Alzheimer - vorbeugen und behandeln

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Ich löste das Problem, indem ich ihn in die Garage schickte, wo er offenbar beim „Aufräumen“ immer den rechten Schuh und die Socke auszog. Ich sagte, er solle mir jeden Schuh, den er fand, zuwerfen. Danach hatten wir wieder sechs oder sieben Paar und waren eine Zeit lang aus dem Schneider.

Es gibt ein Phänomen, dass Menschen, bei denen die eine Seite des Gehirns stärker atrophiert (verkümmert), der nichtdominanten Seite Seite keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Da Steve Linkshänder ist, ignorierte er seine rechte Seite. Beim letzten MRI war in seinem Gehirn (im Hippocampus und der Amygdala) auf der einen Seite eine stärkere Atrophie zu sehen als auf der anderen Seite. (Der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses und ist eines der ersten Areale, die bei Alzheimer beeinträchtigt werden; die Amygdala ist an vielen Gehirnfunktionen beteiligt, unter anderem an den Emotionen, am Lernen und am Gedächtnis.) Ein Arzt erzählte mir von einer Frau, die sich die Lippen nur auf einer Seite schminkte.

Heutzutage hält Steve seine Schuhe die meiste Zeit zusammen und trägt fast immer beide. Doch „perfekt“ ist er nicht. Es kommt vor, dass er verschiedenfarbige Socken und unterschiedliche Schuhe anzieht. Und wenn er zwei Paar Schuhe vor sich stehen hat, vertauscht er sie grundsätzlich untereinander, sodass sie nicht zusammenpassen. Es hilft, wenn er beim Anziehen nur ein Paar zu Auswahl hat.

Dinge auseinandernehmen und die Teile verlieren

Auf Steve passte die Bezeichnung „Tausendsassa“ früher hundertprozentig, denn er konnte immer alles ohne oder mit wenig Anleitung reparieren. Selbst den Computer schraubte er auf, fand meist den Fehler und brachte ihn zu meinem großen Erstaunen wieder zum Laufen. Vor ein paar Jahren wurde das zu einem Problem, denn er konnte zwar nach wie vor Dinge auseinandernehmen, aber wenn er dann abgelenkt wurde, verlegte einzelne Teile unauffindbar.

Als eines Tages ein kleiner Behälter mit Einzelteilen auf geheimnisvolle Weise verschwand, behauptete Steve, er sei „gestohlen“ worden, und ließ sich auch durch mein Argument, ein Dieb würde doch eher etwas Wertvolles mitgehen lassen, nicht davon abbringen. Es ist ein weitverbreitetes Symptom der Alzheimerkrankheit, dass die Betroffenen glauben, Dinge, die sie verlegt haben, seien gestohlen worden. Sie können sich nicht daran erinnern, dass sie sie weggelegt haben, und so scheint es ihnen logischer, dass sie entwendet wurden.

Es konnte auch vorkommen, dass ich die Fassung verlor, wenn Steve wieder einmal etwas zerlegt hatte, die einzelnen Teile an allen möglichen Stellen verstaut hatte und dann nicht mehr fand und wenn ich dann nach der Arbeit meine knapp bemessene Freizeit hungrig und müde mit der Suche nach den Einzelteilen verbringen musste. So machte er es zum Beispiel einmal mit meinem Staubsauger, der mir besonders „teuer“ war.

