Justus Peyrikus

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6. Die Bibliothek

Ein Raunen ging durch die Gruppe, als sie den Eingang passierten. Was sie hier zu sehen bekamen, war phänomenal und sprengte alles, was sie bisher an Bibliotheken kennengelernt hatten. Ein unendlich weitläufiger Raum, dessen Wände sich in die Decke hineinwölbten, tat sich vor ihnen auf.

Faszinierende Bilder gab es an der Decke zu sehen, die alle, wie konnte es anders sein, Motive und Situationen aus der Welt der Bücher, des Lesens und Studierens zeigten.

Meisterhaft gedrechselte Bücherregale zogen sich entlang der Wände, und rundum im ganzen Raum befanden sich zahllose Regalreihen. Alle hatten eine zweite Ebene, die man über gusseiserne Treppen erreichen konnte.

»Seht euch nur die vielen Figuren an den Regalen an. Die sehen richtig echt aus.« Miriam war begeistert. »Die sehen aus, als wollten sie jeden Moment aus den Regalen herausspringen.«

Viele große Denker der ganzen Welt waren hier verewigt, aber auch Statuen, die skurrilen Phantasiegebilden glichen.

»Das ist ja hier wie in einem Wachsfigurenkabinett, nur aus Holz«, stellte Justus fest und fuhr sich nachdenklich übers Haar.

Er blieb vor einer der schrägen Gestalten stehen. Dieser Figur im Dunkeln zu begegnen, eine schauderhafte Vorstellung. Wo er auch hinsah, in der Bibliothek gab es unzählige davon. Alle sahen total lebensecht aus.

»Echt gruselig«, entfuhr es Martin, wobei er eher ungläubig als erschreckt in die Runde schaute. »Guck‘ dir den dort rechts an, was für ein schrecklich verzerrtes Gesicht.«

»Der hier sieht auch nicht viel besser aus.« Justus wies auf eine Gestalt mit struppigem Bart und unglaublich großen Augen.

Ein- oder zweiarmige Leuchter mit dicken Kerzen, die seitlich an den Regalen angebracht waren, erhellten den Lesesaal und tauchten ihn in ein warmes Licht. Glasschalen schützten die Flammen vor heftigem Windzug.

Neugierig gingen sie weiter. Im runden Zentrum der Bibliothek stand ein riesiger Schreibtisch, bedeckt mit Stapeln von Büchern und allerlei Schriften. Von hier aus liefen Regalgänge sternförmig auseinander.

An einigen Regalen standen unterschiedlich gestaltete Engel. Sie erweckten den Eindruck, als würden sie über die Literatur wachen.

Erik stutzte und starrte den Engel an, der dem Schreibtisch gegenüberstand und eine Uhr in seiner rechten Hand hielt.

»Seht euch die Uhr an! Die ist dreidimensional und dann ohne Zeiger.«

Martin schaute Erik über die Schulter. »Wow, sieht super aus, das Ding.«

»Scheint so, als wäre sie rund.«

»Aber das sind nur verschiedene Zahlenebenen«, stellte Martin bei näherem Hinsehen fest. »Schau, für jede Zahleneinheit eine Ebene. Irre!«

Auf jeder der drei Ebenen drehte sich immer die Zahl, die gerade die aktuelle Zeit anzeigte.

In der anderen Hand hielt der Engel einen Stock mit einem großen Kristall am oberen Ende. Sah aus wie ein Taktstock, der sich wie ein großes Metronom leise hin und herbewegte.

Die vielen neuen Eindrücke sorgten für ein zunehmendes Stimmengewirr. Madame Griseldis bemühte sich, die Unruhe zu dämpfen und die Aufmerksamkeit auf die Person hinter dem Schreibtisch zu lenken.

»Ich bitte alle einmal herzuhören. Ich möchte euch die Bibliothekarin, Madame Ruborrak vorstellen, die dafür zuständig ist, dass hier alles mit rechten Dingen abläuft.«

Zwei starr blickende, fast schwarze Augen richteten sich durch eine dick umrandete Brille auf die Schülerschar. Die starken Brillengläser ließen die Augen riesig erscheinen. Diese Bibliothekarin sah nicht gerade anziehend aus, und ihr Blick machte sie erst recht nicht vertrauenswürdig. Jeder von ihnen fühlte sich von ihr fixiert. Ihre Haare waren streng nach hinten gekämmt und in einem so genannten Dutt zusammengebunden.

