Wie wir töten, wie wir sterben (eBook)

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7

Im Winde klirrten die Fahnen.

Ihn fröstelte.

Es war nicht nur ihre beste Spur – es war bislang auch ihre einzige. Er war aus dem Wagen ausgestiegen, um »ihren Mann« einmal aus der Nähe zu sehen. Außerdem wollte er schnell reagieren können, sollte der beim Herauskommen einfach eine andere Richtung einschlagen als die, aus der er gekommen war. Ein Termin mit einem Abgeordneten, wie lange konnte der dauern?! Und doch stand er nun bereits – Grundgütiger! – mehr als eine Stunde und war Kälte und Wind ausgesetzt. Wenn er wenigstens Handschuhe mitgenommen hätte. Er war den europäischen Herbst nicht mehr gewöhnt.

Er hatte Posten gegenüber dem Bundeshaus bezogen, jederzeit bereit, hinter einen Baum zu huschen, falls ein Hausdiener ihn genauer in Augenschein nehmen wollte. Er fixierte den Eingang des Gebäudes. Obwohl der Wind schneidend war, blinzelte er kaum. Er spürte, wie die Pupille in seinem linken Auge starr wurde, das Lid zu zucken begann. Seine Brille hielt den Luftzug nicht ab – wenn er nicht achtgab, hätte er spätestens übermorgen eine Augenentzündung. Zu einem Arzt wollte er nicht gehen. Die deutschen Ärzte … ihnen traute er am allerwenigsten über den Weg in diesem Land.

Einem Land, in dem man versucht hatte, ihn umzubringen. Jahr um Jahr um Jahr.

Zusammen mit seinen beiden Begleitern war er vor zwei Wochen in die BRD eingereist. Wie bei solchen Operationen üblich: unter falschem Namen, mit Diplomatenpass. Das Vorgehen sollte das gleiche sein wie zuvor in Argentinien: Zielperson beobachten und fotografieren durch ein Loch in der Plane des gemieteten Kleinlasters. Man hatte ihnen dieselbe Aktentaschen-Kamera mitgegeben, die sie auch im Fall Eichmann verwendet hatten. Aber es war eben doch ein gewaltiger Unterschied, ob man sich auf einer gottverlassenen Straße in einem gottverlassenen Vorort von Buenos Aires befand oder vor dem Regierungsgebäude der Bundesrepublik Deutschland.

Im Winde klirrten die Fahnen. Zwölf Flaggenmasten standen vor dem weiß getünchten Haus, das längst einen neuen Anstrich vertragen hätte können. Die zur Versteifung des Stoffs eingenähten Bleigewichte stießen bei jeder Brise arhythmisch gegen die Metallpfosten. Es klang, als schlüge ein erregter Küchenchef mit seinem Kochlöffel auf eine Edelstahlschüssel.

Man hatte ihm erklärt, dass zehn der zwölf Flaggen für die Delegationen der Staaten gehisst würden, die derzeit in der Hauptstadt anwesend wären. Rechts und links des Eingangs hing schwarz-rot-gold. Es erinnerte ihn unweigerlich an seine Jugend, die Zeit, die sie jetzt »Weimarer Republik« nannten. Die Tage von schwarz-weiß-rot, als man nach seinem Leben getrachtet hatte, schienen endgültig vorbei. Nicht mehr lange, dann würde dieser neue Staat länger existieren als sein demokratischer Vorgänger. Und doch traute er dem äußeren Anschein nicht. Es gab immer noch zu viele von ihnen in Westdeutschland, zu viele in zu hohen Positionen – Nachrichtendienst, Polizei, Politik, in allen Parteien saßen sie. Er hatte den Amerikanern nicht geglaubt, als sie behaupteten, die Entnazifizierung in Deutschland so schnell abschließen zu müssen, weil das Land sonst unverwaltbar sei und den Sowjets in die Hände fiele. Hatte ihnen nicht mehr geglaubt, weil er während eines Einsatzes den Schwenk der US-Nachrichtendienste vom Kampf gegen die Nazis zur Verbrüderung mit SS-Männern direkt miterlebt hatte. Alles lief letztlich darauf hinaus, den USA deutsche Waffentechnik und Informationen über Spionagenetzwerke in der Sowjetunion zur Verfügung zu stellen. Dafür nahmen die Amerikaner gern in Kauf, sich mit der SS ins Bett zu legen. Als wäre nie etwas geschehen. Als wäre seine Familie noch am Leben.

