Stillerthal

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Lele sagte nicht sofort etwas. Nachdenklich schaute sie ihn an.

«Das wird nicht gehen, Matthis. Es würde Gerede geben.»

«Natürlich wird es Gerede geben. Du siehst anders aus als wir hier. Aber irgendwann hat dich jeder gesehen und der Tratsch wird aufhören.

«Ich meine nicht diese Art von Gerede, Matthis. Ich spreche von einer anderen Art Gerede. Ich erwarte ein Kind.»

Matthis zuckte leicht zusammen.

«Verstehe. Nein, dann geht das nicht.»

Er schaute auf seine Hände hinunter.

«Ich … ich könnte dich als meine Frau ausgeben. Nur nach außen natürlich. Ich … würde nichts verlangen, keine Ansprüche erheben. Aber unter den Umständen … wäre es vielleicht das … Unauffälligste?»

Lele nickte.

«Ja, machen wir es so!»


Nie vergaß sie diesen ersten Winter. Sie war ein verletztes Tier, der Matthishof war ihr Bau. In der Stille und Abgeschiedenheit des Bergbauernhofes fand sie die Zuflucht, die sie brauchte, um zu genesen.

Es war ein langer und schwerer Weg zurück in ihren geschändeten Körper. Anfangs saß sie nur da und schaute hinaus auf den fallenden Schnee. Ihr schien, als ob ihr Körper selbst sich die Fessel der Reglosigkeit auferlegt hatte, als hoffte er, in der Ruhe der Glieder die Ruhe der Gedanken zu erzwingen. Doch irgendwann löste sich die Erstarrung und sie begann, sich kleine Aufgaben zu setzen. Erste Gänge vom Alkoven zum Stuhl, vom Stuhl zum Vorhang, von dort zum Alkoven zurück. Aber immer blieb sie in der Stube.

Matthis ließ sie gewähren. Er verlangte nichts, gab keine Ratschläge. Er war einfach da und ging seiner Arbeit nach. Stand früh auf und molk die Kühe, dann folgte die Arbeit in der Käserei, dann die Hühner. Manchmal war über Nacht so viel Schnee gefallen, dass er zuerst die Wege freischaufeln musste. Mittags stampfte er Butter, buk Brote, kochte, stellte seine Eutersalbe her. Abends saß er in der Stube und reparierte Werkzeug oder stopfte seine Hemden. Manchmal fragte sie ihn nach seiner Arbeit, dann erklärte er geduldig.

Schließlich kam der Tag, an dem sie beschloss, dass es Zeit sei, sich nützlich zu machen. Sie ließ sich von Matthis Arbeiten im Haus zuweisen. Sie schnitt Zwiebeln, schälte Erdäpfel, legte Brennholz nach. Anfangs waren selbst diese einfachen Tätigkeiten anstrengend, manchmal schlief sie vor Erschöpfung mitten in der Arbeit ein. Meist erwachte sie nicht einmal, wenn Matthis ihr die Schüssel mit den Erdäpfeln aus der Hand zog, um sie selbst zu Ende zu schälen. Auch verweigerte ihr versehrter Arm immer wieder den Dienst. Er blieb schlaff, wenn er fest zugreifen sollte oder zog sich plötzlich krampfartig zusammen. Einiges fiel zu Boden, manches ging zu Bruch. Sie war dankbar, dass Matthis kein Wort über die zerborstenen Schalen verlor. Mit zusammengebissenen Zähnen kehrte sie die Scherben auf und machte weiter.

Als sie sich stärker fühlte, bat sie Matthis eines Nachmittags, ihr den Hof zu zeigen. Mit klopfendem Herzen folgte sie ihm hinaus auf die tief verschneite Lichtung, die den Matthishof umgab. Es war eine beruhigend überschaubare und begrenzte Welt. Der Himmel hing tief, aus grauen Wolken fiel feiner Schnee. Ringsumher war schützender Waldsaum, die Äste der Lärchen und Kiefern beugten sich unter ihrer weißen Last. Und inmitten der verschneiten Wiesen mehrere geduckte kleine Holzgebäude. Das war der Matthishof.

