Nachtdenken

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Blanchots il y a

Nun ist die Frage zu stellen, ob das so exponierte il y a zu Beginn des Paratextes der zweiten Version von TO2 ein il y a sein könnte, wie Levinas es denkt oder, falls nicht, was die Differenz zu ihm darstellt. Zur Erinnerung sei hier noch einmal der erste Satz wiederholt: „Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles.“

Durch den mit Kommata abgetrennten Einschub „pour tout ouvrage“ wird das „il y a“ separiert, hervorgehoben und als Auftakt an den Anfang gesetzt. Wenn es diesen Einschub als Einschnitt nicht gäbe, würde man weder das il y a vor dem Einschnitt, noch die Mannigfaltigkeiten danach derart deutlich wahrnehmen. Ließe man den Einschub weg, käme der ontologische Charakter dieses Satzes deutlicher heraus. „Il y a […] une infinité de variantes possibles.“ Die Möglichkeitsdimension zeigt sich hier tautologisch mehrfach potenziert durch die „Unendlichkeit der möglichen Varianten“, die den nachfolgenden Text von TO2 als Gesagtes aus dem Hintergrund des Ungesagten hervortreten lassen. Bevor der Leser den Text liest, wird er darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht nur für dieses, sondern für jedes Werk eine unbegrenzte Möglichkeit an Varianten oder Fassungen gibt, dass das, was er im Folgenden lesen wird, vergänglich, ersetzbar oder nur ein Glied in einer endlosen Kette ist. Auch bedeutet dies mit Blick auf Levinas möglicherweise, dass die jeweilige vorliegende Fassung immer in Beziehung steht zu anderen Fassungen, wodurch die aktuelle sich selbst in ihrer Souveränität in gewisser Form absetzt, indem sie über sich hinausweist auf eine ganz konkrete, bereits existierende andere Fassung. Und schließlich kann die Potentialität alternativer Versionen als Verweis auf die Kürzungen des ersten Textes gelesen werden, die auch Figuren das Leben gekostet hat, welche nun, wie die Selbstmörderin Irène, aus TO1 in TO2 verschwunden sind. Im systemtheoretischen wie auch phänomenologischen Sinne gedacht, bedeutet jede Aktualisierung Selektion, d.h. ein anders gewichtetes Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem. Jedes Werk ist eine von unendlich vielen Möglichkeiten. Es unterbricht für den Augenblick des gelesen Werdens den Strom des Möglichen und aktualisiert sich hypostatisch als ein durch Kommata eingefügter Einschub, um dann wieder im Strom des il y a unterzutauchen.

Für Blanchot ist insbesondere die Literatur der angemessene Ausdruck des il y a, während es für Levinas vornehmlich der philosophische Diskurs ist. Levinas denkt das il y a von der Philosophie zu Blanchot und zur Literatur, während Blanchot in Thomas l’Obscur den entgegen gesetzten Weg beschreitet, indem er das il y a untrennbar mit dem Imaginären verknüpft denkt. Der Effekt des Imaginären ist nicht zuletzt seine ständige Verschiebung zwischen Denkfiguren des Unfassbaren. Blanchot schreibt die von Levinas an Heideggers es gibt kritisierte Fülle um, indem er sie durch Mannigfaltigkeiten ersetzt und damit gerade nicht das von der Aktualisierung aus gedachte Vielfältige meint, sondern das Virtuelle.1

Der Satz „Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles“ virtualisiert die Aktualität der Fülle des es gibt Heideggers. Am Anfang von TO2 steht folglich eine fiktionale Setzung und keine propositionale Aussage, wodurch der literarische Raum als Erfahrungsraum geöffnet wird. Alle Aussagen, die im Raum des Imaginären von Thomas l’Obscur getätigt werden, ereignen sich unter der Bedingung eines ‚als ob‘, das somit keine Sicherheit, sondern nur eine äußerst kurzfristige Vorläufigkeit von Zuordnungen erlaubt.2