Kurz, sie sah aus wie ein Habicht, der auf seine Beute lauert. Ihre Hände mit knallrot lackierten Fingernägeln glichen Krallen, die nur darauf warteten, jeden zu packen, der etwas Verbotenes anstellt.

»Madame Ruborrak, sind Sie doch bitte so freundlich und machen unsere neuen Schülerinnen und Schüler mit den wichtigsten Dingen der Bibliothek vertraut. Ich werde die Gruppe in etwa zwei Stunden wieder abholen, da ich mich noch um einige andere Dinge kümmern muss.« Sprach‘s und schon entschwand Madame Griseldis.

»Seht euch diesen Dutt an ihrem Hinterkopf an. Gestatten, Frau Dutt«, spöttelte Justus grinsend. Martin fing sofort an zu lachen.

»NUN HÖRT EINMAL GUT ZU«, kam es schrill mit einem gewissen Singsang aus dem Mund von Madame Ruborrak. Ihr Blick fixierte Martin streng, dem das Lachen im Halse stecken blieb. »Ich möchte mich nicht wiederholen müssen: Wenn ihr in die Bibliothek kommt, müsst ihr euch zuerst hier anmelden.« Mit ihrem spitzen, rotlackierten Zeigefinger tippte sie auf sich selbst, »BEI MIR!«

»Eine richtige Hexe«, flüsterte Pauline. Martin drehte sich um und ergänzte feixend: »Eine singende Hexe.« Prompt kam die Ermahnung. »Auch ihr dahinten in den hinteren Reihen könnt gerne eure Aufmerksamkeit hierher lenken. ICH WILL NICHT ALLES ZWEIMAL SAGEN MÜSSEN. AM BESTEN, IHR KOMMT GLEICH EINMAL NACH VORNE.« Sie winkte die Fünf zu sich, direkt vor ihr Pult.

»Dieser Raum hier, in dem ihr euch jetzt befindet, ist praktisch der Hauptstudierraum unserer ALT-EHR-WÜRDIGEN Bibliothek, der so genannte Lesesaal. In allen diesen Regalreihen«, ihr Finger deutete auf die Regale ringsum, »stehen unermesslich wertvolle Bücher.

Geht ihr die Regalreihen hinunter, dann stoßt ihr auf einen breiten Korridor. Er führt rundherum durch die Bibliothek.«

Martin musste an sich halten, um nicht loszuprusten, der Singsang in ihrer Stimme reizte ihn geradezu zum Lachen. Er drehte sich zu den Regalen, um sie nicht ansehen zu müssen. Zum Glück mussten sie diese Frau nicht jeden Tag ertragen.

»Dort an den Tischen«, fuhr die Oberaufseherin unbeirrt fort, »habt ihr ausreichend Platz für euer Studium. Die verschiedenen, bequemen Sitzgelegenheiten sind zum Lesen da, NICHT, UM SICH DARIN HERUMZULÜMMELN.« Ihre Krakenfinger gestikulierten bei dem Nachsatz gefährlich durch die Luft.

»Hinter der äußeren Wand des Saales gibt es noch weitere Räumlichkeiten. Um dorthin zu gelangen, braucht ihr eine magische Tafel, die mit einem magischen Stift bedient wird. Jeder und jede von euch bekommt von mir eine solche jetzt ausgehändigt, und jeder und jede hat sie dann stets bei sich zu tragen, wenn ihr in der Bibliothek seid.«

»Frau Jedermann«, flüsterte Justus grinsend.

»Was gibt es zu flüstern?« Madame Ruborrak durchbohrte ihn fast mit ihrem Blick. Ihr Gehör schien vortrefflich zu sein. »Ich bitte mir RUHE aus!« Ihre Worte knallten wie Peitschenhiebe.

»Mit anderen Worten, auf keinen Fall dürft ihr die Tafeln verlieren. Sie sind von mir mit einem magischen Singularitusspruch belegt.«

«Hä, was soll das nun schon wieder?«, entfuhr es Martin. Pikiert über diesen ungehörigen Zwischenruf musterte Madame Ruborrak ihn ausgiebig, als hätte er eine Todsünde begangen. Bedeutungsvoll fuhr sie fort: »Das heißt, sie können nur von dem- oder derjenigen benutzt werden, dem oder der die Tafel gehört.«

Sie kramte unter ihrem Schreibtisch und holte mehrere Kisten mit den Geräten hervor.

