Politisch motivierte Kriminalität und Radikalisierung

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Anmerkungen

[1]

http://www.zeit.de/politik/2017-07/g20-gipfel-hamburg-live; 2.1.2021.

[2]

http://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/polizeibilanz-nach-gzwanzig-gipfel-100.html; 2.1.2021.

[3]

https://www.abendblatt.de/hamburg/article211207427/Linksextremismus-von-Gesellschaft-teilweise-verharmlost.html; 2.1.2021.

[4]

Pfahl-Traughber 2014, S. 232.

I Einleitung › 2. Aktuelle Entwicklungen

2. Aktuelle Entwicklungen

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, erklärte in seinem Statement im Bundestag am 29.6.2020, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz aktuell „Rechtsextremismus und -terrorismus als größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland bewertet“.[1] Als Indiz dafür sah der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz im deutschen Rechtsextremismus „eine hohe Gewaltbereitschaft, regelmäßige Waffenfunde und die Tötungsdelikte“ der drei rechtsextremistisch-terroristischen Anschläge 2019 und 2020. Dazu führte Präsident Haldenwang aus: „Nach den Anschlägen 2019 erschoss im Februar ein Rechtsextremist in Hanau weitere 10 unschuldige Menschen. Deshalb behalten unsere Prognosen ihre Gültigkeit: Die Lageverschärfung im Rechtsextremismus führt zu schwersten Gewalttaten, mit denen auch weiterhin zu rechnen ist. Es entwickeln sich mehrheitlich rechtsterroristische Ansätze am Rand oder außerhalb der Szene. Und die Virtualisierung, Radikalisierung und Entgrenzung bleiben die prägenden Merkmale rechtsextremistischer Aktivitätsmuster“.[2] Daneben führte Haldenwang aus, dass das rechtsextremistische Personenpotenzial gegenüber dem vergangenen Jahr um 33% auf rund 32.000 Personen gestiegen sei. Neben dem Anstieg der gewaltorientierten Personen auf 13.000 beobachteten die deutschen Verfassungsschutzbehörden auch einen auffälligen Anstieg antisemitisch motivierter Straf- und Gewalttaten von Rechtsextremisten um jeweils etwa 17 Prozent.[3]

Linksextremistisch motivierte Straftaten nahmen im Jahr 2019, dem Berichtsjahr des aktuellen Verfassungsschutzberichts von 2020, um fast 40 Prozent zu, darunter waren auch 921 Gewaltdelikte und zwei versuchte Tötungsdelikte. Die Zahl der Sachbeschädigungen durch Linksextremisten stieg um über 58 Prozent, die der Brandstiftungen erhöhte sich um fast 52 Prozent.[4]

Außerdem wurden seit 2004 in Europa über 89 islamistische Anschläge verübt bzw. durch Sicherheitsbehörden verhindert. Durch die verübten islamistischen Anschläge starben 800 Menschen und wurden über 3745 Menschen verletzt. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes wurden allein in Deutschland seit 2016 neun islamistische Anschläge verhindert, zwei davon im Winter 2019.

Anmerkungen

[1]

BfV 2020b.

[2]

Ebd.

[3]

Ebd.

[4]

Ebd.

I Einleitung › 3. Die Zielgruppe dieses Buches

3. Die Zielgruppe dieses Buches

Politisch motivierte Kriminalität, Extremismus, sind äußerst komplexe Phänomenbereiche, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) unserer Bundesrepublik bedrohen und für jeden Bereich menschlichen Zusammenlebens relevant sind.

Auf der Ebene von Studium und Wissenschaft sind politisch motivierte Kriminalität, also Extremismus, von besonderer Bedeutung für folgende Fächer und Fakultäten:


Rechtswissenschaft,
Psychologie,
Sozialwissenschaften,
Politikwissenschaft,
Islamwissenschaft,
Internationale Beziehungen,
International and European Governance,
Soziologie,
Sozialpädagogik,
Soziale Arbeit,
Sozialpolitik,
Regionalstudien Naher und Mittlerer Osten: Sozialwissenschaften,
Regionalstudien Afrika: Sozialwissenschaften,
Regionalstudien Naher und Mittlerer Osten: Volkswirtschaft,
Regionalstudien Afrika: Volkswirtschaft,
Religionspädagogik,
Kulturanthropologie,
Ethnologie,
Sprachen und Kulturen der islamischen Welt,
Sprachen und Kulturen Afrikas,
Arabisch-Islamische Kultur,
Geschichtswissenschaft,
Friedens- und Konfliktforschung
u.a.