Ich weiß, dass man ihm dafür keinen Vorwurf machen konnte. Ich habe gehört und gelesen, dass ich die Geduld nicht verlieren darf, aber es gibt eben Zeiten, in denen es mir nicht möglich ist, eine „Heilige“ zu sein, und das war eine solche. Schließlich fand ich – immer noch hungrig – alle Teile wieder und baute den Staubsauger selbst zusammen. Steve konnte sich nicht erinnern, dass er den Auffangbehälter in einem Metallschrank in der Garage verstaut hatte, geschweige denn, warum …

Es dauerte einige Monate, bis ich mit einem Lächeln daran zurückdenken konnte – nicht nur wegen des „Unglücks“, das meinem wertvollen Staubsauger widerfahren war, sondern auch wegen der Heftigkeit, mit der ich „durchgedreht“ war. Es war nicht das einzige Mal, doch daran erinnere ich mich besonders gut – wegen der Intensität meines „Ausrastens“. Das hatte auch damit zu tun, dass ich den Mann verlor, der jahrelang mein Partner war, der so vieles so gut konnte und inzwischen jemand ist, der alle Dinge auseinandernimmt, wenn ich nicht hinsehe.

In dieser Zeit hatte ich Schlafprobleme, kam nicht zur Ruhe und konnte nicht durchschlafen. Oft war ich um 5 Uhr morgens schon wieder wach und meine Gedanken kreisten um die Vergangenheit und die Zukunft und darum, ob ich etwas hätte ändern können, wenn ich die Krankheit früh genug entdeckt hätte.

Gartenarbeit

Steve hat immer gerne im Freien gearbeitet und überall da, wo wir wohnten wunderbare Gärten angelegt. Als die Alzheimerkrankheit ausbrach, verlor er das Interesse und unser Garten verwilderte. Doch er wollte nicht, dass ich eine Hilfe engagierte, und bestand darauf, alles selbst zu machen. Also arbeiteten wir gemeinsam und ich stellte fest, dass Gartenarbeit mir Spaß machte. Ich musste jedoch immer mehr übernehmen, denn Steve konnte es gar nicht mehr. Er konnte auch den Rasen nicht mehr mähen, denn er verlegte die Teile seines Traktormähers. Wir mussten „vorübergehend“ einen Mähdienst kommen lassen, den er heftig kritisierte. Innerhalb eines Jahres hatte sich sein Zustand erheblich verschlechtert; das frustrierte uns und stimmte uns traurig.

Nachdem wir mit der Ernährungsbehandlung angefangen hatten, wollte Steve wieder selbst mähen; wir ließen den Traktor reparieren und er schaffte es nach mehreren Jahren wieder selbst – voller Stolz. Dabei spielte es keine Rolle, dass der Rasen nicht mehr so gleichmäßig und ordentlich gemäht war wie früher. Er hat inzwischen auch aufgehört, an dem Mäher herumzubasteln.

Der Umgang mit der Depression

Im Winter 2008 waren es mindestens 8 Jahre, dass Steve mit einer Depression lebte. Seine frühen Gedächtnisprobleme wurden ihr zugeschrieben, doch Antidepressiva nützten nichts. Die Probleme wurden immer schlimmer und er musste die Nebenwirkungen der Medikamente auch noch ertragen. Er konnte zeitweise überhaupt nichts mehr tun, saß nur stundenlang in seiner Garage und brachte nichts zustande. Die meiste Zeit über war er traurig, zog sich von den Menschen zurück, wurde sehr still und man sah ihn selten lachen oder lächeln.

Das ging sogar so weit, dass er von Selbsttötung zu sprechen begann: Eine Stimme wie seine eigene (doch sie klang manchmal auch wie die seines Vaters, so erzählte er) sage ihm, sein Leben sei sinnlos geworden. Sein Psychiater verschrieb ein zusätzliches Antidepressivum; damit und mit regelmäßigen Therapiegesprächen hellte sich seine Stimmung auf; er sagte, „die Stimme“ sei weg, aber er war weit davon entfernt, glücklich zu sein.

