Justus Peyrikus

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Justus Peyrikus
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Martin Zielinski

Justus Peyrikus

Zwischen Welten

Fantansyroman

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil:

Prolog

1. Endlich Ferien

2. Ein seltsamer Besuch

3. Die Abfahrt

4. Die neue Schule

5. In der Aula

6. Die Bibliothek

7. Eine sonderbare Begegnung

8. Im Interspatium

9. In Metatron

10. Das Telekinarium

11. Großvater Rupertus

12. Geschichte der Magie im Historicum

13. Master Ethan im Epistemologium

14. Seltsame Entdeckungen

15. Die geheime Botschaft

16. Böse Überraschungen

17. Der Ausflug

18. Im geheimen Garten

19. Nächtliche Expedition

20. Spektakel im Zwischenraum

21. Justus‘ Traum

22. Edolfin weiht in die Mission ein

23. „Metatron“ im geheimen Garten

24. Das Abenteuer beginnt!

Zweiter Teil:

25. In der Festung

26. Der Großmeister

27. In der Krypta

28. Kampf mit den Wächtern von Antra‘agor im Zwischenraum

29. Zurück in der Schule

30. Die Auszeichnung

Danksagung

Erster Teil:

Prolog

Gespenstisch bewegen sich die Schatten der mächtigen Rundsäulen im Licht der Fackeln. Die Säulen stützen ein gewaltiges, zweischiffiges Gewölbe. Rundbögen schwingen sich von Säule zu Säule, und Weihrauchduft durchzieht den weiten Kirchenraum. Seine Schwaden verschleiern den Blick hinauf zum Altar. Von den Wänden hallt monotoner Gesang wider. Er kommt aus dem inneren Bereich der Kirche. Geheimnisvoll klingt es durch den Raum, so sehr, dass sich der stille Zuhörer tief in das Dunkel seiner Nische zurückzieht.

Die gegenüberliegende Wand wird zur Linken von einem kleinen Portal geziert, eine kunstvoll gearbeitete Eichenholztür, umrahmt von einer siebenstufigen Mauereinfassung.

Eine mächtige Gestalt betritt durch das Portal den Kirchenraum, umhüllt von einem langen, weißen Umhang. Mit ruhigen Schritten bewegt sie sich in die Richtung des Gesangs. Ihr Auftreten lässt erahnen, dass sie eine besondere Rolle in der Kirche spielt.

Im Chorraum stehen weitere Gestalten in einem Chorgestühl, ebenfalls mit weißen Umhängen bekleidet, auf deren linker Seite große, blutrote Kreuze prangen. Die Enden der Kreuze laufen in zwei Spitzen auseinander. Sie erinnern an gespaltene Schlangenzungen.

Die erhabene Gestalt strebt dem ersten Platz direkt hinter dem aus Marmor gehauenen Altar entgegen. Sie scheint der Anführer der singenden Gemeinschaft zu sein.

Der Altar bildet das Zentrum des vorderen Bereichs der Kirche. Die Weihrauch geschwängerte Luft erzeugt eine mystische Atmosphäre. Alles ist in trübes Licht getaucht, einzig der Altar leuchtet klar aus sich selbst heraus.

Inzwischen hat der Neuankömmling in den monotonen Gesang eingestimmt. War die Melodie am Anfang noch leise, so schwillt sie jetzt an, als wäre aus einem kleinen Bach ein rauschender Strom geworden.

Der ganze Raum ist Musik, das riesige Bauwerk singt. Das lässt dem Betrachter in der Nische Schauer der Erregung über den Rücken laufen.

An zwei überlebensgroßen magischen Fresken bricht sich das flackernde Licht der unzähligen Fackeln und erzeugt vielfältige Schatten.

Unmittelbar vor dem Altar kniet eine einzelne, in einen braunen Umhang gehüllte Gestalt.

Die Musik schließt mit einem feierlichen Halleluja, dann beginnt ein seltsamer Ritus. Die weiß bemäntelten Gestalten entzünden Kerzen, deren Flammen den Weihrauchnebel durchdringen und eine geheimnisvolle Stimmung hervorrufen.

Der Gesang verstummt. In der plötzlich eintretenden Stille bewegt sich der Anführer auf den Knienden zu. Er hält in der Hand ein schweres Buch mit goldenen Schnallen.