»So, ich werde euch nun eure Aufgaben zuteilen, die ihr heute zu lösen habt. Auf diese Weise sollte jeder und jede von euch die Bibliothek kennen lernen. Teilt euch hierfür in kleine Gruppen nicht größer als maximal fünf Schüler auf.«

»Nichts besser als das«, flüsterte Pauline, die zusammen mit den drei Jungs und Miriam eine Gruppe bilden wollte. Weiter hinten standen Edelmund und Ottokar. Sie hielten sich von Madame Ruborrak auffallend fern. Ihre Lust, mit anderen eine Gruppe zu bilden, ging wohl gegen Null.

»Die Aufgaben für euch«, fuhr Madame Ruborrak fort, »liegen hier vorne bei mir auf dem Pult. Sie haben alle mit eurer Klasse zu tun.«

Ihren Worten ließ sie einen argwöhnischen Blick folgen. Die Betreuung der Schüler schien ihr eine unwillkommene Last in ihrem Bibliotheksalltag.

»Und noch eins«, setzte sie hinzu, »für eure Aufgaben stehen euch alle Bücher zur Verfügung. Die Gruppe, die zuerst ihre Aufgabe gelöst hat, bekommt ein Plus auf die Gesamtnote.«

Die Schüler drängelten ans Pult, um an die begehrten Tafeln und dazu die Aufgaben zu bekommen. Edelmund und Ottokar schubsten besonders heftig. »Schaut euch die beiden an«, flüsterte Justus. »Wollen sicher Eindruck schinden.«

Justus und seine Freunde sollten die Bedeutung des Namens Metatron herauszufinden. Schnell zogen sie durch einen der vielen Regalgänge davon, nur weg von dieser Vogelscheuche. An einem der Schreibtische ließen sie sich nieder. Überall standen grazile Leselampen an den Sitzplätzen. Vereinzelt gab es tiefe Ledersessel, die dazu einluden, es sich so richtig bequem zu machen und zu schmökern. Überhaupt ließ die Bibliothek an Bequemlichkeiten nichts zu wünschen übrig.

Martin schaute sich interessiert seine magische Tafel an. »Die sehen ja echt super aus. Ob sie auch soviel können wie sie äußerlich hermachen?« Mit seinen Fingern probierte er darauf herum. Sofort reagierte sie und zeigte umgehend komische Informationen an.

»O Gott, sind die irre«, staunte Justus über dieses technische Wunderwerk und tippte auf seiner eigenen herum.

»Aber wofür braucht man dann noch einen Stick, wenn man alles mit dem Finger eingeben kann?«, wunderte sich Erik. »Ist doch völlig unnötig.«

»Vielleicht für die, die zwei linke Hände haben«, feixte Martin. »Für Leute mit übermäßiger Grobmotorik und dazu noch mit Wurstfingern.« Alle lachten.

Er nahm den Stift zur Hand und versuchte es mit einer Eingabe. Die Tafel reagierte sofort und setzte sein Gekrakel umgehend in Zeichen um. Dabei kam allerdings ein ziemliches Wirrwarr heraus. Pauline, die ihm über die Schulter lugte, konnte nur krauses Zeug ausmachen.

 

»Ich würde es mal mit richtiger Schrift versuchen.«

»Haha, immer alles besser wissen. Typisch Weiber.«

Martin schnitt eine Grimasse, folgte aber Paulines Hinweis und schrieb einen ganzen Satz. Sogleich stand er fein säuberlich in Druckbuchstaben auf der Oberfläche.

»Wow, genial!«

Mit breitem Grinsen zeigte er stolz das Ergebnis herum.

»Wir sollten uns jetzt erstmal nach hilfreichen Büchern umsehen«, schlug Justus vor, »sonst kommen wir nie zu Potte.«

Zustimmend wendete sich Pauline den Regalen zu und inspizierte die uralten Werke, die sie dort vorfand.

»Schaut euch bloß diese alten Schinken an«, staunte Martin.

»Welche Geheimnisse sich wohl in diesen Büchern verbergen mögen?«, sinnierte Miriam, während sie mit dem Zeigefinger versonnen über die Buchrücken glitt. Sie hatte schon immer eine Hochachtung gegenüber alten Schriften empfunden.

Eng schmiegten sich die Bücher, große und kleine, dicke und dünne, in langen Reihen aneinander. Die meisten, in kostbares Leder eingebunden, sahen sehr abgegriffen aus. Sicherlich hatten sie schon unzähligen Schülern gute Diensten geleistet.