Je kräftiger Lele wurde, desto mehr traute sie sich zu. Sie fragte Matthis, ob sie ihm im Stall oder beim Verkäsen der Milch helfen könnte. Matthis zuckte zuerst mit den Schultern und schüttelte den Kopf, aber am nächsten Tag nahm er sie morgens mit in den Stall. Interessiert sah sie zu, wie Matthis die Kühe mit etwas Salz begrüßte, fütterte, molk und den Stall ausmistete. Wie er Lab in die Milch gab, um das Kasein zu trennen, das dann in großen Netzen aus der Molke gehievt, in Formen gefüllt und gepresst wurde. Beschämt musste sie sich eingestehen, dass all diese Arbeiten zu schwer für ihren entkräfteten Körper waren. Anfangs hatte sie gehofft, Matthis zumindest beim Melken helfen zu können. Aber ihr versehrter linker Arm erlaubte kein gefühlvolles Arbeiten. Die Kühe lernten schnell ihren harten Griff fürchten und muhten, sobald sie den Stall betrat. So ließ sie es wieder sein und übernahm stattdessen das Füttern der Hühner.

Es bedrückte sie, wie wenig sie helfen konnte. Als die Schneeschmelze einsetzte und die Schneeberge in sich zusammensanken und begehbar wurden, beschloss sie, Matthis auf ihre Art etwas zurückzugeben. Nachdem sie die Hühner gefüttert hatte, ging sie im frühen Dämmerlicht in den nahen Wald. Bald fand sie, was sie suchte. Auf einer kleinen Lichtung stand eine alte Birke, deren Rinde sich an zahlreichen Stellen löste. Sie zog einige Rindenstücke ab und nahm sie mit nach Hause. Nach dem Wässern glättete sie die Rindenstücke zu dünnen, weißen Rindenblättern. Auf dem Herd kochte sie aus Ruß, Harz und Wasser Tinte, im Heuschober fand sie einen geeigneten Strohhalm, den sie sich als Feder zurechtschnitt. Mit diesen Utensilien setzte sie sich in die Stube und machte Notizen.

Matthis kam herein und blieb wie angewurzelt stehen, als er ihr Tun sah.

«Was tust du?», rief er. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte ihr die Dinge aus der Hand gerissen.

Sie sah erstaunt auf.

«Ich schreibe das Rezept deiner Eutersalbe auf.»

«Aber das ist … Schrift!»

«Natürlich ist das Schrift, was sonst?»

«Aber Schrift ist … von Übel!»

Lele blickte Matthis verständnislos an.

«Warum soll Schrift von Übel sein?»

«Schrift kann lügen. Lügen, die mit der Schrift festgehalten werden, vergehen nicht wie das gesprochene Wort. Sie bleiben bestehen und wirken fort.»

Lele überlegte einen Moment, dann antwortete sie ihm mit großer Ernsthaftigkeit.

«Was du sagst, stimmt. Schrift kann lügen und es ist schrecklich, wenn sie es tut. Aber kann das gesprochene Wort nicht auch lügen? Gibt es nicht Lügen, die in Form von mündlichen Traditionen und Vorurteilen von Generation zu Generation weitergegeben werden und unser Leben vergiften? Nicht die Schrift ist das Übel, sondern die Lüge. Schrift selbst ist etwas Wunderbares. Du hast selbst gesagt, wie schade es ist, dass mit dem Tod deiner Mutter so viel von ihrem Wissen verloren ging. Hätte sie es aufgeschrieben, wäre es jetzt noch verfügbar.»

Matthis’ Augen wanderten verunsichert zwischen ihr und den Schreibutensilien auf dem Tisch hin und her. Schließlich nickte er.

«Fahre fort!» Er schaute an ihr vorbei, als er das sagte und ging schnell aus dem Raum.

Traurig sah sie ihm nach. Ohne es zu wollen, hatte er sie wieder an das erinnert, was sie war. Eine Fremde in einem fremden Land.

Gegen Ende des dritten Mondes waren die Wege soweit befahrbar, dass Matthis’ Plan in die Tat umgesetzt werden konnte. Unter alten Erdapfelsäcken versteckt, hatte Matthis Lele aus dem Tal geschmuggelt. Einen Tag hatten sie in einer verlassenen Hütte am Rande der Tieflande verbracht, dann waren sie zurück nach Stillerthal aufgebrochen. Für ihren offiziellen Einzug hatte Lele sich ein altes Wollkleid von Matthis’ Mutter passend genäht, um den Kopf trug sie ein gelbes, mit Zwiebelschalen und Alaun gefärbtes Tuch geschlungen. So saß sie aufrecht oben auf dem Bock neben Matthis und schaute sich aufmerksam um. Die Schlucht, die hinauf nach Stillerthal führte, war so eng, dass sie unwillkürlich das Gefühl hatte, den Kopf einziehen zu müssen. Ein holpriger, steiniger Fahrweg wand sich neben dem schäumenden Wilderbach den Talboden entlang. Die kürzliche Schneeschmelze hatte tiefe Furchen hinterlassen, was das Durchkommen noch schwerer machte. Die Wälder, die die Steilhänge rechts und links des Weges erobert hatten, waren düster und zerzaust, etliche Stellen waren durch Schneebruch zu undurchdringlichem Gehölz geworden. Umso mehr staunte sie, als sich plötzlich nach einem letzten steilen Aufstieg die Weite Stillerthals vor ihr auftat. Dunkles Gehölz wich weiten braunen Feldern und Weiden, die von einem hochstämmigen lichten Bergwald umgeben waren. Die Bauernhöfe waren klein, aber gepflegt, die angrenzenden Gärten, in denen die Stillerthaler Bäuerinnen ihr Gemüse anbauten, wurden von niedrigen Mauern gegen die kalten Gebirgswinde geschützt.

