sind Sie eigentlich direkt von der CIA übernommen worden, als das CIC abgewickelt wurde, Veedee?«

»So wie Sie vom Mossad, als Sie das CIC verraten haben?«

»Also ja.«

»Sie wissen, dass ich Sie töten müsste, wenn –«

»Wenn Sie ehrlich darauf antworten. Der Witz ist so alt wie die Tora.«

»Konversation war noch nie Ihre starke Seite, Dan.«

Vanuzzis Blick streifte das Abschlussklassenfoto hinter van Dorens Kopf.

»Nicht jeder von uns hatte das Glück, in Harvard Konversation zu üben.«

»Nicht jeder bringt es nach Harvard. Was wollen Sie um – gütiger Gott! – halb zehn in der Nacht von mir, Dan?«

»Sie daran erinnern, dass Sie mir einen Gefallen schuldig sind.«

Van Doren kräuselte die Nase, kniff die Augen zusammen und lachte.

»Ihr Verrat hätte mich damals fast meinen Job gekostet!«

Vanuzzi zuckte mit den Schultern.

»Ach was, mit Ihren Verbindungen haben Sie das Problem leicht wieder ausgebügelt. Man schiebt alles Ihrem Vorgesetzten in die Schuhe und Sie rücken nach, sobald der erste Sturm vorüber ist.«

»Meine Verbindungen, Sie sagen es. Ich sehe nicht, warum ich Ihnen dafür einen Gefallen schuldig bin.«

»Dann helfe ich Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge: das Dossier mit den Namen von Sowjet-Agenten, das ich Ihnen vor vier Jahren unter den Weihnachtsbaum gelegt habe …?«

»Ach das … das hätten wir ohnehin von den Briten bekommen, die teilen brüderlich.«

»Mag sein. Aber nicht so schnell. Auf meine Weise hatten Sie mehr Zeit, es auszuwerten.«

»Sie hatten schließlich auch was davon. Dass Sie hier einfach so reinspazieren können, ohne dass ich Ihnen Handschellen verpasse … als Sie kurz nach dem Krieg zu den Israelis übergelaufen sind, war das Landesverrat. Das hätte Sie eigentlich den Kopf kosten müssen!«

»Denken Sie an die Sowjet-Spione, die durch mich enttarnt wurden.«

»Was wollen Sie, Dan? Einen Orden?«

»Reden. Über Algerier, Deutsche und Franzosen.«

Nase kräuseln, Augen zusammenkneifen – van Doren lachte.

»Sie glauben, das sei mein Thema?«

»Bekommen Sie hier nicht ständig Besuch von den Franzosen?«

»Ich arbeite für die Botschaft.«

Vanuzzi lachte ebenfalls.

»Aber natürlich, und wenn ein Pferd umfällt, hat ihm einer ein Bein gestellt.«

Van Doren blickte durch Vanuzzi hindurch.

»Algerien, sagen Sie?«

Er nahm das Telefon zur Hand und wählte eine kurze Nummer.

»Mo noch im Haus?«

Einige Sekunden vergingen, dann sagte van Doren: »Gut, schicken Sie ihn rauf.«

Kurz darauf trat ein hoch aufgeschossener Endzwanziger in militärischer Ausgehuniform ein. Er hatte große Ähnlichkeit mit Gregory Peck in Des Königs Admiral, roch nach teurem Aftershave und nahm Habachtstellung an. Van Doren bot ihm keinen Platz an.

»Mo Mahmoudi – Dan Vanuzzi. Woher stammt Ihre Familie, Mo?«

»Aus Connecticut, Sir.«

»Nein, ich meine: ursprünglich.«

»Oh, aus der Nähe von Oran in Algerien, Sir.«

»Mister Vanuzzi hier interessiert sich sehr für Ihre alte Heimat. Vielleicht können Sie ihm etwas aus erster Hand darüber erzählen.«

»Sehr gern, Sir. Womit soll ich beginnen?«

»Am besten am Anfang. Seit wann sind die Franzosen überhaupt in Algerien?«, fragte Vanuzzi.