»Begehrt ihr die Gemeinschaft des Ordens und wollt ihr an seinen geistlichen und weltlichen Werken teilhaben?«, hallt es durch den Raum.

Kaum ist die Frage bejaht, fährt der Meister fort: »Ihr strebt nach Großem. Von unserem Orden seht ihr nur den äußeren Glanz. Ihr seht die schönen Pferde, die prächtigen Rüstungen, das gute Essen und die Getränke. Aber es ist kein gemütliches Leben bei uns. Strenge Regeln gelten für den Orden. Es ist ein großer Schritt, den ihr da plant: Ihr, der ihr euer eigener Herr seid, macht euch zum Diener eines anderen, denn ihr werdet nur selten das tun dürfen, was ihr begehrt.«

Der Neuling antwortet: »Herr, wir sind vor Euch und vor die Brüder getreten, die mit Euch sind, um unsere Aufnahme in die Gemeinschaft des Ordens zu erbitten.«

Nun hält ihm der Meister das Buch entgegen. Der Novize besiegelt das Ritual mit seinem Schwur auf das Buch. Das musste eine Bibel sein.

Ein weiter, weißer Umhang wird nun dem Knienden über die Schultern gelegt, offenbar das äußere Zeichen seiner Mitgliedschaft.

Erneut schallt der Gesang durch den Raum. Die Schar der Männer formiert sich und bewegt sich unter Verneigungen vor dem Altar in langer Prozession dem Ausgang entgegen.

Der Kirchenraum ist leer. Die Wände summen die Melodie nach. Zwei Helfer löschen die Fackeln, und Finsternis macht sich breit. Der einzige Lichtschimmer kommt von dem weißen Altar. Der Betrachter verlässt seine Nische und nähert sich vorsichtig dem Altarraum.

1. Endlich Ferien

»JUSTUS«, gellte Fräulein Maikels Ruf durch die Klasse, »nun Justus, was kommt bei dieser Aufgabe heraus?« Ihr Zeigefinger tippte heftig auf die oberste Aufgabe an der Tafel. »Würdest du gnädigerweise einmal einen Blick auf diese Tafel werfen? Oder sind WIR es nicht wert, dass du uns mit DEINER Aufmerksamkeit beehrst?«

Fräulein Maikels Augen blitzten durch die dicke Hornbrille bis in die letzte Reihe. Benommen schüttelte Justus den Kopf. Er versuchte, die letzten Bilder seines Traums zu verscheuchen. Verwirrt sah er Fräulein Maikel an. Ihr Mund wurde immer schmaler.

 

»Justus, wird’s bald…?«, fragte die Lehrerin spitz. Sie bemühte sich sichtlich, nicht aus der Haut zu fahren.

Justus schaute sie mit seinen braunen Augen treuherzig an. Fräulein Maikels Lieblingsschüler, der dicke Wilhelm in der ersten Reihe, drehte sich hämisch grinsend um.

Wie immer ließ sich Justus davon provozieren und schnitt eine Grimasse. Fräulein Maikels Beherrschung fand ein jähes Ende. Das ging zu weit!

»JUSTUS, ES REICHT! LASS AUF DER STELLE DIESE BLÖDEN FRATZEN; ICH WERDE MIT DEINEN ELTERN REDEN ...«

Dieses Gekeife. Nicht auszuhalten! Immer, wenn sie sich so aufregte, spuckte sie - ekelhaft! Kein Wunder, dass sie noch nicht verheiratet ist.

Ihr strebsamer Liebling Wilhelm konnte einem eigentlich leidtun, denn der bekam die Spritzer stets volle Kanne ab.

Mit schnellen Schritten kam sie nach hinten, packte Justus am Ärmel und zog ihn hoch. Sie schob ihn quer durch die Klasse vor sich her, wobei er die Spitzen ihrer Fingernägel deutlich zu spüren bekam, und jagte ihn zur Tür hinaus. »UND SO WAS NENNT SICH HOCHBEGABT!«

Allein auf dem Gang zu stehen, war für ihn eine richtige Erholung. Er lehnte seine schlaksige Gestalt an das große Fenster und sah auf den Schulhof. Jetzt konnte er in aller Ruhe über den Tagtraum nachgrübeln, der ihn abgelenkt hatte.