Als sie im Dorf angekommen waren, stoppte Matthis den Ochsenkarren vor der Schmiede. Es war ein großes, aus runden Flusskieseln gebautes Gebäude, das zur Dorfstraße hin offen war. Neben der im Hauptgebäude untergebrachten Werkstatt schloss sich ein kleiner, einfacher Nebenbau an, in dem der Schmied Vingas und seine Frau Marilin den Dorfkrug, die einzige Gaststätte im Dorf, betrieben.

«Warte einen Moment, ich will Lundis Bescheid geben, dass er den Karren erst morgen früh bekommt.»

Kurz nachdem er den Dorfkrug betreten hatte, kam Matthis in Begleitung von vier schlicht gekleideten Männern heraus. Sie waren dunkelhäutig wie Matthis und starrten Lele unverhohlen an. Lele überwand ihre Scheu, nickte ihnen freundlich zu und sagte laut «Guten Tag». Zu ihrem Erstaunen erfolgte keine Gegenreaktion. Nicht ein kurzes Nicken mit dem Kopf, nicht ein gemurmelter Gruß.

Matthis verabschiedete sich hastig, dann setzte er sich auf den Karren und trieb den Ochsen an.

«Hab ich etwas falsch gemacht?», fragte Lele, als sie außer Sichtweite waren.

Matthis starrte geradeaus auf den Weg. Er nagte an seiner Lippe, dann nickte er zögernd.

«Die Frauen blicken hier den Männern nicht direkt ins Gesicht. Und sie sprechen fremde Männer nicht an. Es ziemt sich nicht. Aber ich habe erklärt, dass du aus der Stadt bist. Den Städtern werden lockere Sitten nachgesagt, sie werden es also verstehen, wenn du dich … anders verhältst.»

 

Lele nickte. Andere Länder, andere Sitten. Sie war töricht gewesen. Aber das Unwohlsein blieb. Es wich erst, als sie in der Vertrautheit des Matthishofes ankamen.


Müde von der frühmorgendlichen Arbeit im Stall und der Käserei ließ sich Matthis auf einen Stuhl fallen und zog sich den Teller Morgensuppe her, den Lele ihm gerichtet hatte. Nachdenklich betrachtete er sie. Sie hatte sich mit einer Flickarbeit vors Fenster gesetzt, um das hereinfallende Tageslicht auszunutzen. Konzentriert führte sie die Nadel durch eines der vielen Löcher seines Ersatzhemdes und verwob den Faden so gekonnt mit dem übrigen Stoff, dass man die Flickstelle kaum mehr als solche erkennen konnte.

Lele gab sich Mühe. Übernahm Arbeiten, die sie trotz ihrer Behinderung erledigen konnte, machte sich nützlich, wo immer es ging. Und dennoch war sie die Fremde, ihr Einzug in Stillerthal hatte es ihm nur allzu deutlich vor Augen geführt. Er kannte seine Landsleute und konnte sich gut vorstellen, worüber im Dorf gerade getratscht wurde. Wie hatte es diese unmanierliche Fremde geschafft, sich den Junggesellen Matthis zu angeln? Was fand Matthis an dieser vorlauten weißhäutigen Städterin, wo es im Tal so viele hübsche braune und gefügige Mädchen gab? Da war der Weg zu geflüsterten Mutmaßungen über Liebestrank und Hexenwerk nicht weit, und gerade das machte ihm Sorgen. Obwohl seine Mutter aus dem Tal stammte, war sie immer anders gewesen. Sie hatte das Tal verlassen, um in den Tieflanden die Heilkunst zu erlernen. War mit einem Kind, aber ohne Mann zurückgekehrt. Das Attribut Hexe war ihr ein Leben lang angehangen, selbst ihr plötzlicher Unfalltod war geheimnisumwoben und suspekt. Es hatte Matthis viele Jahre zäher Arbeit gekostet, ihren Schatten zu überwinden. Nun hatte dieser plötzlich neue Nahrung bekommen. Matthis hoffte darauf, dass die Gerüchte abebben würden, sobald Leles Schwangerschaft sichtbar würde. Die Stillerthaler waren abergläubisch, aber sie konnten rechnen. Vielleicht würden sie lachen und denken, dass Matthis auch nur ein Mann war und ihn das gleiche Schicksal ereilt hatte, das schon unzählige Geschlechtsgenossen vor ihm in den Ehestand gezwungen hatte. Aber noch war es nicht soweit, noch war die kleine Rundung von Leles Bauch zu unauffällig, um im Dorf bemerkt zu werden.