KAPITEL 3


Auf der Suche nach klinischen Studien

Im März 2008 ließen wir Steve am Alzheimer-Institut von Tampa wieder einmal „begutachten“; außerdem hielt ich Ausschau nach neuen Studien, an denen er teilnehmen konnte. Damals gab es keine Studien mit Medikamenten, doch ich meldete ihn zu einer von den amerikanischen Gesundheitsbehörden finanzierten und am Alzheimer-Forschungsinstitut durchgeführten Studie an, die eine umfangreiche jährliche Untersuchung vorsah: mit ausgedehnten Gedächtnistests, Feststellung des Verhaltens im alltäglichen Leben, mit Evaluierung bezüglich Depression, körperlicher Untersuchung, Blutbild und Kernspintomografie. Man trat dort auch mit der Frage an uns heran, ob wir Steves Gehirn zu wissenschaftlichen Vergleichszwecken zur Verfügung stellen würden. Er war dazu noch nicht bereit, wollte jedoch darüber nachdenken.

Wir fuhren ziemlich bestürzt wieder nach Hause, denn es sah nach einer düsteren Zukunft aus und es bestand wenig Hoffnung, dass es für meinen Mann noch rechtzeitig ein wirksames Medikament geben würde. Die Ergebnisse der Kernspintomografie waren noch deprimierender ausgefallen; gegenüber der letzten, die ein paar Jahre vorher gemacht worden und normal gewesen war, zeigte sie einen erheblichen Schwund des Gehirns in den der Alzheimerkrankheit zugeordneten Arealen Hippocampus und Amygdala an: Auf der einen Seite waren sie mäßig, auf der anderen Seite schwer betroffen. Ebenfalls atrophiert war die Großhirnrinde (in der die höheren Gehirnfunktionen angesiedelt sind), und die Hirnkammern (die die Cerebrospinalflüssigkeit enthalten) waren vergrößert. Es war auch zu einem Schwund des normalerweise dort vorhandenen Hirngewebes gekommen. (Jedes Körperorgan kann atrophieren, wenn Zellen aufgrund mangelnder Blutversorgung, mangelnder Energieversorgung oder mangelnder Nutzung absterben.)

Es war klar, dass bei Steve „alles zu spät war“, wie wir unter uns Ärzten oft sagen. Er war immer weniger der Steve, den ich geheiratet hatte, und wurde immer mehr zu einer „Kreuzung“ aus einem gebrechlichen älteren Mann und einem Zweijährigen, jedoch ohne dessen Energie. Ich musste mir ständig Gedanken darüber machen, wo er war und was er gerade machte. Wenn er das Zimmer verließ und längere Zeit nicht wiederkam, suchte ich ihn und fand ihn meist, wie er seinen Schrank, die Garage oder die Schubladen seines Waschtischs nach etwas durchsuchte, aber nicht mehr wusste, was es war. Ein Gedicht von Lois Walsh beschreibt sehr schön die „Zweideutigkeit“, von der die Alzheimerkrankheit begleitet wird: Für ihn ist sie ein ungebetener Gast, der sich zunächst schlau wie ein Fuchs in sein Haus einschleicht und allmählich, aber bestimmt alles wegnimmt, die Persönlichkeit des betroffenen Menschen, der da und doch nicht da ist, dessen Selbst täglich ein Stück mehr verloren geht. Er schreibt über seine Schuldgefühle, dass es nicht ihn trifft, dass er loslässt und durchhält und versucht, mit dieser Zweideutigkeit zu leben.

Zwei neue Studien mit Medikamenten

Ein paar Monate später stieß ich auf die Ankündigung einer klinischen Studie mit Bapineuzumab (einem neuen Impfstoff), an der sich das Alzheimer-Institut beteiligte. Eine Internetrecherche ergab, dass Steve alle Voraussetzungen für die Teilnahme erfüllte.