1.2 Durchkreuzte Initiation

Mit dem Begriff der durchkreuzten Initiation soll eine Initiationserfahrung evoziert werden, die an mehrfache Transgressionen gekoppelt ist und die durch eine Todeserfahrung durchkreuzt wird. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist dabei keine enge Definition von Initiation, verstanden als rituell begleitete Einführung eines Menschen in eine besondere Gemeinschaft oder einen anderen Bewusstseinszustand, wohl aber spiele ich mit einigen Dimensionen, die Initiationen zugeschrieben werden. Die nun folgenden Überlegungen leiten die Vorstellung von Initiation als Anfang und als Einführung bzw. Überführung her. Bei einer Initiation wird der Initiand durch Riten begleitet in einen höheren Seins-, bzw. Bewusstseinszustand geführt. So heißt es bei Mircea Eliade:

Im allgemeinen versteht man unter Initiation eine Gesamtheit von Riten und mündlichen Unterweisungen, die die grundlegende Änderung des religiösen und gesellschaftlichen Status des Einzuweihenden zum Ziel haben. Philosophisch gesagt entspricht die Initiation einer ontologischen Veränderung der existentiellen Ordnung. Am Ende seiner Prüfungen erfreut sich der Neophyt einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation: er ist ein anderer geworden.1

Viele Initiationen sind mit einem Abstieg und einem daran anschließenden Aufstieg verbunden. Darüber hinaus verweist Mircea Eliade auf den „Initiationstod“, der insbesondere in archaischen Kulturen ein symbolisches Sterben der alten Identität zu Gunsten der Geburt einer neuen Identität bedeutet.2 Auch Thomas wird sich im 1. Kapitel von Thomas l’Obscur und der darin geschilderten Initiationserfahrung dem Tod nähern, jedoch ohne eine entsprechende rituelle Strukturiertheit, wodurch die Initiation für Thomas zu einer existentiellen Erfahrung der Einsamkeit auf der Grenze zum Tod wird.

Nimmt man den Textanfang ganz grundsätzlich als Anfang ernst, so sind die ersten Worte eines Textes als initiale Worte eine Initiation. Der Beginn des Textes führt den Leser sanft, brutal, langsam oder auch plötzlich in das Geschehen ein. Im Falle von Thomas l’Obscur ist es darüber hinaus, zumindest in der Fassung von 1941, der erste Roman des Autors und auf diese Weise ein Eintritt in das gesamte romaneske Werk, der durch die ersten Worte eröffnet wird. Thomas l’Obscur steht somit am Anfang von Blanchots literarischem Schaffen und kann auf einer rezeptionsästhetischen Ebene als Initiation in das Werk Blanchots gelten.3 Dies tut er jedoch nicht nur hinsichtlich der Publikationschronologie, sondern auch bezüglich der in ihm paradigmatisch entfalteten und im Gesamtwerk rezidivierenden Gedankenfiguren. Im 1. Kapitel findet zudem auf inhaltlicher Ebene die Darstellung eines dreistufigen Initiationsprozesses4 statt, der sich aus folgenden drei prägnanten topologischen Übergängen5 zusammensetzt:

1 Ufer: Blick aufs Meer (Kontemplation I)

2 Übertritt ins Meer (Kampf und Ankunft im „lieu sacré“)

3 Rückkehr zum Ufer: Blick aufs Meer (Kontemplation II)

Diese kapitelimmanente Initiationsstruktur wird auf der makrokosmischen Ebene des Gesamttextes in Gestalt einer differentiellen Wiederholungsstruktur paradigmatisiert. Damit wird die Initiation als singuläres Ereignis unterminiert, weshalb ich von einer durchkreuzten Initiation sprechen möchte. Thomas wird in den anderen elf Kapiteln von TO2 noch viele weitere initiationsartige Prozesse durchlaufen, wodurch die mit einer rituellen Initiation verbundene Illusion der Erreichbarkeit eines höchsten Zustandes oder eines Ankommens in einem höheren Bewusstsein durch die unabgeschlossene Serialität torpediert wird.6