Gedankenverloren löffelte Matthis den Teller leer. Dann stand er auf, trug den Teller zum Spülstein, wusch sich die Hände und ging zur Tür, wo seine Ausgehjacke und die Lauschankutte hingen.

«Ich gehe zum Lauschan!», sagte er. «Bis später.»

Lele legte ihre Näharbeit beiseite und stand auf.

«Ich komme heute mit.»

Matthis erstarrte und sah sie verstört an.

«Frauen gehen nicht zum Lauschan.»

Nun war es Lele, die ihn entgeistert anschaute.

«Warum das?»

«Frauen gehen nie zum Lauschan. Sie können das nicht.»

«Was können sie nicht?»

«In der Stille des Lauschan sein.»

Lele runzelte ärgerlich die Stirn.

«Natürlich können Frauen in der Stille des Lauschan sein. Es gibt Gegenden, in denen es eine Selbstverständlichkeit ist, dass Männer wie Frauen zum Lauschan gehen.»

Matthis fühlte sich unwohl. Er war nie weiter als bis Wilderbrugg gekommen, wo er hin und wieder auf dem Markt seinen Käse verkaufte. Nun rang er um eine Erklärung.

«Aber Frauen sind … anders.»

«Sind wir das? Die Gesellschaft, in der wir leben, weist uns je nach Geschlecht Rollen zu, ja, aber sind wir deswegen anders? Fühlen wir nicht Schmerz, wenn wir uns schneiden, sind wir nicht froh, wenn uns eine Arbeit gelingt, oder ärgern uns, wenn uns etwas zerbricht? Wieso sollten wir anders sein?»

Matthis schwieg und sah stur an ihr vorbei.

«Du magst recht haben. Aber hier in Stillerthal gehen die Frauen nicht zum Lauschan. Es ist … undenkbar!»

Dann drehte er sich um und eilte aus dem Haus.

Doch das Gespräch verfolgte ihn. Wie ein schmerzender Zahn bohrte es sich immer wieder aus der Tiefe, wohin er es verdrängt hatte, zur Oberfläche hindurch und störte seine Gedanken. Die Ruhe, die er sonst beim Lauschan fand, blieb ihm dieses Mal versagt. Daher war er froh, als der alte Bovis das Ende des Lauschan einläutete, und noch erleichterter war er, als er feststellte, dass heute keiner der Jungbauern seinen Rat als Lauschan-Mahadan zu suchen schien. Matthis zog die Kutte, die ihn als Lauschan-Mahadan auszeichnete, aus, rollte sie zusammen und band sie sich um die Taille. Dann winkte er den anderen Mahadani einen kurzen Gruß zu und machte sich auf den Heimweg.

Es dauerte nicht lange, bis er Lele entdeckte. Sie hatte sich auf dem großen Findling am Rande der Dorfwiesen niedergelassen, ihr weißes Kleid und das gelbe Kopftuch leuchteten hell vor dem Graubraun des Vorfrühlingswaldes. Aufrecht saß sie da, ein Mahnmal für ihn und für alle, die es sehen konnten.

Mit mulmigem Gefühl schritt er ihr entgegen. Als er den Fels fast erreicht hatte, deutete er ein Nicken des Kopfes an.

«Hayda Lele», grüßte er.

«Hayda Matthis», lächelte sie und zeigte auf die freie Stelle neben ihr. «Komm, setze dich zu mir, der Stein ist warm und trocken.»