 

Laura, eine der Forschungsassistentinnen, bei der wir uns zum Eignungstest einfanden, gestaltete den Prozess der Vorauswahl sehr angenehm und klärte uns über das neue Medikament auf, das in unterschiedlichen Abständen intravenös verabreicht werden würde. Eine vorherige Studie mit einem Impfstoff war abgebrochen worden, da bei einigen Probanden Entzündungen im Gehirn auftraten. Doch dieser war ein anderer, der auch Beta-Amyloide aus dem Gehirn entfernt, jedoch über einen anderen Mechanismus. Beta-Amyloid ist ein Protein, das normalerweise im Körper hergestellt wird, dessen Funktion man aber noch nicht ganz versteht. Wenn es sich im Übermaß im Gehirngewebe ansammelt, bildet es dichte Plaques, die ein Kennzeichen von Alzheimer sind. Sie scheinen toxisch auf die Gehirnzellen in der Umgebung zu wirken und die Kommunikation zwischen ihnen zu stören. Wir erfuhren auch, dass etwa 40 Prozent der Probanden ein Placebo erhalten würden, ein bei Medikamentenstudien typisches Vorgehen, das den Forschern erst ermöglicht, die Wirksamkeit und Sicherheit des Medikaments zu ermitteln. Mit der Einverständniserklärung für den Eignungstest kam Steve überhaupt nicht zurecht. Er sollte jede Seite abzeichnen und mit dem Datum versehen, wusste aber von Seite zu Seite nicht mehr, was er tun sollte, weder, wo er unterschreiben sollte, noch, welches Datum wir hatten. Man musste alles Schritt für Schritt mit ihm zusammen machen.

Nach einer Anamnese und der Durchsicht seiner Medikamentenliste wurde er zum Mini-Mental-Status-Test in einen anderen Raum gebracht. Das schockierende Ergebnis war, dass sein Wert gegenüber dem letzten Test zwei Monate zuvor weiter abgesunken war. Um an der Studie teilnehmen zu können, brauchte er mindestens 16 Punkte, denn man wollte das Medikament an Menschen mit leichtem bis mittlerem Alzheimer testen. Steve kam nur auf 12 Punkte und wurde abgelehnt, weil das auf ein fortgeschrittenes Stadium hinwies. Dies war für uns beide ein harter Schlag. Der Arzt riet uns, einen neuen Termin zu vereinbaren, bei dem er versuchen konnte, besser abzuschneiden, denn er schien nach allen anderen Kriterien für die Studie geeignet zu sein. Wir waren ziemlich am Boden zerstört und wieder bei null angelangt. Es sah so aus, als würde ich Steve bald ganz an die Krankheit verlieren.

Ein paar Tage später las ich von einer neuen Studie, die mit Semagacestat von der Firma Eli Lilly & Co. gemacht werden sollte. Wieder schien Steve dafür geeignet. Semagacestat ist ein orales Medikament, ein Gamma-Sekretase-Hemmer, der die Substanzen im Blut, die zu Beta-Amyloid-Plaques im Gehirn werden, vermindern soll. Man wusste nicht, ob das Medikament das wirklich konnte, doch man hoffte, dass sich mit seiner Hilfe weniger Plaques ansammelten. Ein sehr spannender Gesichtspunkt dieser Studie war, dass diejenigen Probanden, die das Placebo erhalten hatten, nach einem Jahr auf das Medikament umgestellt werden sollten. Ich vereinbarte umgehend neue Termine für die Eignungstests der Impfstoff-Studie und der Studie mit dem Eli-Lilly-Medikament.

Einige Tage, bevor wir die im nächsten Kapitel beschriebene Entdeckung machten, kam Steve zum Frühstück in die Küche; er war benommen wie meistens und sprach kaum. Ich stellte eine Schüssel Müsli an seinen Platz, er setzte sich und sagte: „Oh, ich brauche einen Löffel.“ Er drehte sich zum Geschirrschrank um, öffnete die Schublade, suchte und suchte und nahm ein kleines Messer heraus. Dann wandte er sich seinem Müsli zu und sagte wieder: „Oh, ich brauche einen Löffel.“ Das wiederholte sich mehrmals, bis er schließlich einen Löffel hatte. Ich bot ihm meine Hilfe an, doch er sagte: „Nein, ich muss das machen.“ Es ist so viel leichter, diese Dinge für ihn zu erledigen, doch wann immer es möglich ist, versuche ich seine Wünsche zu respektieren und lasse es ihn selbst probieren, egal, wie lange es dauert und wie schmerzlich es ist, dabei zuzusehen. Diese spezielle „Zeitlupen“-Episode blieb mir im Gedächtnis, denn nur ein paar Tage später sollte sich unser Leben so verändern, dass solche Episoden der Vergangenheit angehörten.