Normalerweise liebte Rosenberg diese frühe Phase der Observation, in der alles neu war, in der er sich auf den Rhythmus der Zielperson einlassen, ihn verinnerlichen musste. Diesmal war alles anders. Es war das erste Mal seit Kriegsende, dass er wieder auf deutschem Boden stand. Damals war er von sicherer Wohnung zu sicherer Wohnung gezogen – sofern in den Tagen der Nazi-Herrschaft überhaupt eine Wohnung für ihn als sicher gelten konnte. Er war ein »U-Boot« gewesen, ein untergetauchter illegaler Jude in Berlin. Er hatte einmal gesagt, dass er den Deutschen würde vergeben können. Nun war er sich nicht mehr so sicher.

Bei allen Männern zwischen vierzig und achtzig Jahren, die ihm in Straßen und Geschäften begegneten, fragte er sich: Was hast du damals getan? Warst du bei der SS? (Groß genug dafür wärst du gewesen, arisch genug hättest du ausgesehen.) Warst du ein Krämer, der sich an jüdischem Raubgut bereichert hat? (Ich konnte ja nicht wissen, dass es von Juden stammte, diese Leuchter hatte damals doch jeder, und überhaupt, hätte ich es nicht getan, dann hätte ein anderer …) Oder warst du einfach nur einer, der wegsah und brav die Schnauze hielt, als man seine Nachbarn in die Viehwaggons trieb …?

Auf Dauer war dies anstrengend, weil in diesem Teil von Bonn nur Männer zwischen vierzig und achtzig Jahren zu leben schienen, und es trug nicht gerade dazu bei, dass er bei seiner Arbeit besser funktionierte (oder überhaupt funktionierte). So begann er, sich zu jedem, der ihm besonders auffiel, eine geistige Notiz zu machen, sie wieder zu verdrängen, bis er abends alle Notizen, an die er sich zu erinnern vermochte, in seine Kladde schrieb. Die dadurch maximal eintöniges Gekritzel beherbergte, und wenig mehr.

Ephraim Rosenberg war ein Mann über sechzig, kaum mittelgroß. Er hatte zeitlebens ein beinahe mädchenhaft wirkendes Gesicht, das ihn stets um Jahre jünger hatte erscheinen lassen, und das nun, auch infolge der Medikamente, die man ihm in Israel verabreichte, einen Zug ins Matronenhafte bekommen hatte. Blonde, hier und da ergraute Locken, eine Hornbrille mit dicken Gläsern, ein Trenchcoat, den er seit seiner Jugend trotz der Kälte auch im Winter lieber trug als einen Mantel. In dieser wie in jeder anderen Stadt fiel er nicht auf, wurde Teil des Straßenbildes. Im Berlin der Nazijahre hatte ihm diese Unscheinbarkeit das Leben gerettet; für Beschattungen in Tel Aviv wurde er öfter angefragt als jeder andere Agent, weil man in ihm nur den Verwaltungsbeamten sehen wollte, der auf dem Weg zu einem Termin war.

Durch Operation Garibaldi wurde das »Institut«, wie seine Mitarbeiter den israelischen Nachrichtendienst Mossad liebevoll nannten, im Mai 1960 aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Sie hatten den deutschen Kriegsverbrecher Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt und nach Israel entführt. Seit mehr als einem Jahr herrschten hektische Betriebsamkeit und angespannte Erwartung im Institut. Wenn unbedeckte Arme einander versehentlich im Vorübergehen berührten, schienen sich knisternd kleine Mengen Elektrizität zu entladen. Sie wollten den Erfolg von Argentinien um jeden Preis wiederholen. Josef Mengele stand ganz oben auf der Liste, aber das schien aussichtslos, schon weil Rafi Eitan, der Held von Buenos Aires, davon abgeraten hatte. Die alten Nazis waren hellhörig geworden, vorsichtiger als vor Garibaldi. Künftige Operationen, die auf erstrangige Kriegsverbrecher zielten, würden es schwerer haben.

Vielversprechender schien die Suche nach SS-Standartenführer Arthur Hermann Florstedt, Erster Lagerführer in Buchenwald und später Kommandant des Vernichtungslagers Majdanek. Das Institut hatte einen anonymen Tipp bekommen, und, um die Ernsthaftigkeit des Anliegens zu unterstreichen, eine Fotografie. Sie war, nach dem Stempel des Fotostudios zu schließen, aktuell. Alter, Größe, Personenbeschreibung stimmten überein mit den letzten repräsentativen Bildern, die sie von Florstedt in SS-Uniform hatten. Sicher: Fünfzehn Jahre waren vergangen, auf dem Foto hatte er zudem eine fast greisenhaft anmutende Haltung, dabei war er kaum ein Jahr älter als Rosenberg. Doch der Lippenschwung, die Form von Nase und Augen hatten auffallende Ähnlichkeit.