Matthis erklomm den Fels und ließ sich neben ihr nieder. Er scheute sich, sie anzusehen. Stattdessen wandte er den Kopf und ließ den Blick über das Tal schweifen. Sie hatte den Ort gut gewählt, die Aussicht war beeindruckend. Vor ihm breitete sich der von Wiesen und Feldern umsäumte Talgrund mit Teich und Dorf aus, etwas abseits sah man das baumumgrenzte Rund des Lauschan-pans. Wie ein lebender Baldachin wölbten sich die Äste über dem Platz und malten ihre Muster aus Licht und Schatten. Die Stille, die von dem Ort ausging, war bis hier oben zu spüren.

«Du hast uns zugesehen», begann er vorsichtig.

«Ist das auch verboten?»

Matthis schüttelte den Kopf. Er warf ihr einen kurzen Blick von der Seite zu. Die Person, die da neben ihm in der Sonne saß, aufrecht und gefasst, hatte nichts mehr gemein mit dem Bündel Mensch, das er oben bei den Wächterbäumen gefunden hatte. Stattdessen war ihm, als säße Sol selbst an seiner Seite, die vom Himmel herabgestiegen war, um über die Menschen zu richten.

«Ich weiß, dass es dich schmerzt», sagte er. «Aber ich kann die Traditionen nicht ändern.»

Lele wiegte nur den Kopf. Nachdenklich blickte sie ins Tal hinab, dorthin wo sich der nun verlassene Lauschan-pan befand.

«Was weißt du über Lauschan?», fragte sie unvermittelt.

Matthis hob erstaunt den Kopf. Eine Frage statt der erwarteten Vorwürfe. Er überlegte, was ihm Thamis über die Entstehung des Lauschan erzählt hatte.

«‹Verweile in Stille, lausche den Stimmen der Welt, und du wirst Aoum hören.› Das ist Lauschan. Eine Disziplinierung des Geistes. Den Männern vorbehalten, als Wegweiser für die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, und als Reinigung der Sinne. Manche glauben, das Lauschan sei uns von den Feh gebracht worden. Aber das sind Märchen. Die Feh lebten vor der Zeit der Menschen. Sie sind schon lange tot.»

Lele schwieg. Plötzlich lachte sie trocken auf.

«Es ist eine Strafe. Grausam, aber gerechtfertigt!» Unwillkürlich strich sie sich mit ihrer gesunden rechten Hand über ihren versehrten linken Arm. «Darf ich dir berichten, woher das Lauschan kommt?»

Matthis nickte.

«Nicht die Feh haben das Lauschan gebracht, sondern das Volk der Aydin. Die Aydin waren ein friedliebendes Volk, das viel Wert auf die Zubereitung wohlschmeckender Nahrung und die Herstellung von Kunsthandwerk legte. Und sie praktizierten Lauschan. Leider waren ihre Nachbarn nicht so friedliebend. Immer wieder wurden die Aydin überfallen, ihre Kunstwerke zerstört, die Königin enthauptet, die Männer niedergemetzelt und die jungen Frauen geraubt. Daher beschloss Maoma, die letzte Königin der alten Welt, ihr Volk in ein neues Land zu führen, an einen Ort, an dem sie sicher vor Krieg und Zerstörung leben konnten. In einfachen Flößen machten sie sich auf den Weg über das große Wasser. So kamen sie nach Fehrin. Da an den Ufern des großen Wassers schon Menschen lebten, zogen sie weiter in die Berge bis nach Stillerthal. Das Land war öde und leer und galt als unbewohnbar, dennoch wagte die Königin den Schritt. Der Anfang war schwer und viele Aydin bezahlten den Entschluss der Königin, die karge Gebirgsregion zu besiedeln, mit dem Leben. Der erste Winter war lang und hart, die Vorräte gingen rasch zur Neige und der Hunger war ein steter Gast. Es wäre das Ende der Aydin gewesen, wenn nicht die Feh, die hier im Verborgenen lebten, sich vom Los der Aydin hätten berühren lassen und ihnen gezeigt hätten, wie sie die Technik des Lauschan vervollkommnen und die Erde fruchtbar machen konnten. Denn die Feh, Matthis …», Lele hob den Kopf und blickte Matthis direkt in die Augen, «… die Feh sind nicht tot. Sie leben immer noch. Und Lauschan ist weit mehr als nur eine Disziplinierung des Geistes. Richtig ausgeführt lenkt es die Energien Aoums und schenkt den Schwachen einen Abglanz seiner Macht.»

Lele verstummte. Ihr Blick glitt über das bunte Muster aus dunklen Gehöften, zaghaft grünenden Wiesen und frisch gestochenen Feldern. Sie seufzte.