»In den 1830er-Jahren hat Frankreich begonnen, das Land zu erobern, Sir. Es war die erste und größte Kolonie. Um das Land unter Kontrolle zu bringen, hat man an der Nordküste gezielt Franzosen angesiedelt und die Einheimischen ins Hinterland vertrieben. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts gab es dann mit Großbritannien einen regelrechten Wettlauf um Afrika. Frankreich versuchte, einen geschlossenen West-Ost-Korridor zu errichten. Die Folge davon war, dass Algerien in einem riesigen Kolonialgebiet aufging.«

»Das hat den Leuten natürlich nicht gepasst.«

»Sie hatten ihre Freiheit verloren, Mister Vanuzzi. Als Frankreich dann begann, die Menschen einzuteilen in französische Bürger und französische Untertanen und Christen mehr Rechte einräumte als Juden oder Muslimen, regte sich Widerstand im Volk. Auch weil sich die französischen Siedler mit billigen muslimischen Arbeitskräften riesige Industrieimperien aufbauen konnten und wegen des Wucherverbots im Koran das Bankenwesen vollständig kontrollierten.«

»Okay, massiver Unmut und Wunsch nach Unabhängigkeit. Aber warum kommt es erst 1954 zum regelrechten Krieg, Mr. Mahmoudi?«

»Viele Algerier haben im Zweiten Weltkrieg für Frankreichs Freiheit gekämpft. Sie hatten gehofft, dass die französische Regierung diesen Einsatz honorieren würde.«

»Hat sie aber nicht.«

»Es gab noch immer keine Selbstverwaltung, Sir. Nur einen Generalgouverneur, der das Land regiert. Einige gut ausgebildete Algerier versuchten, den Weg durch die Institutionen zu nehmen, die Demokratie von innen heraus zu verändern. Aber die Wahlen in Algerien waren eine Farce, US-Beobachter haben aufgedeckt, dass es massiven Wahlbetrug gab, um zu verhindern, dass algerische Parteien Einfluss gewinnen.«

»Verstehe. Irgendwann war das Maß voll, weil alle reformerischen Bewegungen gescheitert waren, und dann griff man eben zu den Waffen.«

»Nur dass es die französische Armee seit 1954 nicht mehr zu tun hat mit einigen verstreuten Aufständischen, sondern mit dem FLN. Frankreich bekommt das Bergland nicht unter Kontrolle.«

»Es ist der schlimmste Krieg, den sie seit dem Zweiten Weltkrieg geführt haben«, warf van Doren ein. Seinem Gesichtsausdruck war nicht zu entnehmen, ob er seinem algerischstämmigen Musterschüler bislang mit Wohlgefallen zugehört hatte. Als er den nun entließ, sah Vanuzzi Mahmoudi aus der Tür gehen und fragte: »Der schlimmste Krieg? Schlimmer als Indochina?«

»Südvietnam war ein Desaster für die Franzosen, das die USA jetzt wieder geraderücken müssen, damit nicht ganz Asien an die Kommunisten fällt. Aber nein, der Krieg in Algerien ist brutaler. Haben Sie schon einmal von der ›Französischen Doktrin‹ gehört, Dan? Sie besagt, dass sich Unabhängigkeitskämpfer in der eigenen Bevölkerung bewegen wie ein Fisch im Wasser – und deshalb muss man ihnen das Wasser abgraben.«

»Wie?«

»Durch Umsiedlungsmaßnahmen, durch die Einweisung in Lager, durch den Einsatz planmäßiger Folter, um die Bevölkerung zu demoralisieren. Und natürlich durch Kollektivstrafen.«

 

Van Doren stand auf und kramte in seinem Aktenschrank, dann zog er ein Papier hervor und setzte sich wieder. Beim Vorlesen folgte der rechte Zeigefinger den Worten.