Incipit

Der erste Satz des Binnentextes (in Abgrenzung zum Paratext) lautet in beiden Fassungen: „Thomas s’assit et regarda la mer.“ Jean Starobinski verweist in seinem 1966 erschienenen Artikel „Thomas l’Obscur. Chapitre premier“ auf die vermeintliche Einfachheit dieses Satzes, aber auch auf die damit verbundene Unbestimmtheit.1 Einerseits scheint sich der Anfang mit der Beschreibung eines Mannes namens Thomas, der sich hinsetzt und das Meer betrachtet, umstandslos zu anderen Anfängen von récits zu gesellen, andererseits wird die Figur Thomas nicht näher im Hinblick auf ihre Herkunft, bestimmte Merkmale oder andere Hintergründe charakterisiert. Dies wird auch im weiteren Verlauf von TO2 nicht geschehen. In Thomas wird erzählerisch keine Tiefenschärfe gelegt. Er existiert nur im Rahmen der sprachlichen Äußerungen, die ihn, wie hier im 1. Kapitel, ins Zentrum setzen. Der Text fährt nach dem ersten Satz wie folgt fort:

Pendant quelque temps il resta immobile, comme s’il était venu là pour suivre les mouvements des autres nageurs et, bien que la brume l’empêchât de voir très loin, il demeura, avec obstination, les yeux fixés sur ces corps qui flottaient difficilement. Puis une vague plus forte l’ayant touché, il descendit à son tour sur la pente de sable et glissa au milieu des remous qui le submergèrent aussitôt.2

Mehrere wichtige syntaktische wie motivische Strukturen sind in diesem kurzen Abschnitt bereits enthalten. So wird zunächst Thomas’ unbewegte Haltung damit erklärt, dass er, möglicherweise durch die Beobachtung der anderen Schwimmer, enorm gebannt ist. Jedoch ist diese Erklärung eine rein hypothetische, sofern sie mit dem Ausdruck „comme si“ eingeleitet wird. Zusätzlich wird die mögliche Begründung destabilisiert durch die Bemerkung, dass der Nebel bzw. der Dunst (evtl. ein Effekt der Gischt) eigentlich seine Sicht behindert. Bereits im zweiten Satz des Textes zeigt sich die virtualisierende Kraft des Blanchotschen il y a in Form einer Verunsicherung auf der Ebene der erzählerisch vermittelten Kausalitätszusammenhänge. Wenn auch Beweggrund und Inhalt des Blicks unklar sind, bleibt der beharrlich fixierende Blick als solcher vom „comme si“ ausgespart. Thomas bleibt aber nicht in seiner kontemplativbeobachtenden Haltung, sondern lässt sich durch den äußeren Impuls einer Welle, die ihn mit besonderer Intensität berührt, ins Meer gleiten. Seine Bewegung ist als eine Antwort auf die Wellenbewegung aufzufassen. Ihr vorweg geht sein Hinabgleiten an einem Sandhang, welches als Bewegung nach unten – in anderen Kapiteln konsequent mit dem Verb descendre bezeichnet – einen Wahrnehmungswechsel einläutet, der im obigen Zitat durch die Bewegung des Gleitens verstärkt wird.