«Leider konnten manche Khor-Kami nicht mit dieser Macht leben. Sie trachteten nach mehr Einfluss und Wohlstand. Also heuerten sie Arbeiter aus dem Tiefland an und ließen sie für sich arbeiten. Das war der erste Bruch mit der Tradition der Aydin, denn bis dahin galt, dass jeder in Freiheit für sich arbeitete und nur selbst hergestellte Waren zum Tausch anbot. Das zweite Vergehen war, dass die Khor-Kami ihre Fremdarbeiter in die Technik des Lauschan einweihten und diese an ihrer statt zum Lauschan schickten. Es gab Streit und ein böser Geist hielt Einzug in das Tal. Ein zweites Mal griffen die Feh ein und erzählten der Alda vom Land hinter den Bergen. So beschloss die Alda mit denen weiterzuziehen, die an den alten Gebräuchen festhalten wollten. In Stillerthal aber», mit einer weiten Armbewegung zeigte Lele auf das sich vor ihren Augen erstreckende Tal und lachte ein kurzes hartes Lachen, «in Stillerthal mischten sich die zurückgebliebenen Aydin mit den Fremdarbeitern und Lauschan wurde eine Angelegenheit der Männer.»

Matthis sah sie an.

«Du bist eine Aydin?»

Lele nickte.

«Ja. Ich bin eine Tochter derer, die weitergezogen sind.»

Ehrfurchtsvoll blickte Matthis hinauf auf den so unüberwindbar wirkenden Kranz der schneebedeckten Berge.

«Dann gibt es tatsächlich das Land hinter den Bergen!»

«Ja. Es gibt das Land und es war ein Paradies», antwortete Lele, aber ihre Stimme klang dumpf, als sie das sagte. Kaum hörbar fügte sie hinzu: «Es wurde zur Hölle …».

Dann sagte sie nichts mehr. Matthis hörte ihrem schweren Atem an, welche Anstrengung es kostete, die Erinnerung niederzuringen. Taktvoll schwieg er. Schließlich stand er auf und streckte die müden Glieder. Er reichte ihr seine Hand.

«Komm, lass uns nach Hause gehen.»

Matthis half Lele, vom Felsen hinunterzusteigen, und gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg.


Lele trat aus dem Haus und sah sich suchend nach Matthis um. Sie entdeckte ihn oben am Waldrand auf dem neuen Feld, das er urbar gemacht hatte. Mit gleichmäßigen wuchtigen Schlägen hieb Matthis mit der Hacke den störrischen Bergboden auf. Sein Gesicht war verschlossen und konzentriert, wie immer, wenn er arbeitete. Es war ein paar Masuren her, dass Matthis beschlossen hatte, ein kleines ebenes Waldstück, das an die Winterweide des Matthishofs grenzte, zu roden und dort ein weiteres Feld anzulegen. Er hatte die Bäume gefällt und zu Brennholz gehackt, hatte sich Lundis’ Ochsen ausgeliehen, um die Wurzelballen aus der Erde zu ziehen, hatte das Reisig verteilt und abgebrannt, als Dünger für die Erde. Nun bereitete er das Gelände für die Saat vor. Lele wusste, dass er es für sie tat. Ihr Magen war die fettreiche Kost nicht gewohnt und hatte des Öfteren rebelliert. Nun wollte Matthis für etwas mehr Korn auf dem Speiseplan sorgen.

Sie hatte in den letzten Monden viel gelernt über das Leben der Bergbauern in Stillerthal. Jedes noch so kleine Feld musste dem Berg abgerungen und von Steinen befreit werden. Stallmist war ein wertvolles Gut, immer und immer wieder wurde er umgesetzt und gewendet, damit er reifte und auf die Felder und den Gemüsegarten aufgebracht werden konnte. Zweimal am Tag wurden die Kühe gemolken, um die Euter zu schonen. Und auch die Käseherstellung war mühsam und zeitaufwendig. Sie hatte größten Respekt vor diesen Menschen, vor der Selbstverständlichkeit, mit der sie die täglich anfallenden schweren Arbeiten verrichteten, und dem klaglosen Hinnehmen der mageren Ausbeute.

 

Lele packte einen Krug Wasser, ein Tuch und den gut gefüllten Teller in die Kiepe und ging zu Matthis.

«Hayda Matthis!»

Matthis setzte die Hacke ab, richtete sich auf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn.

«Die Sonne steht hoch, es ist Zeit für eine Pause.»