KAPITEL 4


Eine zufällige Entdeckung

Völlig unvorhergesehen stieß ich darauf: Am Abend vor dem ersten Eignungstest begann ich darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn Steve für beide Studien geeignet wäre. Für welche sollten wir uns dann entscheiden? Im Internet recherchierte ich nochmals über beide Medikamente, auch ihre potenziellen Risiken und ihren Nutzen. Bei meiner Suche fand ich eine Pressemitteilung über ein drittes, vielversprechendes Medikament namens AC-1202. Die Herstellerfirma, Accera, eine kleine Biotech-Firma, bemühte sich um die Zulassung durch die amerikanische Zulassungsbehörde für Arzneimittel. Sie berichtete, dass AC-1202 bei einer signifikanten (aussagekräftigen) Anzahl von Alzheimerpatienten die Gedächtnisleistung deutlich verbessert habe.

Pressemitteilung:

Alternative Energiequelle für das Gehirn kann die Behandlung von Alzheimer unterstützen

„Die Glukose, also ein Zucker, ist die Hauptenergiequelle für Gehirnzellen. Wissenschaftler haben entdeckt, dass die Glukoseverwertung in bestimmten Gehirnarealen bei Alzheimerpatienten 10 bis 20 Jahre vor dem Auftreten sichtbarer Symptome dramatisch abzusinken beginnt. Der Entzug dieser primären Energiequelle führt zu einer irreparablen Schädigung der Neuronen [Hirnnervenzellen]. Die Ursache für den verminderten Glukosestoffwechsel bleibt unklar.

Wissenschaftler bei Accera haben AC-1202 entwickelt, eine Verbindung, die die ihrer Glukose beraubten Neuronen mit einer alternativen Energiequelle versorgt: Sie ist unter der Bezeichnung ‚Ketonkörper‘ bekannt; diese können auch dann verstoffwechselt werden, wenn das mit Glukose nicht mehr möglich ist. Die Firma Accera geht davon aus, dass eine vermehrte Verfügbarkeit von Ketonkörpern die Probleme mit dem Gedächtnis und andere bei Alzheimer auftretende Funktionsverluste bessert.

Bei der Prophylaxe-Konferenz der amerikanischen Alzheimer-Gesellschaft berichtete Dr. Lauren Costantini, die stellvertretende Leiterin der Abteilung für klinische Entwicklung bei Accera, über die Ergebnisse der Phase IIb einer klinischen, placebokontrollierten Doppelblindstudie mit 152 Probanden, die an leichtem bis mittelschwerem Alzheimer litten. AC-1202 wurde jeden Morgen als Getränk eingenommen (20 g). Die meisten Studienteilnehmer nahmen ihre Alzheimermedikamente wie Acetylcholinesterase-Hemmer weiter, diese Studie maß also die Wirksamkeit von AC-1202 zusätzlich zur bestehenden Therapie.

Die Behandlung dauerte drei Monate, darauf folgte eine 14-tägige Ausschwemmung und eine zusätzliche sechsmonatige Nachsorge, bei der alle Probanden (die placebo- wie auch die mit AC-1202 behandelten Patienten) die Gelegenheit bekamen, AC-1202 im Rahmen einer offenen Folgestudie einzunehmen. Hauptsächlich sollte die Wirkung daran gemessen werden, dass sich der ADAS-Cog-Wert verbesserte (Alzheimer’s Disease Assessment Scale Cognition, eine weitverbreitete kognitive, 75 Punkte umfassende Subskala für die Bewertung von Morbus Alzheimer, die in klinischen Studien zum Testen der geistigen Leistungsfähigkeit eingesetzt wird, um Veränderungen bei den Kernsymptomen der Krankheit festzustellen).