Auf der Ebene von Behörden und öffentlichen Einrichtungen in Europa und Deutschland sind PMK, Extremismus, von besonderer Bedeutung für folgende Bereiche:


Polizei (Bundespolizei, Landespolizeien, Bundeskriminalamt, Landeskriminalämter, Staatsschutzabteilungen, Spezialeinsatzkommando, Mobiles Einsatzkommando),
Nachrichtendienste (Verfassungsschutz auf der Ebene Bund und Länder, Bundesnachrichtendienst, Militärischer Abschirmdienst),
Justiz,
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge,
Ausländerbehörden,
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe,
Zoll,
Politische Bildung, Bundeszentrale und Landeszentralen,
Bildung und Kultus (auf den Ebenen Bund und Länder, vor allem die Kultusministerien der Bundesländer),
Schulen,
Justizvollzugsanstalten,
Regierungspräsidien,
Bezirksregierungen,
Akteure im Bereich von Prävention,
u.a.

Dieses Buch versteht sich dabei als analytische Einführung in die verschiedenen Phänomenbereiche Islamismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürger und Selbstverwalter“ sowie Linksextremismus und untersucht diese Phänomenbereiche auf den Ebenen Definitionen, Analyse, Radikalisierungsforschung sowie Fallbeispiele. Diese Ebenen sind wiederum so miteinander verbunden, dass das Buch – abhängig vom beruflichen Hintergrund und dem bereits mitgebrachten Vorwissen – nicht chronologisch gelesen werden muss, weil die drei Ebenen einen jeweils individuellen Einstieg in die Untersuchung des jeweiligen Phänomenbereiches ermöglichen. Dieses Handbuch ist kein „theorielastiges“ Buch, allerdings verdeutlichen die komplexen und heterogenen Fallbeispiele von Islamismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürger und Selbstverwalter“ sowie Linksextremismus, dass wissenschaftstheoretische Abgrenzungen, Definitionen und Analysekriterien essenziell wichtig sind, um diese Phänomenbereiche effektiv zu analysieren.

 

Konzipiert ist dieses Buch sowohl für Bachelor- als auch Masterstudenten der oben erwähnten Fächer und Fakultäten. Das Literaturverzeichnis – das sowohl internationale, englischsprachige Quellen (vor allem im Bereich Islamismus) als auch deutschsprachige Studien (sowohl von Universitäten und ihren Instituten als auch von Sicherheitsbehörden) nutzt – könnte zu eigener wissenschaftlicher Arbeit anregen.

Praktiker aus den Bereichen Polizei, Nachrichtendienst (Verfassungsschutz, BND, BAMAD), Justiz und aus anderen Behörden der Bereiche Innere Sicherheit, Psychologie, Migration, Pädagogik und Bildung werden durch ihren jeweils individuellen Hintergrund unterschiedlich an dieses Buch herangehen.

Als Ergebnis einer Adressatenanalyse der Zielgruppe des Buches ist dieses Buch so aufgebaut, dass einführende und abschließende „theoretische“ und analytische Feststellungen mit zahlreichen Fallbeispielen aus den verschiedenen Phänomenbereichen der PMK verbunden werden, um aktuellen und zukünftigen „Praktikern“ im staatlichen und zivilgesellschaftlichen Aufgabenbereich der Prävention und Repression von PMK zu helfen.

I Einleitung › 4. Der Aufbau dieses Buches

4. Der Aufbau dieses Buches

Die Hauptkapitel II bis VI sind so aufgebaut, dass die Begriffsbestimmungen des Kapitels II ebenso wie die Analyse (exemplarische Fallbeispiele) ausgewählter extremistischer Akteure und ihrer Straftaten einen Einstieg in das Buch auf zwei verschiedenen Ebenen ermöglichen: Entweder theoretisch-begrifflich durch die jeweils ersten Unterkapitel oder empirisch-praktisch durch die Analyse exemplarisch ausgewählter Fallbeispiele von Islamismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“ sowie Linksextremismus.

Die Begriffsbestimmungen der jeweils ersten Unterkapitel arbeiten einerseits auf der Ebene der universitären Forschung und andererseits auf der Ebene deutscher Sicherheitsbehörden, was dem Anspruch, „den Praktikern zu helfen“, entspricht. Dabei sind die definitorischen, begrifflichen Anteile, die jeweils ersten Unterkapitel, nicht „Theorie der Theorie willen“, sondern dienen als Grundlage einer praktischen Analyse der erheblichen Herausforderungen, welche die verschiedenen Phänomenbereiche PMK an zahlreiche staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure unserer Bundesrepublik stellen.

Die einleitenden Unterkapitel der Hauptkapitel enthalten sowohl kurze Definitionen als auch abschließende Kurzzusammenfassungen zur stark komprimierten Rekapitulation des Analyseinhalts und dienen dadurch der Verknüpfung der Unterkapitel und Hauptkapitel.

In den einleitenden Unterkapiteln der Hauptkapitel werden aktuelle, internationale Forschungsergebnisse der Psychologie und Sozialwissenschaften ebenso wie Studien und Analysen der deutschen Sicherheitsbehörden genutzt.