Schon oft waren unbekannte Bilder vor seinem inneren Auge erschienen und hatten ihn in ihren Bann gezogen. Woher kamen sie? Justus fuhr sich nachdenklich durch seine dunklen, leicht zerzausten Haare.

Seinem Großvater Rupertus war es früher offenbar ähnlich ergangen. Es klang unheimlich, wenn seine Großmutter seinen Eltern und ihm hin und wieder davon erzählte. Als er noch lebte, nannten ihn die Leute einen »Seher«. Was mochte das wohl bedeuten?

Nicht selten waren Freunde und Nachbarn der Familie gekommen, um sich bei ihm in Notlagen Rat zu holen. Er hatte den Menschen mit seinen „Schauungen“ oft helfen können. Nur herbeizaubern konnte er die Bilder nicht. Sie ließen sich nicht erzwingen.

Seit einigen Wochen hatte auch Justus diese Tagträume. Sie waren ihm unheimlich.

Hingen sie mit seinem Unfall zusammen? Vor einigen Monaten war er direkt vor ein Auto gelaufen. Danach lag er im Koma und die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben. Doch langsam war er wieder aufgewacht.

Eine lange Leidenszeit folgte auf den Unfall. Er hatte vieles vergessen und verlernt. Mühsam musste er wieder schreiben und rechnen lernen - eine harte Zeit.

Schließlich hatte er den Anschluss in der Schule geschafft und war fast wieder der alte. Nur eine Sache war anders. Er hatte diese merkwürdigen Schauungen. Er "sah" Dinge, die andere nicht wahrnahmen. Er hatte dabei immer das Gefühl, als sei er selbst ein Teil dessen, was vor seinem inneren Auge ablief.

Auch vorhin war es so. Die Szene in der Kirche hatte er aus dem Schatten einer Nische heraus beobachtet. Das Licht einer Fackel war auf sein Gesicht gefallen und aus Angst entdeckt zu werden, war er weiter in die Dunkelheit der Wandnische zurückgewichen. Noch immer klangen die Worte in seinen Ohren nach, die dem Novizen vorgelesen worden waren. Er musste herausfinden, was dies bedeutete!

Mit unverminderter Lautstärke hatte »Fräulein« Maikel inzwischen Wilhelm aufgerufen. Von ihm bekam sie jetzt sicher die Antwort, die sie hören wollte. Und dann schrieb sie wie gewohnt eine Eins in ihr rotes Buch. Er war halt ihr Lieblingsschüler. Das ging schon die ganzen Jahre so.

»Noch drei Tage, dann sind wir endlich frei«, flüsterte Justus seiner Banknachbarin Pauline zu, als er nach einer Viertelstunde wieder auf seinem Platz saß.

Sie kannten sich schon seit der Kindergartenzeit. Fast ihre gesamte Zeit verbrachten sie miteinander. Und nun saßen sie hier mehr oder weniger herum, und die letzten Stunden wollten einfach nicht vorübergehen.

»JUSTUS!«

Was um alles in der Welt war jetzt schon wieder los?

»Justus, ich werde mit Deinen Eltern noch einmal darüber reden müssen, wie es mit dir weitergeht«, klang es von vorne. Keif, keif, keif. Spritz, spritz, spritz, dachte Justus. Noch drei Tage!

Justus tippte sich, als Fräulein Maikel sich wegdrehte, vielsagend an die Stirn. Pauline grinste nur. Bald war der Spuk vorbei, und sie waren von dieser Vogelscheuche befreit. Nur noch wenige Tage und die Zeugnisse wurden ausgeteilt. Dann gab es endlich Ferien. Fräulein Maikel würden sie bestimmt nicht vermissen.

Ungeduldig harrten sie auf den Moment, sich mit ihren Freunden zu treffen.

Befreit von der Schullast standen Justus und seine Freunde auf dem Grundstück, wo noch vor kurzem alte Baracken aus längst vergangenen Tagen gestanden hatten. Nun war es das Territorium der Clique um Justus und Pauline, auf dem sie alles bestimmen konnten - zumindest solange, bis hier die Baustelle für ein neues Wohnhaus entstehen würde.