Der Hinweis war zwar anonym, enthielt jedoch die Information, dass er von einem Häftling stamme, der wisse, wovon er schreibe. Florstedt habe unter den Insassen schon während seiner Zeit in Buchenwald als unberechenbar gegolten, als hochmütiger, grausamer Tyrann. Ein falscher Blick – oder überhaupt ein Blick in seine Richtung –, und man habe froh sein müssen, nach Schlägen mit Reitgerte oder Pistolenknauf mit dem Leben davonzukommen. Als Florstedt aus Buchenwald versetzt worden war, habe, wenigstens kurzzeitig, das ganze Lager aufgeatmet.

Rosenberg hatte zu recherchieren begonnen. Zwar sollte Florstedt kurz vor Kriegsende des Mordes und der Korruption für schuldig befunden und auf Befehl Himmlers erschossen worden sein. Doch die Angaben der Zeugen waren in Umständen, Zeit (Oktober 1943? April 1944?) und Ort widersprüchlich. Die einen sagten aus, es sei im KZ Buchenwald nach einem Kriegsgerichtsurteil geschehen, andere verorteten die Hinrichtung irgendwo tief in einem mitteldeutschen Wald, zwischen Frühstück und Mittagessen von einem SS-Standgericht ausgeführt. Zudem waren die Zeugen alles andere als glaubwürdig. Sie gaben zu, selbst nicht bei der Erschießung dabei gewesen zu sein. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass jemand einem alten Kameraden zu Flucht oder Untertauchen verhalf, indem er ihn für tot erklärte. Und die Unterlagen des für Buchenwald zuständigen Standesamtes waren, wenig verwunderlich, kriegsbedingt verloren gegangen.

Dann begann der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, und Rosenberg verdoppelte seine Anstrengungen. Er fand schließlich, was er suchte: einen Hinweis in alliierten Unterlagen, dass Florstedt im April 1945 aus seiner Haft in Weimar entwichen sei. Diese Zeugenaussage schien glaubhafter, stammte sie doch von dessen Schwägerin, die angab, dass sich Florstedt nach Kriegsende für kurze Zeit bei ihr in Halle aufgehalten habe, bevor er endgültig untergetaucht sei und den Kontakt mit der Familie nicht mehr aufgenommen habe.

 

Rosenberg warf einen letzten vergleichenden Blick auf die Fotos. Dann hielt er die Recherchen seinem Vorgesetzten Avi unter die Nase und bat um eine Versetzung in die Europa-Division des Mossad. Er hatte gute Argumente: 1947 hatte er zusammen mit zwei Kollegen einen Kriegsverbrecher aus Europa nach Palästina entführt, gleichsam die Blaupause für Operation Garibaldi. Dann sprach er – auch wenn er es nur noch selten tat – nach wie vor akzentfrei Deutsch und würde in der BRD nicht auffallen. Die Garibaldi-Leute hatten genug mit dem Eichmann-Prozess zu tun und galten als »verbrannt« für weitere Operationen dieser Art. Und schließlich war Rosenbergs Ehe zerrüttet, er hielt es in Tel Aviv kaum aus – so nah bei Arella und den Kindern, und doch so unendlich weit von ihnen entfernt. Der Prozess selbst wäre ein guter Grund gewesen, in Israel zu bleiben, aber er konnte ihn auch in der internationalen Presse verfolgen. Außerdem war Rosenberg sicher, dass sich seine wilden nächtlichen Träume mit Prozessbeginn intensiviert hatten. Vielleicht wäre es besser für ihn, ein wenig Abstand zu bekommen, und nichts konnte ihm in diesen Tagen mehr Abstand bringen als seine Arbeit.

Avi ging das natürlich nichts an, und doch platzte es aus Rosenberg heraus. Sein Vorgesetzter sah ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen entgegen. Eine Woche lang. Dann überantwortete er Rosenberg Operation Beethoven.