Die Forscher fanden heraus, dass die Probanden, die AC-1202 einnahmen, im Vergleich zur Placebo-Gruppe eine statistisch deutliche Verbesserung zeigten, wobei diejenigen, die nicht Träger der bei der Hälfte aller Alzheimerpatienten vorkommenden E4-Variante des Apolipoprotein-Gens (ApoE4-) waren, am besten ansprachen. Die Wirkung blieb bei diesen Probanden für die Dauer der ursprünglichen Studie erhalten (90 Tage). Im Gegensatz dazu gab es bei den Trägern der E4-Variante des Apo-Gens (ApoE4+) keine Unterschiede zwischen AC-1202 und dem Placebo.

Von den Studienteilnehmern entschieden sich 49 für die offene Folgestudie, 34 davon blieben bis zum Schluss dabei. Nach Auskunft der Forscher zeigte sich bei den Probanden, die 9 Monate lang AC-1202 einnahmen, ein sehr geringes Fortschreiten der Krankheit (mittlere Veränderung beim ADAS-Cog-Wert vom Beginn bis Tag 294 = 0,8).“

Quelle: „A Possible Alzheimer’s Blood Test and Two Trials of Innovative Therapies“ [zu Deutsch etwa: Ein möglicher Bluttest auf Alzheimer und zwei Studien über innovative Therapien], vorgestellt auf der Konferenz der amerikanischen Alzheimer-Gesellschaft zur Demenzprophylaxe im November 2007.

Da wir die Aussage „verbessert das Gedächtnis“ im Zusammenhang mit den bereits bekannten Alzheimermedikamenten nie zu hören bekommen hatten, war ich sehr neugierig, wie diese Behandlung wohl funktionieren würde. Die bis dahin zugelassenen Alzheimermedikamente nahmen bestenfalls für sich in Anspruch, die Verschlechterung der Krankheit zu verzögern. In der Pressemitteilung stand nichts darüber, um welche Art Medikament es sich handelte und wie es wirkte. So machte ich mich im Internet auf die Suche nach AC-1202.

Patentanmeldung Nr. 20080009467

Als Erstes fand ich diese hochaktuelle Patentanmeldung aus dem Jahre 2008, eine Erweiterung der ursprünglich von Dr. Samuel Henderson, Forschungsleiter bei Accera, im Mai 2000 eingereichten Anmeldung. Der 75-seitige Ausdruck enthielt unter anderem eine gut geschriebene Zusammenfassung der damals bekannten Fakten über Alzheimer in Bezug zur vorliegenden Erfindung. Es war von Beta-Amyloid-Plaques und von Neurofibrillen (Alzheimerfibrillen) die Rede, aber auch von einem Problem mit dem Glukosetransport in die Neuronen. Die Forscher hatten entdeckt, dass Nervenzellen in bestimmten Hirnarealen bei Alzheimer Zucker nicht verwerten können und dass dasselbe Problem auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson, Huntington und ALS (amyotrophische Lateralsklerose) auftritt, jedoch in unterschiedlichen Teilen des Gehirns.

Da „klingelte“ es bei mir, denn ich war kurz vorher auf eine Forschungsarbeit von Dr. William Klein und anderen (Klein, 2008) über das Problem des Glukosetransports bei Alzheimerpatienten gestoßen. Die Forscher beschrieben ein Problem mit der Lokalisation der Insulinrezeptoren, die sich normalerweise auf der Oberfläche der Zellmembran befinden, doch das war bei Alzheimerpatienten nicht der Fall. Das Hormon Insulin wird für den Transport von Glukose in die Zelle benötigt. Es lagert sich an den Rezeptor auf der Zellmembran an und löst eine Kette von Stoffwechselvorgängen aus; dadurch gelangt die Glukose in die Zelle und wird dort schließlich in das Energie spendende Molekül Adenosintriphosphat (ATP) umgewandelt. Ohne ATP kann die Zelle weder funktionieren noch überleben. Manche Wissenschaftler bezeichnen die Alzheimerkrankheit sogar als Diabetes vom Typ 3 (De la Monte, 2005); davon wird in Kapitel 14 die Rede sein.