Alle hatten von zu Hause aus den Werkzeugkästen ihrer Väter dringend benötigte Gerätschaften zusammengetragen. Jetzt konnten sie endlich ihre Hütte fertigstellen. Das Dach musste noch mit Dachpappe bedeckt werden, um das Ganze regensicher zu machen. Die Pappe stammte von den abgebrochenen Baracken und man konnte sie noch gut gebrauchen.

»Ihr müsst die Dachpappe glattziehen und dann aufeinander nageln. Dann kommt kein Regen durch«, sagte Justus. Mitten in ihrem Arbeitseifer erspähte einer von ihnen ein paar Mitglieder aus der Neumann-Bande. Vorsichtig kamen sie um die Straßenecke geschlichen.

»Hee, seht mal, da kommt der Neumann mit seinen Gorillas.«

Direkt liefen einige den Störenfrieden entgegen, um sie von ihrem Territorium fernzuhalten. Schnell entwickelte sich aus einem ersten Wortgefecht eine wüste Beschimpfung, die eine wilde Verfolgungsjagd provozierte.

Mit Gebrüll ging es quer über die stark befahrene Hauptstraße hinein in eine enge Seitenstraße. Hier standen die Häuser so dicht beieinander, dass die Bewohner sich gegenseitig auf den Küchentisch sehen konnten. Zwei ältere Frauen lehnten auf Kissen in ihren Fenstern und schrien ihnen hinterher: »Wat mat ihr do, ihr Pänz?«

In der nächsten Straße waren die Gegner zu Hause, nur noch um eine Ecke. Da waren die Neumänner auch schon in ihrer Toreinfahrt verschwunden. Die Jagd hatte ein jähes Ende.

»Fast hätten wir sie gehabt«, japste Justus.

»Mann, immer kommen diese hirnlosen Blödmänner und zerstören alles«, stieß Pauline keuchend hervor. Wütend stemmte sie ihre Fäuste in die Seiten und blickte auf die Toreinfahrt, durch die ihre Gegner gerade verschwunden waren.

»Wir müssen uns einen besseren Schutz für unsere Hütte ausdenken. Am besten wir postieren Wachen während der Ferien.«

So vergingen die ersten Ferientage. Über Nacht dachte sich Justus einen sicheren Verteidigungsplan aus und stellte ihn seinen Leuten in einem Kriegsrat vor. Eine Art Verteidigungsring musste her, rund um die Hütte und am besten mit großen Steinen.

Zusammen mit seinem Freund Gerri machte sich Justus auf, um welche von einem Abbruchgrundstück ganz in der Nähe zu besorgen. Hier hatten ebenfalls Steinbaracken gestanden.

Nun lagen die Steine in großen Geröllbergen herum. Man brauchte sich nur zu bedienen. Trotzdem galt es nicht erwischt zu werden. Man konnte ja nie wissen, ob jemand sie des Diebstahls bezichtigen und anzeigen würde.

Justus kannte sich hier gut aus. Die ehemaligen Wege waren zwar verschüttet durch die Mauerreste, dafür gab es aber viele Trampelpfade, die sie benutzen konnten. Sie führten über Stock und Stein, und wenn sie nicht aufpassten, konnten sie sich leicht an den scharfen Steinkanten verletzen. Justus und Gerri umrundeten geschickt die gefährlichen Stellen. Schnell kamen sie an den Platz, wo sie die besten Steine für ihr Vorhaben finden konnten.

Bald hatten sie ihre Schubkarre gut gefüllt und schoben sie zufrieden zurück auf ihr Grundstück.

2. Ein seltsamer Besuch

Während sie an den folgenden Tagen mit ihrer Hütte gut vorankamen, traf bei Justus zu Hause ein Brief ein. Er war per Luftpost und als Einschreiben gekommen. Seine Mutter hatte dem Briefträger den Empfang quittieren müssen, als Zeichen dafür, dass sie ihn auch wirklich erhalten hatte.

Auf der Rückseite prangte ein großes Siegel in rotem Lack, das ein burgähnliches Schloss zeigte.

Der Inhalt schien äußerst wichtig zu sein. Jedenfalls benahmen sich seine Eltern seit dem Erhalt des Briefes anders als sonst, ganz eigenartig.