»Aber wie sollen wir hier die richtigen Bücher finden?«, fragte Martin, der sich ein paar Meter weiter niedergelassen hatte und auf die Regale starrte. Er erweckte den Eindruck, als versuche er durch bloßes Anstarren der Bücher die gestellte Aufgabe zu lösen.

»Es wird doch unter all den Büchern auch ein Lexikon existieren«, mutmaßte Justus. »Vielleicht gibt es hier ja ein bestimmtes Regal, wo solche Lexika gesammelt stehen?«

Er hatte einmal seine ältere Schwester zu Hause in eine Bibliothek begleitet, wo verschiedenste Wörterbücher an einem Ort zusammenstanden.

Miriam war in einem anderen Gang verschwunden und hoffte, ein passendes Lexikon über Metatron zu finden. Doch die Fülle der Bücher machte die Suche nicht einfach.

Erik hatte etwas mehr Glück. In einem anderen Regal entdeckte er mehr zufällig einige Lexikonbände, die Abhilfe versprachen. Er schleppte sie an den Tisch, wo Martin gerade die Bequemlichkeit der Sitzgelegenheit testete. Erik blätterte einen Band nach dem anderen durch, um der Lösung der gestellten Aufgabe ein Stück näher zu kommen.

»Schaut, was ich gefunden habe«, triumphierte Pauline. Ihre Stimme klang durch die Akustik so laut, dass sie erschrocken innehielt.

»Sollen wir nicht mal alle Schätze, die wir gefunden haben, an einen der Tische zusammentragen? Ich denke, das ist besser zum Arbeiten«, schlug Justus vor, der in einem gemütlichen Sessel in einem großen Quartband blätterte.

Rasch luden sie alles auf einen Schreibtisch und teilten die Bücher untereinander auf. Pauline ging den Band «M« einer Enzyklopädie durch, die sie mehr durch Zufall gefunden hatte. Die Enzyklopädie zählte so viele Bände wie es Buchstaben im Alphabet gab. Ihre Forschungen wurde erschwert durch die alten Schrifttypen, in denen der Text geschrieben war.

«M...Ma...Mal...«, murmelte Pauline und blätterte Seite für Seite um. »Mar...Me...Men...Met...Metatron«, stieß sie plötzlich hervor. Endlich hatten sie einen ersten Hinweis.

»Gar nicht so einfach bei der alten verschnörkelten Schrift«, lobte Erik anerkennend.

«Was hast du denn entdeckt?« Justus’ Neugierde war geweckt.

»Metatron, Engel, gehört zur oberen Kategorie der Engelwelt«, Pauline schaute die anderen an. »Mehr steht da nicht!«

»Das Ganze muss ja was mit Engeln zu tun haben, wo hier so viele davon herumstehen«, meinte Martin respektlos. Dabei schaute er verstohlen zu einem Engel in der Nähe, der, als hätte er darauf gewartet, seinen Blick prompt erwiderte. »Da schau mal«, Martin stieß Justus in die Seite. »Der Engel sieht mich an, als hätte er mich gehört...« Justus blickte sich um, und der Engel schaute ihn ebenfalls an.

Schnell wandte er sich wieder ab. »Einfach nicht hingucken«, flüsterte er Martin zu und widmete sich wieder ganz der gestellten Aufgabe. Aber wie sollten sie weitersuchen?

Die Information, die Pauline vorgelesen hatte, machte sie ratlos. »Und wie geht’s nun weiter?« Justus blickte Miriam fragend an. Die Lösung der Aufgabe war schwerer als erwartet.

»Seht mal da, ein Pfeil!« Martin zeigte erstaunt auf die Buchseite, wo mitten im Text ein kleiner Pfeil rot blinkte.

»Was bedeutet das? Wieso kann in so einem Buch irgendwas blinken?«, fragte Pauline verdutzt und schaute sich den Hinweis im Buch näher an.

Irritiert inspizierten sie die Seite mit dem blinkenden Pfeil. Wo kam das plötzliche Blinken her? Wie war das nur möglich? Keiner von ihnen hatte jemals so etwas Verrücktes gesehen.

»Gib mal her!« Justus hob den schweren in Leder gebundenen Band hoch und stiefelte mutig den Gang entlang auf den Schreibtisch der aufsichtführenden Vogelscheuche zu.

»Ähm, äh, Frau Rukola«, hörten sie ihn stottern.

»Ruborrak! RU-BOR-RAK!«, zischte es laut und deutlich aus Madame Ruborraks Mund. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn man mit ihrem Namen Schindluder trieb und konnte ihre Stimme nur schwer im Zaum halten.