»Hier habe ich einen Bericht. Ein kommandierender französischer Leutnant erklärt: ›Wenn einer meiner Männer in einem Hinterhalt getötet wird, gehe ich in das nächstliegende Dorf, versammle alle Einwohner und erschieße auf der Stelle jeden zweiten. Weil sie uns nicht gewarnt haben, dass wir dort in einen Hinterhalt geraten.‹ Und bei ihren ratissages …«

»Bei was?«

»Bei der Durchsuchung algerischer Dörfer gehen französische Soldaten so vor: Finden sie Waffen, heißt das, dass alle Einwohner den FLN unterstützen, finden sie nichts, sind die Waffen zu gut versteckt. In beiden Fällen werden die Bewohner vertrieben und das Dorf wird angezündet. – Ich will ja nicht behaupten, dass das Weiße Haus nicht ein gewisses Verständnis dafür hätte … will man den Terrorismus stoppen, muss man hin und wieder das Recht beugen … für Frankreich ist das leichter, weil die Algerier ohnehin weniger Rechte haben. Aber aus ganz Algier ein Verhörzentrum machen, Gefangene zum Holzsammeln ins Gelände schicken, um sie dann auf der Flucht zu erschießen und die Leichen via Helikopter im Meer loszuwerden – damit treibt man den FLN in die Arme Moskaus.«

»Und die französische Regierung?«

»Die berühmten drei Affen, comme on le dit si bien. De Gaulle sitzt zwischen allen Stühlen. Man hat ihn als konservativen Hardliner ins Amt gewählt, um den Krieg militärisch zu beenden. Aber das funktioniert nicht. Weil er sich auf Verhandlungen mit den Algeriern einlässt. Die französischen Siedler glauben, dass er das Land an die Kommunisten verkauft, er fährt hinunter, die Siedler steinigen ihn beinahe, es gibt Ausschreitungen mit mehr als hundert Toten …«

»Verstehe, Veedee, von allen beschissenen Jobs auf dieser Welt hat de Gaulle den beschissensten. – Was anderes: Wenn Algerier hier in Deutschland abtauchen –«

»Tun sie das, weil die BRD für sie ruhiges Hinterland ist und weil sie unter den Deutschen viele Sympathisanten haben. Außerdem handhabt man hier Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr von Kriegswaffen lax.«

»Und wenn die Franzosen etwas gegen solche Algerier in der BRD unternehmen möchten?«

»Sollten sie die Beine still halten. Die Aktionen der Main Rouge hat man in Bonn nicht vergessen.«

»Main Rouge?«

»Dan, für jemanden, der von Informationen lebt, haben Sie erstaunliche Lücken! Die Rote Hand, ein Terrorkommando, das innerhalb des französischen Auslandsnachrichtendienstes operiert haben soll.«

»Munkelt man.«

»In unserem Job ist Munkeln alles, was wir haben, nicht?! Main Rouge hat vor ein paar Jahren in der BRD Jagd gemacht auf FLN-Leute. Den einen oder anderen deutschen Händler, der Waffen nach Algerien geschmuggelt hat, haben sie sich auch vorgeknöpft.«

»Wie haben die Deutschen reagiert?«

»Irgendwann ist das Gerücht so laut, dass es sogar der Greis im Kanzleramt hört. Er droht den Franzosen mit dem Zeigefinger, die drohen zurück, dass sie die DDR anerkennen, wenn die deutschen Behörden FLN-Leute nicht konsequent verfolgen. Seither ist Ruhe, und die wollen beide Seiten nicht riskieren.«

»Sagen wir, ich bin Algerier und in der BRD abgetaucht. Was mache ich?«

»Landsleute aufsuchen. Oder deutsche Helfer, die Wohnungen anmieten, besonders in anonymen Hochhäusern.«

»In Bonn?«

»Köln. Mehr Einwohner, mehr Hochhäuser.«

»Sie wissen nichts Genaues, Veedee? Warum nicht?«

»Diese Leute sind uninteressant, solange sie nicht damit drohen, irgendwas in die Luft zu sprengen, das eine US-Flagge trägt.«

Vanuzzi legte das Foto, das die beiden Algerier zeigte, auf den Tisch. Van Doren nahm es, setzte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Vanuzzi.

»Schon mal gesehen?«

»Namen haben die keine?«

Vanuzzi schwieg.