Die Fallanalysen der Hauptkapitel untersuchen spezifische Formen und Ausprägungen der unterschiedlichen Phänomenbereiche politisch motivierter Kriminalität.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern auf eine Differenzierung verzichtet und die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

II Begriffsbestimmungen

II Begriffsbestimmungen

Inhaltsverzeichnis

1. Politisch motivierte Kriminalität (PMK)

2. Freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO)

3. Extremismus

4. Radikalisierung

II Begriffsbestimmungen › 1. Politisch motivierte Kriminalität (PMK)

1. Politisch motivierte Kriminalität (PMK)

Als Politisch motivierte Kriminalität (PMK) werden alle Straftaten bezeichnet und erfasst, die einen oder mehrere Straftatbestände der sog. klassischen Staatsschutzdelikte erfüllen, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann.[1]

Als solche klassischen Staatsschutzdelikte gelten die folgenden Straftatbestände: §§ 80 bis 83, 84 bis 91, 94 bis 100a, 102 bis 104a, 105 bis 108e, 109 bis 109h, 129a, 129b, 130, 234a oder 241a des Strafgesetzbuches (StGB).

Auch Straftaten, die in der Allgemeinkriminalität begangen werden können (wie z.B. Tötungs- und Körperverletzungsdelikte, Brandstiftungen, Widerstandsdelikte, Sachbeschädigungen), fallen unter PMK, wenn in Würdigung der gesamten Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte für eine politische Motivation gegeben sind.[2]

Anhaltspunkte für eine politische Motivation einer Tat sind gegeben:


wenn sie den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen soll,
wenn sie der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dient,
wenn sie sich gegen die Realisierung politischer Entscheidungen richtet,
wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) beziehungsweise eines ihrer Wesensmerkmale, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richtet,
wenn sie eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel hat,
wenn sie durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet,
wenn sie sich gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status richtet (sog. hate crime, Hasskriminalität),

Anmerkungen

[1]

BfV 2017a, S. 21.

[2]

Ebd.

[3]

BfV 2017a, S. 22.

II Begriffsbestimmungen › 2. Freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO)

2. Freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO)

Im Grundgesetz wird der Begriff freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) zwei Mal verwendet, in Art. 18 GG und in Art. 21 II GG. Mit dem Begriff freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) ist die demokratische Ordnung in Deutschland gemeint, in der demokratische Prinzipien – ausgeführt in Art. 20 GG – und demokratische Grundwerte gelten, die unantastbar sind.[1] Von höchster Bedeutung ist dabei die Würde jedes einzelnen Menschen, Art. 1 GG. In der deutschen Demokratie herrschen Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, ist Diktatur ausgeschlossen, in regelmäßigen allgemeinen Wahlen bestimmt das Volk selbst, wer regieren soll.[2] Dabei hat die wahlberechtigte Bevölkerung die Auswahl zwischen konkurrierenden Parteien und Parteiprogrammen. Wer die Mehrheit der Wählerstimmen erhält, regiert, aber immer nur für einen bestimmten Zeitraum, weil Demokratie immer nur Herrschaft auf Zeit ist.

Als grundlegende Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) hat das Bundesverfassungsgericht genannt:


die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung,
die Volkssouveränität,
die Gewaltenteilung,
die Verantwortlichkeit der Regierung,
die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,
die Unabhängigkeit der Gerichte,
das Mehrparteienprinzip und

Nach Art. 79 III GG sind wesentliche Grundsätze unabänderlich, insbesondere der Schutz der Menschenwürde, Art. 1 I GG, und die in Art. 20 GG enthaltenen Prinzipien der staatlichen Ordnung (Demokratie, Föderalismus, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit).

Anmerkungen

[1]

 

https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/16414/freiheitliche-demokratische-grundordnung; 2.1.2021.

[2]

Ebd.

[3]

Ebd.

II Begriffsbestimmungen › 3. Extremismus

3. Extremismus

Alle Varianten des Extremismus sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den demokratischen Verfassungsstaat, die fdGO, ablehnen, ihn bzw. sie beseitigen oder einschränken wollen, einerseits seine konstitutionelle Komponente (Gewaltenteilung, Grundrechtsschutz), andererseits seine demokratische (Volkssouveränität, menschliche Fundamentalgleichheit).[1] Daher negieren alle Varianten des Extremismus im Kern die Pluralität der Interessen, das damit verbundene Mehrparteiensystem und das Recht auf Opposition.[2] Durch die Identitätstheorie, durch Freund-Feind-Stereotype, durch ein hohes Maß an ideologischem Dogmatismus und oftmals durch ein Missionsbewusstsein geprägt, ist Extremismus vom Glauben an ein objektiv erkennbares und vorgegebenes Gemeinwohl beseelt und kann die Legitimität pluraler Meinungen kaum akzeptieren.[3]

In Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht definierten grundlegenden Prinzipien der fdGO kann Extremismus als außerhalb eines oder mehrerer dieser Prinzipien stehend beschrieben werden bzw. als eine Gegenposition dazu einnehmend.[4]

Extremismus mit seinen höchst unterschiedlichen Varianten stellt eine zentrale Herausforderung des demokratischen Verfassungsstaates dar.