»Entschuldigen Sie, bitte, Madame Ruborrak«, war Justus bemüht, einige Punkte gut zu machen, indem er den Namen besonders deutlich aussprach. »Können Sie mir erklären, was das Blinken hier im Buch bedeuten könnte?«

»Versuch es herauszufinden«, war die knappe Antwort.

»Aber...«

»Nichts aber. Wer suchet, der findet.«

Das war nun weder besonders freundlich noch hilfreich. Also zog er wieder ab, zurück zu seinen Freunden.

»Eine große Hilfe ist diese Frau Rukola auch nicht gerade«, flüsterte er. Dabei warf er einen Blick zurück und sah, wie sie ihn mit ihren Habichtsaugen verfolgte. Zum Glück hatte sie seine wiederholte Namensverunstaltung nicht gehört.

»Was machen wir nun?« Martin schaute etwas hilflos aus der Wäsche. »Sollen wir vielleicht noch ein paar andere Bücher durchblättern?«

»Aber«, überlegte Erik laut, »kann das Lexikon vielleicht nicht auch ein magisches Buch sein?«

Seine Freunde sahen ihn verständnislos an.

»Ja, überlegt doch mal, was wir hier schon alles über magische Dinge gehört haben. Dann könnte das doch gut möglich sein.«

»Wir sollten diese magischen Dinger zu Hilfe nehmen. Vielleicht kommen wir damit ein bisschen schneller voran«, pflichtete ihm Miriam bei.

»Gute Idee! Aber Vorsicht, die anderen müssen ja nicht unbedingt mitbekommen, wie wir vorgehen«, wandte Pauline ein und schaute sich vorsichtig um, während sie nach ihrer Tafel griff. Sie wollte unbedingt zuerst fertig werden. Ein paar Tische weiter sah sie nämlich die beiden Mitschüler Edelmund und Ottokar, die recht ratlos in dicken Wälzern blätterten.

In diesem Moment klang ein lauter Ruf durch den Lesesaal. Er kam vom Ende des Saales, das dem Eingang gegenüber lag. Dort befand sich eine halbrunde Ausbuchtung in der Regalwand, davor ein großer, gebieterisch blickender Engel, der eine Hand wie ein Stoppschild erhoben hielt.

Die Schüler schauten verdutzt auf das Schauspiel, das sich dort bot. Das Halbrund hatte sich lautlos in zwei Teile geteilt und den Blick auf eine Wendeltreppe freigegeben.

»WER WAR DAS?«, gellte es schrill durch den Saal. Die habichtnäsige Oberaufseherin blickte wild umher. »WER VON EUCH HAT DIE TÜR GEÖFFNET?«

Justus schaute erwartungsvoll auf die geschwungene Treppe und die Aufseherin. Madame Ruborrak starrte auf eine kleine Gruppe von Schülern, die einigermaßen verdutzt in der Nähe der Treppe standen und ihre magischen Tafeln beäugten.

Seitlich der Wendeltreppe sah Justus, wie sich ihre beiden speziellen Freunde dem Geschehen näherten. Sie hatten ihre Bücher einfach liegen gelassen und bewegten sich nun auf die offene Treppe zu.

Madame Ruborraks Aufmerksamkeit konzentrierte sich voll auf die Schülergruppe, und so bemerkte sie nicht, wie Edelmund und Ottokar sich die Wendeltreppe hinauf davonstahlen.

Ganz offensichtlich war die Tür unabsichtlich geöffnet worden. Daher gab Madame Ruborrak bald wieder Ruhe und schloss die Wendeltreppentür einfach wieder. Edelmund und Ottokar saßen fest.

»Habt ihr gesehen, dass die beiden Superhelden die Treppe da hinauf sind?«, fragte Justus die anderen. »Wo mögen sie jetzt hin sein?«

»Die verlaufen sich jetzt in der oberen Etage«, antwortete Pauline und grinste spitzbübisch. »Aber das soll uns nicht hindern, hier weiterzumachen. Also los, voran«, spornte sie die anderen an.

Martin hielt seine Magictafel in der Hand und hatte „Metatron“ darauf geschrieben. »Seht mal hier. Das ist seltsam.«

Auf der Oberfläche der Tafel waren eine Reihe von Namen, unter anderem Städtenamen und Jahreszahlen und dazu erklärende Sätze aufgetaucht.