Matthis nickte und setzte sich in den Schatten unter den nächsten Baum. Er wusch sich mit etwas Wasser aus dem Krug die Hände, dann nahm er Teller und Löffel entgegen und begann hastig, das Essen in sich hineinzuschaufeln. Plötzlich hielt er inne und schaute erstaunt auf seinen Teller. Er kaute weiter, nun langsamer und bewusster. Schließlich schluckte er.

«Es», er zeigte auf seinen Teller, «es schmeckt … sehr gut!», sagte er anerkennend. «Aromatisch.»

«Danke!», sagte Lele.

Insgeheim lächelte sie. Es war nicht schwer, Matthis’ fade, gewürzarme Kochkunst zu übertrumpfen. Dennoch freute sie sich. Endlich hatte sie einen Weg gefunden, Matthis ein klein wenig von dem zurückzugeben, das er ihr geschenkt hatte: ein neues Leben, eine neue Heimstatt. Beim Durchstreifen der Wiesen und der nahen Wälder hatte sie zahlreiche essbare Kräuter entdeckt, die sie aus Aldan-Aymurin kannte. Gerne nutzte sie diese, um der kargen Frühjahrskost etwas mehr Geschmack zu geben.

«Die Kartoffeln habe ich in der Schale gekocht und danach mit Dornkraut angeröstet. Das Grün sind frische Federblatttriebe. Federblattsalat ist eine beliebte Delikatesse im Frühjahr, wenn noch nicht viel wächst. Und den Schmelzkäse hab ich mit frischem Schneewurz und Wintergrün bestreut, dann ist er besser verträglich.»

Lele setzte sich entspannt neben Matthis ins Gras und sah zu, wie er seinen Teller leerte. Welch ein Unterschied zu den ersten Wochen ihres notgedrungenen Zusammenlebens. Das Gespräch auf dem Felsen, ihre Offenbarung, hatte den Wandel gebracht. Die Scheu, die bis dahin das Verhältnis zwischen ihr und Matthis bestimmt hatte, war einer vorsichtigen Vertrautheit gewichen. Das Schweigen, wenn es nichts zu sagen gab, war nicht mehr beängstigend, die kurzen Alltagsgespräche zwanglos und freundlich. Deshalb wagte sie, die eine Frage zu stellen, die in ihr gärte, seit sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht war.

«Matthis, damals, als du mich gefunden hast, hatte ich da noch etwas anderes außer meinen Kleidern an mir? Eine Kette mit einer Art Amulett?»

Matthis sah auf und dachte nach. Schließlich schüttelte er den Kopf.

«Nein.»

«Bist du sicher? Vielleicht hast du es nur vergessen. Vielleicht fandest du es schön und hast es genommen, ohne weiter darüber nachzudenken …»

Matthis legte den Löffel beiseite und nahm ihre Hand.

«Lele, da war nichts. Ich würde dich nie bestehlen.»

Lele fühlte, wie sich Eiseskälte in ihr ausbreitete. Sie hatte die Antwort erhalten, vor der sie sich am meisten gefürchtet hatte.

«Dann ist es verloren», flüsterte sie. «Die Zukunft und die Vergangenheit …»

Matthis schüttelte den Kopf.

«Nichts ist verloren. Du HAST etwas verloren. Was verloren wurde, kann wiedergefunden werden.»

Lele starrte vor sich, in die braungrauen Schollen der frisch gestochenen Erde.

«Ich hoffe, du hast recht … Denkst du, wir können schon suchen gehen?»

Matthis schüttelte den Kopf.

«Oben auf den Almen liegt noch Schnee. Du musst dich noch etwas gedulden.»

Seit diesem Gespräch waren viele Tage vergangen. Die heller und länger werdenden Tage zeigten, dass die Warmzeit nicht aufzuhalten war. Immer wieder schaute Lele nach oben auf die Almwiesen und beobachtete, wie die Schneedecke dünner und löchriger wurde. Als sie die ersten freien braunen Stellen sah, holte sie Matthis und zeigte nach oben.

«Schau, es ist Zeit. Ich denke, wir können suchen gehen.»

Matthis schüttelte den Kopf.

«Dort oben ist noch Winter. Wir müssen warten.»

Als nur noch wenige weiße Flecken an den Winter erinnerten, zeigte sie erneut hinauf.

«Schau, es ist Zeit. Ich denke, jetzt können wir suchen gehen.»

Wieder schüttelte Matthis den Kopf.

«In den Kuhlen liegt noch Schnee. Wir müssen warten.»

Doch irgendwann kam der Tag, an dem Matthis nach oben zeigte, wo die von einem grünen Schleier überzogenen Almen in der Morgensonne leuchteten.