 

1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten)

Starobinski kontrastiert die von außen kommende Aktivität des Wassers (die Wellen berühren, bewegen und ergreifen Thomas) und der anderen Naturgewalten mit der Passivität von Thomas, der sich einfach nur ins Wasser gleiten lässt.1 In genau diesem vermeintlich passiven glisser steckt aber möglicherweise mehr als die Gegenbewegung zur Aktion, nämlich eine philosophisch brisante Figur der Grenzüberschreitung2, wird damit doch der Übergang vom Ufer ins Wasser, vom Gekerbten ins Glatte (um mit Gilles Deleuze und Félix Guattari zu sprechen), nicht als komplizierter Prozess dargestellt, sondern vielmehr als ein kontingentes Ereignis. Da das glisser als Gleiten des Signifikanten in der französischen Philosophie, z.B. bei Jacques Lacan, Georges Bataille oder Jacques Derrida eine wichtige Metapher ist, lässt sich das Gleiten, neben dem inhaltlichen Geschehen eines Mannes, der zum Schwimmen ins Meer taucht, als einen performanzästhetischen Hinweis auf eine nun folgende Sprachlichkeit lesen, deren Sinn nicht fixiert werden kann.3 Anhand von Thomas’ Erfahrungen der Subjektentgrenzung im Wasser, seinem Taumeln und seiner Haltlosigkeit, verweist die Sprache zugleich auf sich selbst als eine gleitende Sprache, die sich zwischen Sinnzuschreibungen bewegt, ohne sich fixieren zu lassen. Ein Beispiel für dieses Gleiten wäre das bereits genannte „comme si“, aber auch das Verhältnis der Wellen zu Thomas, in dem sich bereits ein fließender Übergang zwischen Subjekt und Objekt bemerkbar macht. Das Gleiten ohne Haltepunkte stellt eine Kontinuitätserfahrung dar, in der Einheit nur über Entgrenzung möglich ist. Gleiten, Erfahrung, Überschreitung und Grenze bilden nicht nur wichtige Punkte im 1. Kapitel von TO2, sondern durchziehen den Text bis zu seiner letzten Seite.

Um das Gleiten Thomas’ von der Ebene der histoire auf die Ebene einer metaliterarischen Leseanweisung für Thomas l’Obscur zu heben, möchte ich es nun mit den Begriffen der inneren Erfahrung, der Transgression und der Grenze bei Georges Bataille verknüpfen.

Innere Erfahrung als Transgression

Mit der „expérience intérieure“ würde Bataille eine mystische Erfahrung bezeichnen, wenn diese Art der Erfahrung nicht konfessionelle Bindungen in sich trüge. Die innere Erfahrung ist nach Georges Bataille ekstatisch und unsicheren Ausgangs. Sie untergräbt das Wissen wie das Sein an sich1, vor allem aber verlangt sie von ihrem Ausdruck, dass er sie nicht abbilde (was sie verfehlen würde), sondern sie vollziehe: „L’expression de l’expérience intérieure doit de quelque façon répondre à son mouvement, ne peut être une sèche traduction verbale, exécutable en ordre.“2 Daraus kann man schließen, dass die innere Erfahrung dem Denken und der Sprache abverlangt, sich ihr gewissermaßen hinzugeben, d.h. feste Standpunkte aufzugeben und in ein Gleiten zu kommen, das eine innere Entgrenzung ermöglicht. Analog zur mystischen Erfahrung, jedoch abzüglich all ihrer Glaubensprämissen, bedeutet die innere Erfahrung, wie Blanchot in seinem Artikel zu Batailles 1943 publiziertem Werk L’expérience intérieure formuliert, einen „état de violence, d’arrachement, de rapt, de ravissement […] ‚perte de connaissance‘ extatique“.3 Nur wenn Sprache und Denken auch vor sich selbst keinen Halt mehr machen und in ein unkontrollierbares Gleiten jenseits der Innerlichkeit kommen, kann es über die Transgression zu einer Kontinuitätserfahrung, sprich zum Selbstverlust kommen. Im Gegensatz zur überschreitenden Transzendenzerfahrung im religiösen Kontext, die zumeist mit einer gen Gott gerichteten Elevation korrespondiert, beschreibt Bataille jedoch ein „model of immanent transgression“4, das folglich den Selbstverlust in der Immanenz und nicht in der Transzendenz sucht.