»Sie wissen, dass ich die ohnehin rausbekomme, wenn ich möchte.«

»Dann muss ich sie Ihnen auch nicht sagen.«

Van Doren hielt sich das Foto direkt unter die Augen, dann weiter weg, rückte es wieder näher. Dieses Spiel trieb er so lange, bis Vanuzzi unruhig auf dem Stuhl hin und her zu rutschen begann. Schließlich deutete van Doren auf Djefel und sagte: »Der hier kommt mir bekannt vor. Irgendwo habe ich den schon mal gesehen …«

»Strengen Sie sich ein bisschen an, Veedee!«

»Vergessen Sie’s, um die Uhrzeit schaltet mein Hirn in manuellen Betrieb. Ich melde mich bei Ihnen, wenn es mir wieder einfällt.«

»Ach ja, und wie? Mein Name steht nicht im Telefonbuch.«

Nase kräuseln, Augen zusammenkneifen. Van Doren platzte förmlich vor Lachen.

»Très drôle, Dan. Schlafen Sie gut!«

Auf der Rückfahrt sah Vanuzzi, wie sich der Himmel im Westen blutrot zu färben begann. Irgendwo bei Brühl musste es brennen. Oder es waren Polarlichter, hin und wieder sollten die auch im mitteleuropäischen Herbst zu sehen sein. Vanuzzi hielt auf der fast leeren Autobahn an, nahm das merkwürdige Schauspiel eine Zigarettenlänge in den Blick. Dann schnippte er die Kippe auf die Fahrbahn und gab wieder Gas.

6

Er stand am Fenster, trank einen starken Kaffee. Ein Himmel wie aus Bleiguss: Grautöne, kaum unterscheidbar, ob Wolken, ob Hintergrund.

Das Telefon hatte ihn geweckt, van Doren hatte bei ihm anrufen lassen, nun sollte Vanuzzi in Bonn antanzen. Es war früher Nachmittag, ganz und gar nicht seine Uhrzeit. Er warf zwei Kopfschmerztabletten zum Kaffee ein, verzichtete aufs Duschen und fuhr los.

Nachdem er sich beim Zerberus an der Pforte gemeldet hatte, ließ man ihn geschlagene zehn Minuten im Regen stehen. Dann kam Mo Mahmoudi angelaufen, der sich seine Uniformjacke über den Kopf hielt, und drückte Vanuzzi ein großes Kuvert in die Hand.

»Mister van Doren schickt Ihnen das mit einer Empfehlung.«

Vanuzzi öffnete den Umschlag, zog eine zusammengefaltete Kölner Zeitung heraus. Am Titel sah er, dass sie mehrere Wochen alt war.

»Was soll ich damit? Sonst hat er nichts gesagt?«

»Nichts, Sir. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Sir?«

Vanuzzi zuckte mit den Schultern, Mahmoudi hüpfte in langen Schritten, mit denen er die Pfützen umschiffte, zum Haus zurück.

Vanuzzi ging zu seinem Wagen und entfaltete die Zeitung. Son of a bitch! Das sah van Doren ähnlich: Jemandem helfen, ohne ihm wirklich zu helfen. Wahrscheinlich eines dieser Spielchen, die sie in Harvard trieben, ein Intelligenztest, und er war der Hamster … nein: die Laborratte.

Er hatte die Zeitung überflogen. Van Doren hatte tatsächlich nichts angestrichen oder anderweitig markiert. Vanuzzi warf das Blatt auf den Beifahrersitz und zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte hastig, gegen den Ärger an, der sich in seinem Magen breit machte.

Sein Blick fiel wieder auf die Zeitung. Er stutzte, nahm sie auf. Jetzt erst bemerkte er, dass die Seiten 3 bis 6 fehlten. Ja, die Ausgabe bestand überhaupt nur aus zwei Zeitungsbüchern. Das grenzte die Suche immerhin ein wenig ein. Titelseite – uninteressant, im ersten Buch würde er nichts finden, das diente nur dazu, Aufschluss über das Datum zu geben, sonst hätte van Doren das andere Buch nicht beigelegt, sondern es ebenfalls einfach weggelassen. Es musste um einen Artikel im zweiten Buch gehen, doch das waren entweder langweilige lokale Wirtschaftsthemen oder die Ergebnisse der Trabrennbahnen.