»Lass mich mal sehen«. Justus schaute sich die Angaben genauer an und stellte eine gewisse Regelmäßigkeit in den Aussagen auf der Tafel fest.

»Das sieht wie Angaben über Bücher aus. Seht, es ist immer zuerst ein Name, dann kurze Beschreibungen, das könnten Titel von Büchern sein mit den Städtenamen und Jahreszahlen, die dazugehörigen.«

In kurzen Pausen änderten sich die Texte und machten neuen Informationen Platz.

»Aber seht mal. Da steht immer noch was dahinter.« Pauline wies auf eine Kombination von Buchstaben und Zahlen. »Da steht IV EE 918.«

»Was soll das denn nun schon wieder?« Martin konnte sich keinen Reim auf die Informationen machen.

»Versuch’ das mal anzuhalten. Sonst kriegen wir nie heraus, was gemeint ist.«

Martin tippte kurz auf die Oberfläche, und schon wurden die Angaben fixiert.

Erik, der bei seinem Rundgang entlang der Regale ähnliche Bezeichnungen an den Büchern gesehen hatte, begriff schnell. »Damit können nur Signaturen für Bücher gemeint zu sein. Schaut hier, alle Bücher haben solche Kennzeichnungen.« Dabei drehte er das Buch um und wies auf den unteren Rand des Buchrückens. »Hier steht sowas Ähnliches. Groß I und dann L 22.«

»Aber wo finden wir unter dem Wust von Büchern die richtige Signatur?« Justus blickte sich etwas hilflos um. Die Bücher in ihrer Nähe hatten alle möglichen Signaturen, nur nicht die auf der magischen Tafel.

»Vielleicht gibt es ja noch einen anderen Raum«, gab Pauline zu bedenken. »Nur wo ist der Eingang?«

Miriam beobachtete ihre Mitschüler, wie sie suchend die Regale entlang gingen. »Seht mal, die anderen klappern auch die ganzen Regalreihen ab! Einige gehen da die Wendeltreppe an der Regalwand zum oberen Bereich hinauf. Vielleicht sollten wir da auch mal suchen?«

»Quatsch, wenn es einen Durchgang gibt, dann muss der Parterre sein und nicht da im Obergeschoss.« Justus nahm die Regale näher in Augenschein. Inzwischen war ein reichliches Gewusel in der Bibliothekshalle entstanden.

Erik saß währenddessen an einem Tisch und grübelte über die verschiedenen Angaben, die seine Tafel anzeigte. Plötzlich änderte sich das Bild und die Gänge der Bibliothek wurden angezeigt. Ein kleiner orangefarbener Pfeil blinkte und wies auf ein Regal an der Außenwand.

»Nun schaut euch das an«, machte er seine Freunde auf dieses blinkende Etwas aufmerksam. »Verrückt. Das ist ein Ausschnitt von diesem Raum hier. Dabei habe ich gar nichts gemacht. Der Pfeil weist auf die äußere Regalwand.«

Justus glaubte eine Erklärung zu haben. »Vielleicht ist das ein Hinweis auf den Standort des Buches, und es gibt da eine verborgene Tür. Das muss ganz in der Nähe sein.«

Schon stand er auf und ging in die Richtung. Seine Freunde legten die Bücher zusammen und folgten ihm. Vorsichtig suchend schritten sie die Regale ab.

Plötzlich hörte Erik ein leises Schaben unmittelbar hinter sich. Ein Teil des Regals, gerade mal so groß wie eine Tür, war zur Seite geschwungen. Miriam, die direkt daneben stand, wäre fast von der Tür getroffen worden.

Erik wies auf den Durchgang. »Leute, das ist die Stelle. Kommt schnell hinein, ehe die Tür wieder verschwindet.«

Blitzschnell huschten die fünf durch die Tür, die sich im nächsten Augenblick wieder schloss.

Totenstille umfing sie. Vollkommen allein standen sie in einem engen Gang, viel enger als in der Halle. Zu beiden Seiten Regale, vollgestopft mit Büchern aller Größen.

»Wow!« Martin nahm es fast den Atem, so hatte ihn die Aktion überrascht. »Wo sind wir gelandet?«

 

»Das kann nur eine weitere Abteilung sein, die zur Bibliothek gehört«, war sich Erik sicher.

»Aber wie ist das passiert, dass dieses Regal sich öffnet?« Justus kam das alles nicht geheuer vor.