Der Begriff der Transgression referiert auf eine Grenzüberschreitung, die erst durch das die Grenze festlegende Verbot der Überschreitung geschehen kann. Eine der wirkmächtigsten Interpretationen dieser von Bataille wesentlich etablierten Denkfigur liefert Michel Foucault in seinem 1963 erschienenen Artikel „Préface à la transgression“.5 Grenze und Überschreitung sind in seiner Lektüre Batailles unaufhaltbar miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. Mich interessiert für den Gebrauch des Begriffs der Transgression die sprachphilosophische Dimension dessen, was hinter der Dialektik von Grenze und Überschreitung steckt und worauf Foucault in seiner Bataille-Lektüre beständig hinweist. Gesucht wird ein Denken der nicht-positiven Bejahung, welches Foucault mit Blanchot und dessen Begriff der „Bestreitung“ (contestation) verbindet. Es geht Foucault um eine nicht-dialektische oder entdialektisierte Sprache, ein „Denken des Außen“, ein Denken an der äußersten Grenze, wie er dann 1966 in seinem Aufsatz „La pensée du dehors“ über Blanchot formulieren wird.

Was ist darunter zu verstehen? Zunächst eine Sprache, die sich der Eindeutigkeit entzieht. Dieser Entzug kann und sollte auf verschiedenen Ebenen passieren. Foucault findet dafür in Bezug auf Batailles Sprache den Term „Entkopplung“ (décrochage). Entkoppelt werden muss alles, was irgendwie hierarchisch-ordnungsbildend wirken könnte: die Einhaltung von bestimmten Textsorten- oder Gattungen, Ebenen des Sprechens, des Tempus oder der Referenz. In all diese Einteilungen und Bezüge werden Wechsel und Abbrüche eingelassen, die klare Zuordnungen und Interpretationen erschweren und damit stetig den Glauben an das philosophische Subjekt in dessen Aporie treiben. Die Paradoxie der Sprache ist und bleibt, dass sie der „einzige Kommunikationsmodus der Grenzerfahrungen“ ist und zugleich auch die Unerreichbarkeit und Uneinholbarkeit des sich Entziehenden offenbaren muss.6

Die von Thomas ausgeführte Bewegung des Gleitens kann in der Forderung einer sich, wie soeben beschrieben, performativ vollziehenden Sprache unter anderem bedeuten, dass der Text den Leser indirekt anspricht und ihm als Lesehinweis für die Lektüre des Textes Thomas l’Obscur auferlegt, wie Thomas den sicheren Boden der Betrachtung zu verlassen, um sich in die Bilderflut des Textes mit all seinen Wirbeln und Abgründen zu begeben und sich folglich auf die eigene innere Erfahrung einzulassen. Der Übergang vom Ufer ins Meer, d.h. von der Erde ins Wasser, korrespondiert einer Transition von der Betrachtung und Bewegungslosigkeit in die Mobilität des Schwimmens und der Selbstexposition in der Berührung. Wie meine Lektüre zeigen wird, ist damit zudem ein Anfang für eine bestimmte Art von Grenzerfahrung in jeglicher Hinsicht gemacht, die der Roman paradigmatisch durchdekliniert.

Immersion und Offenes

Initiatorisch empfangen wird Thomas vom Wasser mit einer Taufe, indem er sogleich von Strudeln untergetaucht wird. Abermals wird das Erzählte verunklart, indem einerseits Thomas als guter Schwimmer dargestellt und vom Meer behauptet wird, dass es ruhig sei, während andererseits die „remous“ eine stürmische See evozieren. Dieser Gegensatz lässt sich nur erklären, wenn man berücksichtigt, dass Thomas an diesem Tag „einen neuen Weg gewählt hatte“.1 Dieser neu eingeschlagene Weg verweist auf eine Kopplung von innerer Wahrnehmung und äußerem Geschehen, durch die im Laufe des Kapitels eine zunehmende Überlagerung und Vermischung geschieht. Den neuen Weg lese ich als Entscheidung, sich einer ekstatischen Erfahrung des Offenen gänzlich auszusetzen.2