In der Patentanmeldung wurde dann die „Erfindung“ beschrieben, die auf der bereits vorher bekannten Tatsache beruhte, dass Neuronen außer Glukose auch Ketone oder Ketonkörper als Energielieferanten nutzen können. Ketone werden über einen anderen Mechanismus als die Glukose in die Zellen transportiert und so kann man mit ihnen, wenn sie im Blut zur Verfügung stehen, das Glukose-Insulin-Transportproblem umgehen, sodass die Neuronen und andere Gehirnzellen mit Energie versorgt und auf diesem Weg möglicherweise am Leben erhalten werden.

Der „Reservetreibstoff“ des Körpers

Ketone sind sozusagen ein elementarer Faktor der Evolution des Menschen. Ohne sie hätte unsere Gattung nicht überlebt. Unsere frühen Vorfahren und selbst heute lebende Menschen haben Perioden des Überflusses und der Hungersnöte durchgestanden. Wenn Nahrung vorhanden ist, legen wir Glukosevorräte (aus den aufgenommenen Kohlenhydraten) und Fettspeicher an, die wir dann anzapfen, wenn es nichts zu essen gibt. Ist die Glukose im Körper aufgebraucht (was nach 24 bis 36 Stunden der Fall ist), verbrennt der Körper Fett und setzt Ketone frei (kleine kohlenstoffhaltige

Partikel), die dann dem Gehirn und den anderen Organen als Energiequelle dienen, bis es wieder etwas zu essen gibt. Man nennt diesen Prozess, der die Organe schützt, Ketose.

 

Heute ist für die meisten von uns das Problem des Wechsels von Überfluss und Hunger kein Thema. Also kreisen auch nicht viele Ketone in unserem Blut, da wir bestens mit Glukose versorgt sind. Das Umschalten des Körpers von Glukose auf Ketone findet noch unter mehreren anderen Bedingungen statt:

Eine Möglichkeit ist eine ketonbildende, extrem fettreiche und protein- sowie kohlenhydratarme Ernährung, die manchmal zur Behandlung bei schwerer kindlicher Epilepsie eingesetzt wird. Die Atkins- und die South-Beach-Diät mit einem geringen Anteil an Kohlenhydraten sind weniger restriktive Formen einer ketogenen Ernährungsweise und können zu einer leichten Ketose führen. Eine diabetische Ketoazidose ist eine ernste Komplikation des Diabetes vom Typ 1, die dann auftritt, wenn der Ketonspiegel gefährlich ansteigt, fünf- bis zehnmal höher, als es während des Hungerns oder im Rahmen einer ketogenen Ernährung der Fall wäre.

Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit, den Gehirnzellen Ketone zur Verfügung zu stellen. Wenn die Nahrung „mittelkettige“ Fettsäuren enthält, werden diese in der Leber teilweise zu Ketonen verstoffwechselt und gelangen in den Blutstrom. Laut einer Studie erhöht sich die Blutzufuhr zum Gehirn während einer Ketose um sage und schreibe 39 Prozent (Hasselbach, 1996). Ketone passieren die Blut-Hirn-Schranke problemlos und können von den Gehirnzellen als Energiequelle verwertet werden. Sie sind stärker wirksam als die gleiche Menge Glukose und bilden fast doppelt so viel ATP in der Zelle. Der Ketonspiegel aufgrund von mittelkettigen Fettsäuren kommt allerdings demjenigen bei einer diabetischen Ketoazidose nicht im entferntesten nahe.