Bald nach der Ankunft des Briefes erschien ein würdig aussehender Herr bei seinen Eltern. Eine seltsame Erscheinung mit schulterlangem schlohweißem Haar und einem ebenso langen weißen Bart. Bekleidet war er mit einer langen, schwarzen Kukulle, einem faltenreichen Umhang, der fast bis auf den Boden reichte. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen, abgetragenen Zylinder.

Dummerweise regnete es an dem Tag seines Besuches wie aus Kübeln. Nicht nur die Kukulle und der Zylinder waren triefend nass. Die ganze Gestalt tropfte, als sie schwerfällig die Treppe bis zur Wohnung hinaufstieg. Grüßend nahm der Herr den Zylinder vom Kopf, als Justus’ Mutter die Wohnungstür öffnete.

Schnell bildete sich eine Wasserlache auf dem Boden.

»Gott zum Gruße«, stieß er mit volltönender Stimme hervor. Justus‘ Mutter sah ihn irritiert an. Was für ein sonderbarer Mann, welch eigenwillige Begrüßung! »Guten Tag, ach, ähm…, kann es sein, dass…, ähm, sind Sie vielleicht der Herr von der Schulbehörde, der diesen Brief geschrieben hat?«

Mit der rechten Hand versuchte sie, noch schnell ihre Frisur ein wenig zu glätten.

»Antonius Grummaritsch von den sieben Türmen«, stellte sich der fremde Herr vor. Frau Peyrikus blickte verdutzt. 'Von den sieben Türmen’, was war das?

»Ich komme in der Tat vom Schulamt,« fuhr er fort, »Abteilung 'Außergewöhnlichbegabte’.«

Justus’ Mutter war sprachlos. Was wollte dieser triefende, befremdliche Mensch von ihr und ihrem Sohn Justus?

»Darf ich eintreten, denn ich glaube, was ich Ihnen zu sagen habe, dauert etwas länger als zwei Minuten.«

Frau Peyrikus bat ihn in die Wohnung und half ihrem Gast beim Ablegen seines immer noch tropfenden Umhangs. Sie führte ihn in die große Wohnküche, die direkt neben Justus’ Zimmer lag. Wiederholt fuhr sie sich mit den Händen durchs Haar, um ihre Nervosität zu vertuschen.

Sie bot ihm einen Platz am großen Küchentisch an, auf dem dampfender Kaffee und ein selbst gebackener Kuchen standen. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Er ist gerade frisch aufgebrüht. Sie können auch gerne von dem Kuchen kosten.«

Herr Grummaritsch sog den angenehmen Kaffeeduft ein und nahm das Angebot dankend an. Die nassen Kleider ließen ihn ein wenig frösteln, obwohl es in der Küche gemütlich warm war.

Flugs holte Frau Peyrikus ein Kaffeegedeck hervor, goss Kaffee ein und servierte ein Stück des noch warmen Käsekuchens.

Der Kuchen schien ihm zu schmecken, und die ersten Schlucke Kaffee erzeugten ein sichtliches Wohlgefühl. Dann erklärte er, warum seine Behörde ausgerechnet Justus aus einer großen Schar von Jungen und Mädchen dieses Schuljahres ausgewählt hatte.

»Aber Justus kommt nicht alleine zu uns«, berichtete Herr Grummaritsch. »Fast achtzig Jungen und Mädchen werden im nächsten Schuljahr auf unsere wunderbare alte Schule wechseln können.

Es ist eine Schule für Außergewöhnlichbegabte, ein Internat von bestem Ruf mit langer Tradition. Zu dieser Tradition gehört ein besonderes Augenmerk auf die pädagogische Betreuung. So wollen wir dafür sorgen, dass in der Schule ein gutes Lernklima herrscht.«

Früher, so berichtete Herr Grummaritsch weiter, war in diesem Internat viele Jahrhunderte hindurch eine geistliche Bruderschaft ansässig, die die Schüler und Schülerinnen unterrichtet hatte. Heute bestand das Lehrerkollegium ausschließlich aus weltlichen Lehrern.