In TO1 ist Thomas’ Entschluss, die bekannten Regionen an diesem Tag zu verlassen und sich in das Unbekannte vorzuwagen, deutlicher ins Aktive verlagert. Dort heißt es nach der Feststellung, dass er ein guter Schwimmer ist: „Il n’avait donc pas à s’inquiéter […] quoique le but qu’il s’était fixé lui parût soudain très éloigné et qu’il éprouvât une sorte de gêne à aller vers une région dont les abords lui étaient inconnus.“3 Auch werden in TO1 Objekte, die in Thomas’ Wahrnehmung geraten, benannt. Dabei handelt es sich z.B. unmittelbar nach dem Eintauchen um einen anderen Schwimmer oder etwas später um ein Boot. Beides lässt Thomas in einer bewussten Entscheidung entgleiten, ebenso wie er nicht versucht, an das sichere Ufer zurückzukehren. In TO2 ist die Gewalt des Wassers, das Thomas zum Objekt macht und ihn sich unterwirft, durch die Kürzungen der eben genannten Passagen sehr viel deutlicher in den Vordergrund gestellt, so dass das Gleiten zur unerklärlichen und fremdbestimmten Sogwirkung wird.

Der Eintritt ins Offene zeigt sich unter anderem an der veränderten Blicksituation: Während Thomas am Ufer seinen Blick trotz des Nebels auf die Schwimmer im Wasser richten kann, verdeckt der Nebel von der anderen Seite aus betrachtet das begrenzende Ufer und Thomas’ Blicke (ses regards), nun im Plural, finden keine Haftung mehr.

La brume cachait le rivage. […] La certitude que l’eau manquait, imposait même à son effort pour nager le caractère d’un exercice frivole dont il ne retirait que du découragement. Peut-être lui eût-il suffi de se maîtriser pour chasser de telles pensées, mais ses regards ne pouvant s’accrocher à rien, il lui semblait qu’il contemplait le vide dans l’intention d’y trouver quelque secours.4

An dieser Stelle wird anhand des fehlenden Wassers, in dem Thomas schwimmt, das inhaltlich fixierbare äußere Geschehen endgültig überführt in ein Wahr-nehmungsgeschehen, das zwar noch in einem subjektgebundenen Bewusstsein verankerbar scheint, in dem sich jedoch bereits erste Risse andeuten. Die Selbstbeherrschung oder die Subjektsouveränität ist durch die fehlende äußere Blickbegrenzung destabilisiert.

Im Folgenden häuft sich die Isotopie der Bewegung und Dissoziation, die durch ein Deiktikum als unmittelbare Erfahrung präsentiert wird. War das Wasser eben noch abwesend, zeigt es sich nun aus dieser Abwesenheit umso bedrohlicher: „C’est alors que la mer, soulevée par le vent, se déchaîna. La tempête la troublait, la dispersait dans des régions inaccessibles, les rafales bouleversaient le ciel et, en même temps, il y avait un silence et un calme qui laissent penser que tout déjà était détruit.“5

Dagegen stehen gleichzeitig das Schweigen und die Ruhe, welche jedoch keinen beruhigenden Gegenpol bilden, sondern eher die gefährliche Ahnung des Ursprungs der tosenden Bewegung ankündigen. Im weiteren Textverlauf wird Thomas’ Kampf mit dem Wasser geschildert, das in ihn eindringt und den Prozess des Selbstverlustes und Selbstentfremdung vorantreibt. Mit zunehmender Kälte scheint er das Gefühl für seine Körperglieder und seine orientierenden Sinneswahrnehmungen zu verlieren, sodass mit der steigenden Gewalt und Fremdheit des Wassers sich die Grenze zwischen innerer oder gedanklicher Bewegung und äußerem Kampf gegen das Ertrinken zu verwischen beginnt. Somatisches und Gedachtes gehen reziprok und unkontrollierbar ineinander über. Die Grenze zwischen Thomas und dem Meer, zwischen Subjekt und Objekt, scheint auf der Basis eines traumähnlichen Zustandes zur Vereinigung mit dem Meer zu führen: „Il poursuivait, en nageant, une sorte de rêverie dans laquelle il se confondait avec la mer. L’ivresse de sortir de soi, de glisser dans le vide, de se disperser dans la pensée de l’eau, lui faisait oublier tout malaise.“6