Sie waren zu dritt und hatten kaum Anhaltspunkte. Der wichtigste war das Studio in Bonn, welches das Foto entwickelt hatte. Der Name stand auf der Rückseite. Ihr anonymer Hinweisgeber musste aus Bonn stammen, er hätte den Film sicher nicht zur Entwicklung in eine Nachbarstadt kutschiert. Als Rosenberg das Studio aufsuchte, das sich in der Altstadt nahe dem Münster befand, konnte sich der Besitzer weder an das Bild selbst noch an den Auftraggeber erinnern, schließlich entwickle er jede Woche mehrere Hundert Fotos. Rosenberg hatte sich bereits zur Tür gewandt, als ihn der Besitzer zurückrief und noch einmal um das Bild bat. Er nahm eine Lupe zur Hand, hielt sie schräg, hielt sie gerade, dann wieder schräg, und sagte schließlich triumphierend, dass es sich bei einer Wand, die im Hintergrund zu erkennen war, eindeutig um die eines Seitengebäudes des Bonner Bundeshauses handle.

Rosenberg ließ sich den genauen Standort des Hauses relativ zum Hauptgebäude beschreiben, dann fuhr er hin und suchte nach dem richtigen Blickwinkel, aus dem das Foto entstanden war. Als er ihn zuordnen konnte, näherte er sich dem Gebäude, zog dabei aber die Aufmerksamkeit eines Hausdieners auf sich. Offenbar konnte man dorthin, wo Florstedt mit einer zweiten Person gestanden hatte, von der lediglich ein Arm und ein Spazierstock zu sehen waren, nur gelangen, wenn man im Bundeshaus zu schaffen hatte.

Seine Kollegen in der eigens für sie vom Institut angemieteten Wohnung, ihrem »Hauptquartier«, waren wenig beeindruckt vom Ergebnis dieses Tages. Mordechai hörte Rosenbergs Ausführungen mit müdem Blick zu. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte in seiner barsch klingenden Bassstimme: »Schön, was wissen wir jetzt? Dass Florstedt einmal in der Nähe des Bundeshauses war. War er öfter dort? Lebt er überhaupt in Bonn oder in der Umgebung? Reine Spekulation!«

»Du nennst es Spekulation, ich nenne es Intuition. Die hat mir schon bei der Berliner Kripo gute Dienste geleistet. Zieht euch bequemes Schuhwerk an, morgen werdet ihr lange Wege zurücklegen!«

Rosenberg bemühte sich, das laute Murren zu überhören.

Sie mussten versuchen, möglichst vielen Leuten, die um das Bundeshaus herum zu tun hatten, das Foto zu zeigen, ohne Florstedt oder einen seiner Vertrauten aufzuscheuchen. Abgeordnete, deren Mitarbeiter oder die Hausdiener kamen nicht infrage – zu viel Aufmerksamkeit! Ihnen blieben die Lieferanten, Handwerker, Gärtner, Hauswarte. Eitan traute er zu, mit dem nötigen Fingerspitzengefühl vorzugehen; aber Mordechai war eigentlich Sprengstoff- und Waffenexperte, einer, der im Kampf um die Unabhängigkeit Israels gelernt hatte, Leute aus dem Weg zu räumen, nicht, sie zu observieren.

Rosenberg würde wieder einmal alles selbst tun müssen.

Nacht im November 1961

Hanna erwartet mich an der Wohnungstür in Potsdam. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, sie trägt einen schwarzen Schleier, doch ich rieche die Seife, mit der sie sich immer die Haare wäscht: Lavendel und Rosenöl. Sie legt einen Zeigefinger an den Mund und signalisiert mir, die Tür leise zu schließen. Dann weist sie mich zum Wohnzimmer, das nur von einer Menora erleuchtet wird. Mutter, Leni und Tante Hedi sitzen schweigend am leeren Tisch. Auch sie tragen Schleier. Ich sage: Schabbat Schalom, aber alles bleibt still, sie halten die Köpfe gesenkt.

Was soll das, sage ich zu Hanna, warum sprechen sie nicht mit mir?

Wir sind enttäuscht von dir, Ephi. Du hast uns vergessen.

Das ist nicht wahr, antworte ich, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an euch denke.

Es ist nicht genug, Ephi. Mit jedem Tag werden wir ein bisschen weniger.

Ich war beim Suchdienst des Roten Kreuzes. Direkt nachdem sie das Lager befreit hatten. Es war aussichtslos.

Es ist nicht genug.

Aber was kann ich noch für euch tun?

Weißt du das denn nicht? Weißt du es nicht, Ephi?

Gegen vier Uhr aufgewacht, Puls raste, nicht mehr zurück in den Schlaf gefunden.