»Die Umstellung wird für Justus sicher nicht einfach werden. Doch auch Pauline gehört zu den außergewöhnlichbegabten Schülern. Justus hat somit jemanden, den er schon kennt.«

Frau Peyrikus schaute ihn skeptisch an. Herr Grummaritsch von den sieben Türmen musste alle seine Fähigkeiten aufbieten, um sie von den Vorteilen des Schulwechsels zu überzeugen.

Dass auch Pauline dem Kreis der ausgewählten Schüler angehörte, interessierte Frau Peyrikus nicht weiter. Ihre Gedanken kreisten darum, dass Justus in der nächsten Zukunft von ihr getrennt sein sollte und das für eine längere Zeit. Angespannt zupfte sie an der Kittelschürze herum.

 

»Ist das denn alles schon beschlossene Sache?«, fragte sie unsicher. »Wir wollten ihn eigentlich auf der jetzigen Schule lassen. Ich meine, müssen wir denn nicht erst zustimmen?«

»Selbstverständlich«, beeilte sich Herr Grummaritsch, Frau Peyrikus die Unsicherheit zu nehmen. »Wir würden nichts gegen ihren Willen unternehmen. Aber es wäre sehr betrüblich, wenn sie ihrem Jungen nicht die Ausbildung angedeihen ließen, die seinen Fähigkeiten entspricht.«

»Aber wie kommen Sie gerade auf meinen Sohn? Woher wissen Sie überhaupt von ihm?«

Noch weitere Fragen schwirrten Justus‘ Mutter wie ein Bienenschwarm durch den Kopf. Auf solche Fragen war Herr Grummaritsch von den sieben Türmen jedoch gut vorbereitet.

»Wissen Sie, Frau Peyrikus, wir beobachten Justus schon seit langer Zeit. Doch keine Angst, wir spionieren die Schüler nicht aus. Wir stehen mit sehr vielen Schulen in Verbindung. Und von diesen Schulen bekommen wir regelmäßig Informationen über die besten Schüler.«

Wieder nahm er einen großen Schluck von dem wärmenden Kaffee, der ihm ausgezeichnet bekam.

»Aber wieso gerade jetzt, wo er sich so kurz vor dem Ende der Mittelstufe befindet?«

»Wir beobachten die Schüler immer sehr genau und sind über ihre Entwicklung recht gut informiert. Dabei achten wir nicht nur auf die Noten. Es gibt noch viele andere Kriterien, die berücksichtigt werden und für den Zeitpunkt eines Wechsels wichtig sind. So glauben wir, dass jetzt der richtige Moment gekommen ist, seine Entwicklung besonders zu fördern. Justus hat ausgezeichnete Begabungen, die den meisten Menschen verborgen bleiben.

Sie rühren von seinem Großvater her, der auch bei uns seine Schulzeit verbracht hat. Wissen Sie das eigentlich? Auch er war hochbegabt, ganz wie Justus.«

»Das wusste ich nicht. Wir haben Justus immer für einen normalen Jungen gehalten. Und… was seinen Großvater betrifft… Früher passierten permanent solche verrückten Dinge… Unsere Mutter schimpfte dann, … wir Kinder machten uns keine weiteren Gedanken… Aber Justus…«

Herr Grummaritsch strich sich über seinen langen weißen Bart. »Genau diese Vorkommnisse geschahen durch ihren Vater. Nun haben wir auch bei Justus seit geraumer Zeit festgestellt, dass er ähnliche sehr gute Anlagen hat. Sie müssen nur richtig und fachmännisch ausgebildet werden. Viele berühmte Hochbegabte entstammen Ihrer Familie. Schließlich wollen wir doch nicht, dass die lange und alte Tradition Ihrer Familie abbricht. Und bei Justus ist es etwas Besonderes. Er besitzt die geniale Fähigkeit des Sehens, die schon sein Großvater besessen hat. Nicht nur deswegen wird er in unseren Kreisen überaus geschätzt.«

Die Augenbrauen des Besuchers hoben und senkten sich vielsagend, wobei die dunkelbraunen Augen eindringlich auf Frau Peyrikus gerichtet waren.

Justus‘ Mutter wusste gar nicht, wie sie die ganze Sache einschätzen sollte.

»Seine Lehrerin hat schon einmal mit uns über seine Begabungen gesprochen. Dass er aber so außergewöhnlich begabt sein soll… Und jetzt auf eine andere Schule.«

Frau Peyrikus wurde immer verzweifelter, denn der Schulwechsel schien unausweichlich zu sein.