Dieses Sich-Vermengen mit dem Meer ist sprachlich ebenfalls performativ artikuliert über eine Verunklarung der Bezüge von innen und außen, in denen sich die inhaltlich ausgedrückte Auflösungsmetaphorik wiederholt. Denn „se disperser dans la pensée de l’eau“ lässt das vom Subjektstandpunkt ausgehende Denken an das Wasser zu einem Denken des Wassers werden – einem Denken, das vom Wasser ausgeht und auf das Thomas sich in einer stetigen Transformation einlässt. Es ist nicht mehr eindeutig zu entscheiden, wer aktiv oder wer passiv handelt, von wem überhaupt eine Handlung ihren Ausgang nimmt.7 Darüber hinaus scheint in der „pensée de l’eau“ das Verhältnis von Medium und Ausgesagtem ineinander zu kippen. Der Wunsch nach Ekstase ist in der zitierten Textstelle gekoppelt an ein Gleiten in die Leere und schließt in der Wiederholung des „glisser“ an die Anfangsbewegung des Gleitens vom Ufer ins Wasser an. Die Bewegung der Transgression wird erneut vollzogen: nun als eine intensivierte Selbstaufgabe oder auch Hingabe an das weibliche Wasserelement, in das Thomas sich zerstreuen will. Konsequenz seiner Hingabe ist eine sich immer weiter beschleunigende Oszillation des discours zwischen den Kategorien ‚Realität‘ und ‚Vorstellung‘, sodass er in einem Satz erst zunehmend zum „mer idéale“ wird, welches wiederum abermals von der Idealität zurückkippt ins Materielle bzw. „vraie mer“, das ihn wie einen leblosen Körper in sich trägt.8 Dargestellte Realität und Vorstellung sind nicht mehr zu unterscheiden. Sie erweisen sich in ihrer gegenseitigen Durchdringung als unbrauchbare Kategorien – nicht nur für Thomas, sondern auch für den Leser von Thomas l’Obscur. Sofern Thomas glaubt, in der Unentscheidbarkeit von innerer Vorstellung und äußerer Realität einen „Schlüssel der Situation“ gefunden zu haben und daraus die Erkenntnis einer doppelten Abwesenheit abzuleiten gedenkt, muss er diese samt des Schlüssels als Illusion analog zum Leser in die Tiefe der dunklen Meeresgrundes fallen lassen.9

 

Alle Fragen nach einem Ausweg aus der Situation scheitern an Thomas’ unbestimmten Willen fortzuschreiten und weiter in die Tiefe zu dringen. Starobinski interpretiert dies als „refus qu’oppose Blanchot à toute tentation de trouver l’apaisement dans une rêverie participante, dans une fusion sensible ou spirituelle où l’homme ne ferait plus qu’un avec la réalité environnante, qu’elle soit plénitude d’être ou vide, présence ou nullité universelles.“10 Er verbindet diese Gedanken einer unmöglichen dauerhaften Vereinigung mit allgemeinen Gedanken zu Blanchots kritischem Werk, das dazu einlädt, denkerisch stets einen Schritt über das Mögliche hinauszugehen. Ich möchte dem lediglich hinzufügen, dass sich dies mit den Vorstellungen Batailles zur inneren Erfahrung als unabschließbare Transgression deckt, und dass diese den Leser mit einschließt.