Wieder ein Tag.

Bonn mit seinen vielen engen Gassen, Buchhandlungen, Burschenschaften, kleinen Bäckereien mit einem Hinterzimmer, wo man Kaffee trinken konnte. In einer von ihnen traf er sich um die Mittagszeit mit Eitan und Mordechai. Sie machten einen entnervten Eindruck, die Befragungen hatten rein gar nichts ergeben. Bald würde der Schabbat beginnen, und auch wenn die beiden nicht religiös waren, sprachen sie sich doch dafür aus, die Recherche für einen Tag zu unterbrechen.

Er schickte sie zurück ins Hauptquartier und beschloss, den Rest des Tages selbst die Laufarbeit zu erledigen. Die Familie, in die er geboren worden war, war tot, die Familie, die er selbst gegründet hatte, war weit, wozu also Schabbes feiern …?!

Er trank seinen Kaffee in schnellen Schlucken, packte das vor ihm liegende Foto in die Jackentasche. Er stand auf, die Gedanken bereits auf die Befragungen gerichtet, als sein Blick auf das Profil eines vertrauten Gesichts am anderen Ende des Hinterzimmers fiel. Er wollte genauer hinsehen, doch da hatte der andere sich schon abgewendet, Rosenberg blickte auf einen Hinterkopf mit schütterem Haarkranz und einen breiten Rücken in bordeauxrotem Jackett.

Rosenberg verließ eilig die Bäckerei.

Er kannte das Gesicht, vermochte es aber nicht zuzuordnen. Dann, als er es zuzuordnen wusste, schüttelte er nur den Kopf. Weil es zu einem Toten gehörte.

So ein Unsinn!

Rosenberg musste zu Fuß zum Bundeshaus, seine Kollegen hatten den Kleinlaster genommen. Er stellte den Kragen seines Trenchcoats hoch, es hatte zu schneien begonnen. Der Schnee blieb nicht liegen, aber durch den auffrischenden Wind fühlte er sich beißend an, wo immer er auf nackte Haut traf.

Jahnke – so ein Unsinn!

Wie das Gedächtnis einem doch immer wieder Streiche spielte, wenn man nur lang genug lebte. Wahrscheinlich waren auch daran die Träume von seiner Mutter und seinen Schwestern schuld.

Wann hatte er Jahnke zum letzten Mal gesehen?

1936? 1937? Da waren Mutter, Hanna und Leni noch am Leben.

Er kannte Jahnke schon aus seiner Jugend in Potsdam. Sie waren Fußballkameraden gewesen, hatten sich aus den Augen verloren, als Rosenberg nach Berlin gewechselt war. Bei einer zufälligen Begegnung in der »Fabrik«, dem Polizeipräsidium auf dem Alexanderplatz, stellten sie fest, dass sie beide bei der Kripo arbeiteten – wenn auch in unterschiedlichen Abteilungen. Als sie Rosenberg aus dem Dienst entlassen hatten, hielt Jahnke noch kurze Zeit die Stellung bei der Gestapo, bis er es nicht mehr ertrug und um seine Versetzung bat.

Nein! Es war Ende 1938, dass er ihn zuletzt gesehen hatte. Jahnke verkehrte damals noch immer mit Gestapoleuten. Hatte Rosenberg gewarnt, es braue sich etwas zusammen für die Juden, die Gestapo habe eine zentrale Judenkartei eingerichtet, in den Lagern schafften sie Platz.

»Was könnte sich da noch mehr für uns zusammenbrauen?«, hatte Rosenberg gefragt.

Jahnke hatte den Kontakt zu einem hergestellt, der Juden beim Untertauchen half. Rosenberg hatte seine Mutter und seine Schwestern inständig beschworen, stattdessen mit ihm auszuwandern, doch sie lehnten ab, er müsse sich jetzt um sich selbst kümmern, die Männer seien immer als Erste dran. Alles Weitere werde sich ergeben.

Es war eines der letzten Male, dass er »seine drei Frauen« gesehen hatte.

Wahrscheinlich hatte sein Kopf den Traum der gestrigen Nacht mit der Zeit verknüpft, als er untergetaucht war, und irgendein Detail im Gesicht Jahnkes in den Zügen dieses Fremden wiederzuerkennen geglaubt, wider alle Logik.

Aber warum schlugen seine Beine nun doch den Weg zurück zur Bäckerei ein? Und weshalb ließ er es geschehen? Weil er Sicherheit haben wollte? Oder weil es mehr als nur ein Detail war, das er erkannt zu haben glaubte …?