»Wäre doch nur mein Mann schon zu Hause...«

Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, ging die Wohnungstür. Im nächsten Moment betrat ihr Mann die Küche.

Überrascht von der unbekannten Gestalt, die da mit seiner Frau in der Küche bei Kaffee und Kuchen saß, blickte er von einem zum anderen.

»Hallo, wir haben einen Gast?«, wandte er sich etwas verdutzt an seine Frau und stellte seine Arbeitstasche zur Seite.

Herr Grummaritsch erhob sich sofort von seinem Stuhl, um sich Herrn Peyrikus vorzustellen.

»Sie haben sicherlich auch schon den Brief der Schulbehörde gelesen, die ihnen einen Schulwechsel ihres Sohnes nahelegt«, wandte er sich an Justus’ Vater.

Herr Peyrikus nickte zustimmend, ließ sich auf einem freien Stuhl am Küchentisch nieder und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.

Herr Grummaritsch erklärte ihm in kurzen Zügen, warum der angedachte Schulwechsel empfehlenswert sei.

»Ich sagte schon ihrer verehrten Gattin, dass wir in Justus einen hochtalentierten Jungen sehen, der außergewöhnliche Fähigkeiten besitzt. Daher möchten wir zu einem Schulwechsel für Justus raten.« Er wiederholte noch einmal in kurzen Sätzen die Vorzüge des jetzigen Zeitpunktes und auch der Schule, auf die Justus ab dem nächsten Schuljahr gehen sollte. Auch die herausragenden Fähigkeiten benannte er nochmals.

»Und alle diese Bedingungen scheinen uns eine gute Voraussetzung, den Schulwechsel jetzt zu wagen.«

Eine steile Falte auf Herrn Peyrikus‘ Stirn ließ erahnen, dass er die Argumente sorgfältig abwog. Prüfend schaute er die bärtige Gestalt an, die seinen Sohn gerade in den höchsten Tönen lobte. Mit einem Blick auf seine Frau meinte er: »Wenn Sie der Überzeugung sind, dass dies der richtige Weg für Justus ist, dann wollen wir seiner Entwicklung nichts in den Weg legen.«

Frau Peyrikus war jedoch anzusehen, dass dieser Gedanke sie noch nicht wirklich glücklich stimmte. Jedenfalls betrachtete sie es im Moment als ein großes Unglück, dass Justus nur noch eine kurze Zeit bei ihr sein sollte.

Langsam stiegen ihr bei diesem Gedanken Tränen in die Augen, die dem Besucher nicht verborgen blieben.

»Es ist natürlich selbstverständlich möglich, dass sie beide Justus besuchen können. Gerne lasse ich ihnen die Adresse unserer Schule hier«, beeilte sich Herr Grummaritsch zu ergänzen.

»Der Name der Schule ist Greifenstein bei Drachenwinkel. Drachenwinkel, das ist ein kleines Dorf, das nicht weit von unserer Schule liegt. Hier auf der Karte haben Sie auch gleich die Telefonnummer, unter der Sie uns erreichen können.«

Dankbar nahm Frau Peyrikus die Karte entgegen, so als sei sie ein Verbindungsglied, durch das sie zukünftig mit ihrem Sohn Kontakt halten konnte. Wie ein Häufchen Elend saß sie da auf ihrem Küchenstuhl. Niedergedrückt zupfte sie immer wieder an ihrer Schürze herum und trocknete still ihre Tränen.

Wäre Justus in diesem Augenblick in seinem Zimmer gewesen, hätte ihn der Schlag getroffen. Aber er werkelte gerade mit den anderen angestrengt im Inneren der kleinen Hütte. Draußen hatten sich durch den heftigen Regen große Pfützen gebildet, und durch das Wasser war der Boden rundherum viel zu aufgeweicht, um dort arbeiten zu können.

Bei Pauline zu Hause spielte sich anschließend Ähnliches ab. Auch hier war ein Brief angekommen. Und nun folgte der Besuch von Herrn Grummaritsch bei Familie Ritter. Möglichst schonend wies er auf die Chance eines Schulwechsels hin, um Paulines Begabungen angemessen fördern zu können.