Dann aber, beim nochmaligen Überfliegen: ein Foto. Im Vordergrund der Geschäftsführer einer Konservenbüchsenfabrik, die überwältigend gute Umsätze getätigt hatte. Im Hintergrund Arbeiter in Blaumann und Schiebermütze, die nach Schichtende aus der Fabrik strömen. Ein Malocher streift so knapp an seinem Boss vorbei, dass sein Gesicht über der Schulter des Geschäftsführers gut erkennbar ist. Vom Blitzlicht überrascht, blickt er direkt in die Kamera … Muttermale in der Form eines liegenden Dreiecks auf der Stirn … kein Zweifel: Es war Saïd Djefel!

Die feuerroten Haare des jungen Mannes standen in alle Richtungen ab, sie hätten einen frischen Schnitt gebrauchen können. Vor ein paar Tagen war Ödön zweiundzwanzig Jahre alt geworden. Sommersprossig, schmächtig, kaum größer als eins fünfundsechzig, wirkte er eher wie ein Schuljunge, der buchstäblich auf gepackten Koffern saß und seine Eltern erwartete. Er hatte nicht nur seinen Job verloren, sondern auch das Zimmer im Ledigenheim. Es war ein Teufelskreis: ohne Einkommen keine Unterkunft, ohne Unterkunft kein Einkommen. Auch wenn seine eigene Bude viel zu klein war, hatte Vanuzzi Ödön angeboten, für den Übergang bei ihm unterzukommen. Erst als Vanuzzi ins Ledigenheim kam und den jungen Mann sah, der ihm in der Lobby traurig entgegenblickte, fiel es ihm wieder ein: Natürlich, er hätte ihn schon vor zwei Stunden abholen sollen.

»Sorry, kleine Planänderung«, sagte Vanuzzi und ging in die Offensive.

Ödön seufzte und schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht noch mal eine Nacht hierbleiben, die haben mir schon eine Woche gestundet …«

»Nein, du kommst natürlich mit. Nur haben wir vorher noch eine Kleinigkeit zu erledigen.«

Kaum hatte Vanuzzi Djefel in der Zeitung identifiziert, hatte er sich auf den Weg zur Konservenbüchsenfabrik gemacht. Er kannte die Gegend aus seiner Kölner Zeit, sein damaliger Boxclub lag ganz in der Nähe. Vanuzzi war einen Moment unschlüssig, ob er den Pförtner auf Sélestats Foto von Djefel und Ben Kemali oder auf die Zeitung ansprechen sollte. Da er den Algerier nicht alarmieren wollte, schien ihm der Bericht unverdächtiger. Doch als er den Pförtner sah, war ihm sofort klar, dass der, gut geschmiert, ein phänomenales Gedächtnis hätte und sich für nichts weiter interessieren würde als den Zehner, den Vanuzzi ihm mitsamt der Zeitung unter dem Schalter durchschieben würde. Und Vanuzzi behielt recht: Djefel nenne sich Bertini, erzählte der Pförtner, und sei pünktlich zur Spätschicht an diesem Wochenende gekommen. Sie würde um zwanzig Uhr enden. Vanuzzi hatte seine Vorbereitungen getroffen und hatte Ödön abgeholt. Er war ihm stets ein unerlässlicher Helfer gewesen – nicht nur als Sekundant bei den Boxkämpfen. Mit ihm würde er Djefel in die Enge treiben, und anschließend würde Ödön den Algerier auf der Rückfahrt nach Essen bewachen.

Auf dem Weg zur Fabrik erklärte Vanuzzi Ödön in groben Zügen seinen Auftrag und den Plan. Der junge Mann nickte und schwieg. Euphorie sah anders aus.

»Das ist unsere Chance, aus dem Dreck zu kommen, Ödön! Denk dran, was wir mit dem Geld alles anstellen können.«

Ödön sah aus dem Seitenfenster. Wahrscheinlich noch immer beleidigt, weil er ihn hatte warten lassen. Nicht zu ändern!, dachte Vanuzzi und steckte sich eine Zigarette an. Er nahm einen tiefen Zug, der in den Lungen brannte und nach Asche schmeckte. Dann warf er die Zigarette halb geraucht aus dem Seitenfenster.