Als Rosenberg vor die Bäckerei trat, verließ das bordeauxrote Jackett gerade den Laden. Ein gemurmeltes »Auf Wiedersehen« des anderen, dann blickten sie einander direkt in die Augen. In schneller Folge wurde aus den beiläufigen Abschiedsworten eines Fremden Wiedererkennen, wurde Fassungslosigkeit, wurde Versteinerung. Ein merkwürdiges inneres Zusammenzucken, das den ganzen Körper vor ihm durchlief.

»Jahnke? Eberhard Jahnke …?«

»Ephraim Rosenberg …«

Wie mechanisch schnellten die Hände vor. Jahnke begann unablässig den Kopf und die Rechte zu schütteln, er schien gar nicht mehr damit aufhören zu wollen.

»Das kann ja nicht sein, du bist doch –«

»Tot mit den Toten? Nein, alter Freund, so schnell stirbt ein Außenläufer nicht …!«

»Ephraim Rosenberg, ich glaub’s nicht. Was machst du hier?«

»Und du?«

»Arbeiten. Sicherheitsdienst des Bundeshauses.«

Rosenberg spürte, dass sein Herz einen Schlag ausgelassen hatte. Vielleicht strahlte aber auch nur das unentwegte Schütteln von Jahnkes kalter Hand auf andere Körperteile ab.

»Davon musst du mir unbedingt erzählen, Jahnke.«

»Ja.«

Sein Gegenüber zögerte, ein Schatten überzog dessen Augen. Endlich ließ er Rosenbergs Rechte aus.

»Na klar. Nur nicht jetzt, ich muss zurück in den Dienst. Wie lange bist du in Bonn?«

»Einige Tage.«

Jahnke fragte, ob er noch immer seine Kladden bei sich führte, wie früher bei der Kripo. Rosenberg grinste, zog eine aus der Innentasche seines Jacketts und hielt sie dem anderen mitsamt Kugelschreiber hin. Der kritzelte einige Zahlen.

»Ruf mich an. Morgen.«

Einmal mehr streckte ihm Jahnke die rechte Hand hin, die Rosenberg freudig ergriff. Sekunden später sah er den anderen mit leicht watschelndem Gang davongehen.

Einer war also doch von den Toten auferstanden!

Einer, der ihm geholfen hatte.

Einer, der ihm das Leben gerettet hatte.

Einer, den sie dafür hingerichtet hatten. Mitsamt seiner kleinen Widerstandsgruppe.

Auferstanden von den Toten.

Rosenberg lächelte und beschloss, ins Hauptquartier zurückzukehren, um nun doch Schabbes zu feiern.

Der Schneeregen war längst in Schnee übergegangen.

Nacht im November 1961

Ich baue eine Synagoge. Die Mauern stehen, das Dach ist gedeckt. Es ist Nacht, ich lege Hand an Kleinigkeiten. Die Atmosphäre ist gespannt, als gäbe es in dem nagelneuen Gebäude ein uraltes Geheimnis. Ich höre hinter einer Wand ein Scharren, als ob jemand Mörtel, den ich zuvor verteilt hatte, wieder ausheben würde. Ich spüre Wut aufsteigen, werfe einen Hammer durch den offenen Türbereich in Richtung der Geräusche. Es ist ein schwerer Hammer, und ich werfe ihn mit der Absicht, den oder das auf der anderen Seite zu verwunden. Als er ins Dunkel fällt, vergeht ein Moment, dann kommt er wieder zurück zu mir – mit Wucht, aber einige Meter an mir vorbei. Ich nehme einen zweiten, kleineren Hammer, werfe wieder. Auch der kommt zurück, landet in einiger Entfernung von mir. Ich weiß jetzt, dass mich der- oder dasjenige nicht verletzen möchte, doch meine Wut weicht nur der Angst. Angst vor dem Ganz-Anderen, das hinter dieser Wand lauert und tut, was es tut. Leise knirscht der Kies. Ich rufe: Warum hältst du meine Arbeit auf? Warum zerstörst du mein Werk? Siehst du nicht, dass ich mich redlich mühe und nicht vorankomme? Schweigen. Es ist unaushaltbar. Ich spüre, wie mein Herz zu rasen beginnt, weil ich ahne, dass dieses Ganz-Andere sich langsam zu nähern beginnt.

 

Schweißgebadet aufgewacht, Puls über 150.