»Ich weiß auch nicht. Ich habe auf meiner Tafel nur den Namen, den Pauline gefunden hat, mit den Buchstaben und Zahlen der Signatur kombiniert, und auf einmal geht hinter mir diese Tür auf«, antwortete Erik. Seine Stimme wurde vor Erregung immer lauter, was bei ihm höchst selten vorkam.

»Aber hier ist gar keine Tür.« Justus schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Von einer Tür ist weit und breit nichts zu sehen.« Hinter ihnen nur Bücher in und vor den Regalen, und vor ihnen tat sich ein langer Gang auf.

»Wollen wir nicht mal sehen, wohin uns der Gang führt?« Pauline versuchte, ihre Beklemmung zu überspielen.

Der Gang beschrieb eine Kurve und verschwand nach einigen Metern nach rechts. Die Enge zwischen den Regalen und die Stille waren bedrückend. Das einzige Mittel, der Beklemmung zu widerstehen, war loszugehen, um zu sehen, wohin sie der Weg führte.

Justus ging mutig voran, war aber insgeheim froh, nicht alleine hier durchgehen zu müssen. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt und hätte versucht, zurück in die große Halle zu gelangen. Aber dieser ominöse Pfeil hatte sie ja hierher geführt. Also musste es seine Richtigkeit haben, dass sie jetzt hier waren. Wenn nur nicht diese bedrückende Stille gewesen wäre!

Erik fühlte sich von den vielen großen Quartbänden, wie sie vor vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten gedruckt und gebunden worden waren, in den Bann gezogen. Das war eine riesige Fundgrube, die ihn alles andere vergessen ließ. »Seht euch mal die Bücher an, die sind ja noch älter als die in der Eingangshalle.«

Justus versuchte dagegen sein Unbehagen etwas in den Griff zu bekommen, indem er sich auf die gestellte Aufgabe konzentrierte.

»Vergesst nicht, weshalb wir hier sind. Wir suchen immer noch dieses Buch.« Und zu Erik gewandt sagte er: »Zeig doch noch mal, was auf deiner Tafel steht«.

Neugierig schauten sie auf das magische Ding. Mit großer Verwunderung stellten sie fest, wie die Kombination aus Name, Zahlen und Buchstaben in orangefarbenem Licht leuchtete und dabei pulsierte.

»Sieht irre aus«, staunte Martin und konnte kaum fassen, wozu das Teil alles imstande war.

»Kommt, lasst uns weitergehen. Irgendwie müssen wir doch ans Ziel kommen. Ich finde es hier nur unheimlich.«

Pauline zog Justus hinter sich her den Gang entlang. Sie konnten gerade mal zu zweit nebeneinander gehen. Sie blieben dicht beieinander, um sich nicht zu verlieren. Erik sah immer wieder auf seine Tafel, auf der die Schrift langsam aber sicher eine Rotfärbung bekam.

Plötzlich bog der Gang scharf nach links ab. Wer hier allein durchgehen musste, würde sich mit Sicherheit wie in einem Irrgarten fühlen.

»Ich habe die ganze Zeit das ungute Gefühl beobachtet zu werden«, flüsterte Pauline, als befürchtete sie, dass man sie belauschte.

»Jedenfalls ist das hier alles ziemlich seltsam. Mir ist richtig mulmig zumute«, gestand Miriam. Aber das hing wohl damit zusammen, dass ihnen die Räumlichkeiten noch nicht so vertraut waren.

»Hoffentlich treffen wir nicht zu allem Überfluss Schmalzlocke und Rotfuchs«, überlegte Pauline laut. »Nicht, dass die uns unbemerkt zu nahe kommen und uns hören.«

»Aber wie sollten sie das«, widersprach Justus, »die sind doch nach oben gegangen.«

Unvermittelt erblickten sie eine Weggabelung, die sich wie aus heiterem Himmel vor ihnen auftat.

»Und was jetzt?«, fragte Martin ratlos und sah in den Gesichtern der anderen auch nur Ahnungslosigkeit.

Erik schaute auf seine magische Tafel und beobachtete, wie sie etwas berechnete, woraus er nicht schlau wurde. Doch dann zeigte sich ein Ergebnis.

»Hey, seht mal,« stieß er hervor. »Die Tafel hat unseren Standort lokalisiert. Super! Ist schon ein tolles Ding.« Anerkennung schwang in seiner Stimme. »Kommt, ich glaube, hier geht‘s lang«, dabei wies er nach links. »Die Tafel weist uns an, in diesen Gang dort zu gehen.«

»Dann los! Mir ist das zwar alles nicht ganz geheuer, aber die Lehrer werden uns ja keinen Monstern ausliefern«, versuchte Pauline sich und die anderen zu beruhigen.