Der Mond hatte sich hinter eine kompakte Wolkenwand verkrochen. Es nebelte, im gelblichen Schein der Straßenlaternen tanzten kleine Schneeflocken, die vom Wind verwirbelt wurden.

Es war 20.10 Uhr. Unter den ersten Arbeitern, welche die Fabrik verlassen hatten, war Djefel nicht gewesen.

Vanuzzi hatte das Auto in einer Seitenstraße abgestellt und sich und Ödön gegenüber dem Fabriktor postiert. Er rauchte hastig, um seine Nervosität zu betäuben. Hoffte, dass Djefel nicht in unmittelbarer Nähe der Fabrik wohnte. Dann hätten sie mehr Zeit, zuzuschlagen. Und weniger Zeugen.

Als der Algerier zwanzig Minuten nach Schichtende noch immer nicht da war, zog Vanuzzi los, sich an der Pforte nach Djefel zu erkundigen. Neuer Pförtner, neues Risiko. Im selben Moment sah er einen Mann im Gespräch mit einem zweiten aus dem Tor treten – er hatte ein liegendes Dreieck aus Muttermalen auf der Stirn. Djefel trug einen Knebelbart, der ihn älter aussehen ließ. Vanuzzi gab Ödön ein Zeichen, und sie folgten den beiden Arbeitern in kurzer Distanz.

Der zweite Mann war definitiv nicht Ben Kemali, dafür war er zwanzig Jahre zu alt. Und noch etwas gab Vanuzzi zu denken: Er hatte nicht damit gerechnet, dass Djefel einen Bekannten haben würde – das zum Thema »keine Zeugen«. Er musste darauf vertrauen, dass sie nicht zusammenwohnten, also würden sie sich früher oder später trennen, Vanuzzi musste nur geduldig sein. Doch schon zweihundert Meter weiter sah Vanuzzi entsetzt, wie Djefels Begleiter auf ein Auto zuhielt und die Fahrertür öffnete. Dann aber hob Djefel die Hand zum Gruß, ging geradeaus weiter, und das Auto fuhr ohne ihn an.

 

Der Algerier schlenderte allein weiter in der Richtung von Vanuzzis ehemaligem Boxclub. Mit der Gegend war dieser bestens vertraut: Ein paar Hundert Meter weiter kam eine Unterführung. Vanuzzi gab Ödön Instruktionen, Djefel zu folgen, und schlug sich seitab, um vor dem Algerier die andere Seite der Unterführung zu erreichen. Er sprintete über eine verkehrsreiche Straße, rutschte eine Böschung hinab und sah den Eingang. Die Unterführung war schwach beleuchtet, doch konnte Vanuzzi zwei Männer erkennen, die sich näherten. Porca Madonna!, Ödön hielt viel zu wenig Abstand, hoffentlich spannte Djefel nicht, dass ihm jemand seit der Fabrik folgte. Doch der Algerier ging still seines Wegs, einen Henkelmann in der Hand. Als er etwa in der Mitte der Unterführung angekommen war, machte sich Vanuzzi auf, Djefel entgegenzutreten. Sie waren noch zwanzig Meter voneinander entfernt, als Ödöns Schuhe knirschend über Kies rutschten. Der Algerier blieb abrupt stehen, drehte sich um, dann wieder zu Vanuzzi hin. Mit blitzschneller Reaktion rannte Djefel auf Ödön zu, der vergessen hatte, seine Waffe zu ziehen, und schlug dem jungen Mann seinen Henkelmann ins Gesicht. Ödön taumelte, fiel aber nicht zu Boden. Im Vorüberrennen sah Vanuzzi, dass Ödön in Ordnung schien, und forderte ihn auf, zu folgen. Djefel hatte Mühe zu laufen, schien erst jetzt zu bemerken, dass er noch immer den Henkelmann in der Hand hielt und warf ihn weg. Vanuzzi holte auf, doch dann sah er, dass der Algerier auf eine Mauer sprang und sich nach oben hangelte, bevor Vanuzzi nach seinen Beinen greifen konnte. Er hörte etwas reißen, einen Schmerzenslaut, dann ein Aufplumpsen auf der anderen Seite. Nachdem er selbst auf die Mauer geklettert war, sah Vanuzzi, dass sie zu einem Haus gehörte und von drei Seiten ein kleines Gartengrundstück einfasste. Kein Durchlass zur gegenüberliegenden Straße. Vanuzzi schickte den leicht aus der Nase blutenden Ödön um das Haus herum zum Vordereingang, falls es dem Algerier gelingen sollte, ins Haus zu kommen. Er selbst sprang in den Garten und schaltete seine Taschenlampe an. Sie funzelte, er hätte die Batterien prüfen sollen, bevor er damit losgezogen war. Immerhin konnte er sehen, dass Blutflecke auf dem Gras waren. Djefel musste sich beim Klettern verletzt haben, nach rechts oder links über die angrenzenden Mauern würde er so jedenfalls nicht mehr kommen. Häschen in der Grube.