Wieder ein Tag.

»Was genau tust du am Bundeshaus?«

»Ich überwache den Eingangsbereich. Wer rein- und wieder rausgeht.«

»Du bist ein Pförtner?«

»Es ist schon etwas mehr als das. Ich kontrolliere, ob die Leute korrekt angemeldet sind, ob sie im Bundeshaus überhaupt etwas zu suchen haben. Schließlich soll da ja nicht jeder reinspazieren können.«

Jahnke vermied weiterhin Rosenbergs Blick. Er schien unablässig damit beschäftigt, mit seinem Zeigefinger Brotkrümel vom Tisch aufzuklauben und sie zu einem kleinen Haufen zu schichten.

»Jahnke, du altes Polizeipferd! Wird dir das nicht langweilig?«

»Es ist ein interessanter Arbeitsort. Man lernt viele Menschen kennen.«

»Aber du warst beim Raubdezernat, da war mehr los.«

»Man wird älter, Rosenberg. Noch zwei, drei Jahre, dann war’s das für mich und ich geh in Rente.«

Jahnke ließ ab von den Krümeln und nahm einen großen Schluck Wein. Es war Samstagabend, sie hatten sich in einem altstädtischen Weinlokal getroffen und tranken auf ihr Wiedersehen. Inzwischen mit der zweiten Flasche Riesling. Auch wenn Rosenberg von der ersten nur ein wenig gekostet hatte.

Ein forschender Blick, Jahnke sah weg, dann förderte er zwei Zigarren zutage und hielt Rosenberg eine hin.

»Passe. Ich rauche nicht mehr.«

Jahnke nickte. Dann sagte er: »Ich weiß, was du hören willst. Ja, ich hatte den Vermerk. Es waren zwar nur neun Monate, aber es war die Gestapo. Ich hatte nicht damit gerechnet, überhaupt entnazifiziert zu werden. Aber ich hatte Glück. Und jetzt arbeite ich hier, im Herzen der deutschen Demokratie. Ist das nicht verrückt?«

»Verrückt, ja. In diesem Land ist so einiges verrückt.«

Jahnke zuckte mit den Schultern. Dann fragte er: »Wie bist du rausgekommen, Rosenberg?«

»Lange Geschichte.«

»Du warst im Judensammellager?«

»Große Hamburger Straße 26. Ein Tieffliegerangriff, das halbe Lager ist abgebrannt.«

»Ja, eben.«

»Ich war in der anderen Hälfte.«

Um sie herum war es merklich lauter geworden, der Abend schien seinem Höhepunkt entgegenzustreben. Rosenberg spürte noch immer die seltsame Zurückhaltung, die von Jahnke ausging, und wusste nicht, was er daraus machen sollte.

»Woher weißt du eigentlich davon?«, fragte er.

»Wovon?«

»Vom Judensammellager. Woher weißt du, dass sie mich geschnappt hatten?«

»So was spricht sich herum.«

»Hat dir Petermann davon erzählt?«

»Petermann? Na klar, Petermann muss es gewesen sein.«

Jahnke paffte an seiner Zigarre, begann stark zu schwitzen.

»Wie bist du ihnen ausgekommen?«, fragte Rosenberg.

»Was meinst du?«

»Ich erinnere mich genau an die roten Plakate auf den Litfaßsäulen: Bekanntgabe der Hinrichtung von Petermann und Jahnke.«

»Ach das!«, Jahnke lachte gekünstelt. »Wie du siehst: Es hat mich einfach nicht erwischt. Was hast du gesagt? So schnell stirbt ein Außenläufer nicht – und ein Mittelläufer auch nicht … so kurz vor Kriegsende wär das ja blöd gewesen.«

»Kurz vor Kriegsende? Es war im November 1944.«

»War es das? Ich kann mich nicht genau erinnern.«

»Und Petermann?«

»Der hatte nicht so viel Glück.«

Rosenberg wusste, dass die Deutschen nicht gern über die letzten beiden Kriegsjahre sprachen. Aber dies war nun doch sehr mühselig. Er saß seinem Retter gegenüber, dem Mann, der ihm geraten hatte, abzutauchen, der ihn mit den richtigen Menschen zusammengebracht hatte, die geholfen hatten, dass die SS ihn jahrelang nicht aufspürte … bis zum März 1943, als er in einer Menschenmenge von einem anderen ehemaligen Kollegen entdeckt wurde, der nun bei der SS war … zwei Tage später holten sie ihn und seinen letzten Fluchthelfer ab und verfrachteten ihn ins Sammellager.