Miriam musste trotz der mulmigen Situation lachen. Sie stellte sich in ihrer Phantasie ein weißes Gespenst mit einer rasselnden Kette vor. Dass die Äußerung über die Monster gar nicht so abwegig war, sollten sie bald hautnah erfahren.

Jetzt schlichen sie den Gang entlang, gespannt, was als Nächstes kommen würde. Die Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Denn schon standen sie vor einer Kreuzung, an der vier Wege praktisch sternförmig auseinander führten.

»Also langsam finde ich das alles gar nicht mehr lustig«, seufzte Justus niedergeschlagen. Er war richtig frustriert und auch ängstlich. Miriam ließ sich nicht lange aufhalten und versuchte es mit dem Gang, der ganz links von ihnen lag. Sie ging einfach ein paar Schritte weiter hinein in der Hoffnung, auf einen Hinweis zu stoßen. Aber es gab nichts als Bücher zu sehen.

»Ich bin für ganz rechts«, schlug Erik vor. Er ging mit seiner Tafel von links nach rechts. »Wenn ich hier zur rechten Seite gehe, dann wird die Farbe der Schrift auf meiner Tafel intensiver rot und auf der linken Seite geht sie mehr ins Gelb und wird schwächer.«

Also ging es nach rechts. Nach wenigen Schritten tat sich vor ihnen, wie aus dem Nichts, ein Raum auf. Natürlich auch hier nur Bücher, wie konnte es auch anders sein.

An einigen Stellen standen bequem aussehende Sessel vor den Regalen, in denen sich sicher hervorragend schmökern ließ.

Pauline staunte nicht schlecht. Solch einen Luxus hätte sie sich zu Hause auch gewünscht.

Zögerlich schauten sie sich um, und Martin testete direkt einmal einen der Sessel. Er ließ sich hineinplumpsen und gleich umhüllte ihn eine gehörige Staubwolke. Hustend war er so schnell aus dem Sessel heraus, wie er sich hatte hineinfallen lassen.

»Scheint, dass du seit langer Zeit der Erste bist, der dort Platz nimmt«, lachte Justus und musste ebenfalls husten.

»Seht mal, da ist noch ein Gang, der hierher führt«, stellte Pauline fest.

Tatsächlich mündete auf der anderen Seite ein weiterer Gang in diesen beschaulichen Leseraum. Beide Gänge waren so angelegt, dass Regalwände den Zugang verdeckten.

Plötzlich hörten sie ein Säuseln, als führe ein leichter Wind durch den Raum.

Justus drehte sich zur Seite, um das Geräusch zu erkennen, da ließ er einen Schrei los. »Was ist das?« Miriam zuckte zusammen. Als sie in dieselbe Richtung sah, fuhr ihr ein mächtiger Schreck in die Glieder.

In einem der Sessel sahen sie ein waberndes, milchig-weißes Etwas, das auf dem Sessel eher zu schweben als zu sitzen schien.

Große Augen blickten ihnen aus einem steinalten Gesicht entgegen. Sie betrachteten die kleine Schülergruppe höchst interessiert und amüsiert. Aus dem Gesicht quoll ein langer Bart hervor, der genauso lang war wie die ganze Erscheinung. An mehreren Stellen besaß er dicke Knoten. Sie dienten wohl dazu, die Länge des Bartes in Schach zu halten. Auf dem Kopf des gespenstischen Ungetüms saß ein riesiger Schlapphut, ähnlich den Hüten der Lehrer. Jedoch waren darauf statt schöner Pfauenfedern mehrere Stummel verblichener Federn zu sehen, Überreste einer längst vergangenen Pracht. Der Rand des Hutes war jämmerlich ausgefranst. Eine lichte weißliche Aura umwaberte das Gespenst oder besser den Geist.

»Darf ich mich vorstellen«, klang es vom Sessel her, »Edolfin mein Name, „Edolfin von Ewigkeit her“. So hat man mich jedenfalls in diesem Schloss getauft, nur, weil ich, seit ich denken kann - und das ist seit ewig langer Zeit - hier herumspuken muss.« Ein tiefer Seufzer folgte seiner Ausführung.

»Du kriegst die Tür nicht zu«, ließ sich Martin nach einem Moment des Schreckens vernehmen. »Ein Geist, ein richtiges Schlossgespenst und das am helllichten Tag.«