Aber eines, das sich gut versteckt hatte!

Es waren knapp dreißig Meter bis zum Haus. Ein Mietshaus, mindestens drei Stockwerke. Rechts vor sich sah Vanuzzi dichtes Buschwerk. Er zog seine Pistole, setzte die Taschenlampe darauf ab und hielt langsam auf das Gebüsch zu. Das Licht der Lampe ging immer wieder aus, damit die Batterien wieder Kontakt bekamen, musste er sie schütteln. Er hatte sich bis auf wenige Meter den Sträuchern genähert, als das Licht komplett erlosch. Dann hörte er ein Rascheln neben sich. Vanuzzi fuhr herum, fühlte eine Bewegung an seinem rechten Fuß und setzte zu einem Tritt an – als er plötzlich hörte, wie eine Katze schreiend das Weite suchte.

Im nächsten Moment ertönte ein Knarren, und ein Lichtschein erhellte ein Stück Rasen links vor Vanuzzi. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich eine Gestalt an einer zweiten vorbeidrückte und ins Innere des Hauses huschte. Eine Männerstimme fluchte.

Dass gerade jetzt jemand in den Garten kommen musste! Vanuzzi rannte seinerseits den Hausbewohner über den Haufen und schlug die Tür hinter sich zu. Sie führte wenigstens nicht in einen Keller, in dem sich Djefel hätte verstecken können, sondern über einige Stufen nach oben, ins eigentliche Treppenhaus. Das Hauslicht ging aus, Vanuzzi hörte Schritte auf den Stiegen über sich. Unregelmäßig. Der Algerier zog hörbar ein Bein nach. Vanuzzi tastete sich die Treppe hinauf und fand einen Lichtschalter. Wenige Meter vor ihm war die Haustür. Er ging darauf zu, öffnete sie und sah, wie Ödön zum Schlag ausholte.

»Hast du ihn gesehen?«

»Ja. Aber er hat mir direkt die Tür vor der Nase zugeknallt.«

»Gut. Er kommt nicht mehr weit.«

»Er könnte klingeln.«

»Wer lässt jemand um die Uhrzeit rein?«

»Wenn er um Hilfe bittet?«

»Ein Illegaler? Riskiert, dass die Polizei ihn findet …?«

Ödön, der sich ein Taschentuch in ein Nasenloch gesteckt hatte, nickte. Dann sagte er: »Solange er uns nicht davonfliegt …«

Vanuzzi riss die Augen auf, instinktiv drückte er Ödön seine Pistole in die Hand und rannte die Stiegen hinauf.

Scheiße …! Scheißescheißescheißescheiße.

Als er auf dem Treppenabsatz zum zweiten Stock angekommen war, hörte er einen lauten, dumpfen Schlag. Vanuzzi blieb abrupt stehen, drehte sich um, starrte in Ödöns Gesicht, das Panik verriet.

Als Vanuzzi aus dem Haus trat, standen bereits mehrere Menschen um Djefels Leib. Der lag auf der Seite, die Glieder verrenkt, Blut breitete sich kreisförmig um den Schädel aus.

»Krankenwagen, schnell!«, rief eine Stimme.

»Is hier ne Telefonzelle?«

»Im Haus wird ja wohl einer Telefon ham.«

»So wie dat hier aussieht?«

»Komm, mach!«

Vanuzzi atmete ein, dann sagte er mit tiefer Stimme: »Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!«