Um das auf ihm lastende Schweigen zu brechen, sagte Rosenberg: »Ja, das hatte er wohl nicht: Glück.«

Jahnkes Blick wurde unstet, die Zigarre zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand begann stark zu zittern. Dann brach es plötzlich aus ihm heraus: »Du weißt es, oder?«

Rosenberg sah ihn mit großen Augen an.

»Na klar weißt du es! Wer hat es dir gesagt?«

»Wer hat mir was gesagt?«

»Wo du mich finden kannst.«

»Reiner Zufall.«

»Zufall, ein Scheiß! Bist du deshalb gekommen?«

»Um dich zu sehen?«

»Um Rache zu nehmen, Herrgottnochmal …«

Rosenberg runzelte die Stirn. Was war hier eigentlich los?

»Ich hab das nicht gewollt, das musst du mir glauben, Rosenberg. Ich habe bis heute Albträume. Aber du weißt, wie sie waren, die Gestapo hatte dich auch in der Mangel …«

»Du …?«

»Die hatte dich doch auch in der Mangel …«

»Du hast Petermann verraten?«

»Du weißt, wie sie waren. Das waren keine Menschen. Die haben nicht damit aufgehört. Die ganze Nacht. Sie haben mir die Fußnägel ausgerissen, einen nach dem anderen …«

»Er war mit dir verwandt, Jahnke, und du hast ihn verraten.«

Rosenberg war aufgestanden, im Lokal war es still geworden, viele Augenpaare sahen zu ihnen herüber. Rosenberg griff nach seinem Trenchcoat. Er hatte Petermann gemocht. Ohne dessen Hilfe hätte er nicht einen Monat im Untergrund überlebt. Er knallte einen Zwanzigmarkschein auf den Tisch und ging zur Tür. Draußen sog Rosenberg die kalte Abendluft ein und setzte sich in Bewegung.

Petermann. Bärbeißiger Kerl. Bei ihrer ersten Zusammenkunft hatte ihn Rosenberg gefragt: »Warum hilfst du mir?«

»Weil das die einzige Art von Widerstand ist, den ich in diesem Land leisten kann. Wenn ich’s nicht täte, müsste ich mich umbringen.«

Jetzt, auf der Straße, hörte Rosenberg erst im letzten Moment die Schritte hinter sich, drehte sich abrupt um, holte aus und schlug dem einen Kopf größeren Jahnke mit der Faust ins Gesicht. Der krümmte sich, Blut lief ihm aus der Nase und den aufgeplatzten Lippen. Doch als Rosenberg seinen Weg fortsetzte, vernahm er kurz darauf wieder Schritte hinter sich. Sie gingen schweigend, Rosenberg immer einige Meter voraus. Dann blieb ihm die Luft weg, und er hielt an.

»Hast du mich auch denunziert?«

Er stand mit dem Rücken zu Jahnke, hörte dessen lamentierende Stimme.

»Ich musste ihnen Namen geben … aber ich hab nie gesagt, wo sie euch finden können …«

»Weil du es selbst nicht wusstest.«

»Ich dachte, die finden euch sowieso nicht.«

»Sie haben uns aber gefunden.«

»Da war diese Greiferin, die für den Jüdischen Fahndungsdienst der Gestapo gearbeitet hat … die wusste einfach alles, keine Ahnung, wieso … versteh doch, ich hatte immer darauf gehofft, das große Ganze retten zu können –«

»Wenn ein paar kleine Juden sterben. – Was ist dann passiert? Zwischen meiner Festnahme und der Hinrichtung von Petermann liegen anderthalb Jahre.«

Rosenberg drehte sich um. Jahnke schwieg, hielt sich ein Taschentuch auf die blutende Lippe.

»Verstehe. Die haben dich nicht aus dem Netz gelassen. Du warst die ganze Zeit Gestapo-Zuträger. Und natürlich wolltest du immer nur die Gruppe vor dem Zugriff retten, nicht deinen eigenen Arsch. Was ist dann passiert, warum hast du die Gruppe am Ende doch verraten?«

»Sie sagten: er oder ich.«

»Warum war dann auch dein Name auf den Hinrichtungsplakaten?«

Wieder schwieg Jahnke. Rosenberg nickte.

»Du hattest einen Deal mit ihnen. Einen dreckigen kleinen Deal.«

Er widerstand dem Impuls, noch einmal zuzuschlagen.

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