»Es ist schon ungewöhnlich, dass zwei Kinder aus nächster Nachbarschaft zugleich auf diese Schule berufen werden«, stellte Herr Grummaritsch fest. »Doch Pauline besitzt die seltene und außergewöhnliche Begabung der Telepathie.«

Frau Ritter war dieser Begriff völlig fremd. »Was sagen Sie da? Tele… wie?«

Schnell erklärte Herr Grummaritsch: »Das ist die Fähigkeit, die Gedanken anderer Personen lesen zu können. Und wir glauben, dass es unbedingt erforderlich ist, diese Begabung zu fördern.«

So hatte der Besuch bei Familie Ritter, vor allem bei Paulines Mutter, für große Verwirrung gesorgt.

Im Moment saß sie zusammen mit ihrer Tochter beim Frühstück. Pauline kaute an ihrem Marmeladenbrötchen und merkte, wie sich ihre Laune verschlechterte. Sie sah, wie ihre Mutter nachdenklich in der Kaffeetasse herumrührte. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn ihre Mutter eine solche Miene aufsetzte. Das verhieß nichts Gutes und das ließ sie missmutig werden.

»Was gibt’s? Warum so nachdenklich?«

»Wir haben vor ein paar Tagen einen seltsamen Brief bekommen. Du sollst die Schule wechseln.«

»Wieso das denn? Hat diese grässliche Maikel damit zu tun?«

»Nein, der Brief kam von der Schulbehörde mit einem Siegel auf der Rückseite. Sah hochoffiziell aus.«

Frau Ritter holte den Brief hervor und schob ihn ihrer Tochter zu.

Pauline betrachtete das zerbrochene Siegel auf der Rückseite und wunderte sich über die darauf abgebildete Burg. Sie zog den Brief hervor und las die merkwürdige Mitteilung, die den Besuch von Herrn Grummaritsch ankündigte, und den Hinweis auf den Schulwechsel. Ganz besonders, so stand da, wollte die Schule dazu beitragen, ihre Fähigkeiten und Talente bestens zu entfalten.

»Na toll, meine Fähigkeiten entfalten! Was für Fähigkeiten denn?« Aufmerksam las sie den Brief weiter.

Langsam ging ihr ein Licht auf. Ob die von der neuen Schule ihre Fähigkeit des Gedankenlesens meinten? Und wenn ja, woher wussten die davon? Äußerst merkwürdig das Ganze.

Okay, sie konnte die Gedanken anderer Menschen ohne große Mühe lesen. Aber das war mehr störend, als erfreulich. Diese angeborene Kraft hatte sie im Laufe ihres Lebens gelernt zu unterdrücken. Denn das ungehinderte Einströmen fremder Gedanken in ihren Geist konnte sehr belastend sein. Nachdenklich faltete sie den Brief wieder zusammen und legte ihn beiseite.

»War dieser Mensch, dieser, wie heißt er, Grummaritsch denn schon hier?«

»Vorgestern kam er und legte uns den Schulwechsel wärmstens ans Herz. Justus wird wohl auch auf die Schule gehen. So haben wir dann schließlich zugestimmt; wir wollen ja, dass du dich mit all deinen Fähigkeiten gut entwickeln kannst.«

»Dass Justus zusammen mit mir auf diese Schule kommt, ist doch toll. Dann kommen wir wenigstens von diesem schrecklichen Fräulein Maikel weg.«

»Macht es dir denn gar nichts aus, von euren Freunden getrennt zu werden?«

Pauline sah ihre Mutter etwas unsicher an. Das war natürlich die andere Seite der Medaille. Doch die Tatsache, dass Justus mit von der Partie war, machte den Gedanken an den anstehenden Wechsel erträglich.

»Aber wir können doch in den Ferien immer mit ihnen zusammenkommen«, nahm sie den Umstand einigermaßen gelassen hin.

Frau Ritter schaute sie skeptisch an, als könnte sie nicht recht glauben, was sie da hörte, denn Pauline hing sehr an ihrer Clique.

»Und dieser Herr Grummaritsch hat gesagt, dass uns demnächst ein Bus abholt?«

»Ja, schon übernächste Woche kommt der Bus und holt euch an der Schule ab.«