«Heute ist ein guter Tag zum Suchen. Bist du bereit?»

Jetzt, wo es soweit war, hatte sie plötzlich Angst. Angst, den Ort zu sehen, wo Matthis sie gefunden hatte. Angst, dass es nicht da sein könnte. Dennoch nickte sie und packte etwas zu Essen in die Kiepe. Dann brachen sie auf.

Es funkelte ihnen aus dem trockenen alten Gras entgegen. Schimmernd und rein, so als wäre kein Winter und keine Schneeschmelze darüber hinweggegangen. Behutsam nahm sie es auf und hielt es gegen die Sonne. Je nachdem wie sie es drehte, leuchtete das Amulett in dunklem Schiefergrau, klarem Silber oder warmem Gold. Die filigran in sich verschlungenen Arabesken, die sich erst bei genauerem Hinsehen als Teil eines meisterhaft geschmiedeten Baumes erkennen ließen, waren unbeschädigt. Wie kleine Samenkörner hoben sich die fein granulierten Äpfel von dem durchbrochenen Laubwerk ab. Selbst die fein geflochtene Kette sah aus wie neu.

Staunend betrachtete Matthis die kunstvolle Schmiedearbeit.

«Was ist das für ein Metall?»

«Trisellerium. Eine Legierung der drei Edelerden.»

Lele nahm es auf, hängte es sich um den Hals und ließ es schnell in ihren Ausschnitt gleiten, wo es versteckt zwischen ihren durch die Schwangerschaft angeschwollenen Brüsten lag. Matthis musterte sie nachdenklich.

«Es würde auffallen hier im Tal», verteidigte sie ihr Tun.

Matthis nickte nur. Er griff sich seinen Stock und streckte Lele seine Hand entgegen.

«Komm, Zeit für die Rückkehr.»

Dankbar griff Lele nach Matthis’ Hand und ließ sich von ihm hochziehen. Die Last ihres Körpers machte sich mittlerweile bemerkbar. Ein Teil der Last auf ihrer Seele dagegen war ihr genommen. Erleichtert und zuversichtlich wie schon lange nicht mehr folgte sie Matthis den schmalen Pfad zum Matthishof hinunter.


Zwei Masuren lang hatte Matthis die Unbeständigkeit des Wetters mit wachsender Ungeduld verfolgt. Dann endlich zeigte sich der Himmel in dem Blau, auf das er so lange gewartet hatte. Er war licht und klar, des Abends mit weißen Quellwolken über den Bergen. Der Almauftrieb konnte beginnen.

Obwohl die Zeit, in der die Kühe auf der Hochalm standen, noch mehr Arbeit als sonst brachte, war sie kostbar. Die Winterweiden rund um den Hof konnten sich erholen, ohne deren Heu seine Kühe im Winter verhungern würden. Außerdem liebten die Kühe den Auslauf und das würzige Almengras und gaben kräftig Milch. Matthis’ Almkäse war begehrt und galt als Delikatesse.

Matthis war daher gut gelaunt, als er am Nachmittag des Auftriebs mit einem gut gefüllten Eimer Milch von der Matthisalm zurückkam. Er trat aus dem Wald hinaus auf die sonnenbeschienenen Wiesen, die den Matthishof umgaben. Er blieb einen Moment stehen und ließ den Blick schweifen. Die Winterweiden waren abgegrast, aber auf den Feldern sprossen Grünkorn, Einkorn und Erdapfel. Die schindelgedeckten Dächer der Matthishofgebäude – Wohnhaus, Kuhstall, Käserei, Hühnerschlag und der in den Hang gebaute Naturkeller – glänzten goldbraun in der warmen Nachmittagssonne. Der Matthishof hatte seinen Namen verdient, dachte er nicht ohne Stolz. Nichts erinnerte mehr an die armselige Kate des Großvaters, in den seine Mutter mit ihm auf dem Rücken aus den Tieflanden zurückgekehrt war.

Und bald, dachte er, würde er eine Familie beherbergen. Er winkte Lele zu, die unten auf der Bank vor dem Wohnhaus saß, aber sie reagierte nicht. Sie starrte abwesend und in Gedanken verloren vor sich hin. Er kannte dasselbe Verhalten von seinen Kühen, wenn sie kurz vor dem Kalben waren. Sie legten sich oft hin, wurden unruhig und suchten den Abstand. Bei Lele, deren Bauchumfang in den letzten Masuren kräftig zugenommen hatte, würde es nicht mehr lange dauern, er rechnete jeden Tag mit ihrer Niederkunft.