Mittelkettiges Triglyceridöl

Dr. Samuel Henderson, der Entwickler von AC-1202 [das inzwischen unter dem Markennamen Axona bekannt ist, anscheinend aber nur in den USA; Anm. d. Übers.], meldete ein Patent auf ein mittelkettiges Triglyceridöl für Menschen mit Alzheimer an. [Engl.: Medium-Chain Triglyceride Oil = MCT-Öl; es besteht zu 100 Prozent aus mittelkettigen Fettsäuren.] Die Anmeldung stützte sich auf die Forschungsergebnisse der Firma, die zeigten, dass die durch die Aufnahme der mittelkettigen Triglyceride hervorgerufene leichte Ketose die die geistige Leistungsfähigkeit bei einer erheblichen Anzahl von Alzheimerpatienten zu verbessern scheint.

Dr. Henderson und seine Kollegen fanden in Studien mit Menschen, die an Alzheimer und leichten kognitiven Einschränkungen litten, dass die Aufnahme von 20 Gramm (etwa 4 Teelöffel) AC-1202, von dem wir nun wissen, dass es ein MCT-Öl ist, bei fast der Hälfte der Probanden innerhalb von 45 Tagen zu einer deutlichen Verbesserung der Messwerte des ADAS-Cog-Tests im Vergleich zur Placebo-Gruppe führte. Menschen ohne das schädliche ApoE4-Gen, das das Alzheimerrisiko erhöht, erfuhren eine deutlichere Besserung als die Träger dieses Gens. Außerdem stellte sich heraus, dass die Verbesserung umso größer ausfiel, je höher der Spiegel des von den Neuronen hauptsächlich genutzten Ketons war, des Beta-Hydroxybutyrats. Darüber hinaus schienen Menschen, die Alzheimermedikamente einnahmen – Aricept, Namenda, Exelon oder Razadyne (das früher Reminyl hieß und im deutschen Sprachraum immer noch unter diesem Namen vertrieben wird) – ganz besonders von der Einnahme des MCT-Öls zu profitieren; am meisten diejenigen, die mit Razadyne bzw. Reminyl behandelt wurden. Eine Untergruppe verlängerte die Studie mit diesem Medikament über weitere 6 Monate und bei denjenigen, die weiterhin MCT-Öl erhielten, schritt die Krankheit in diesem Zeitraum nur in einem sehr geringen Maße fort.

Ich erfuhr später, das MCT-Öl seit Jahrzehnten frei verkäuflich ist und von Bodybuildern zur Erhöhung der Magermasse eingesetzt wird. Manche Athleten und Fitnessfans nehmen MCT-Öl, um ihr Energieniveau zu erhöhen und die Ausdauer während sehr intensiver sportlicher Betätigung zu steigern. Studien haben außerdem ergeben, dass MCT-Öl das Sättigungsgefühl erhöht und zur Gewichtsabnahme führen kann, wenn es statt anderer Öle genommen wird.

Eine (in Klammern gesetzte) Offenbarung

Als ich die Patentanmeldung las, wusste ich noch nicht, dass viele Naturkostläden MCT-Öl im Sortiment hatten und dass man es auch problemlos online bestellen konnte. Doch ich erinnerte mich genau daran, dass ich es während meiner Ausbildung und in meiner Praxis Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre als Nahrungszusatz bei Frühgeborenen eingesetzt hatte. MCT-Öl wird auch von Säuglingen ohne Verdauungsenzyme leicht resorbiert und wird heute noch auf vielen Neugeborenen-Intensivstationen verwendet (Tantibhehyangkul, 1975). Die ersten Rezepturen für Frühchen wurden vor 30 Jahren entwickelt und seither wird praktisch allen Standardsäuglingsnahrungen MCT-Öl zugegeben.

Und dann hatte ich plötzlich meine „Offenbarung“: Nur ein einziges Mal in der gesamten Patentanmeldung erwähnte Henderson (wenigstens in Klammern), dass MCT-Öl aus Kokosöl oder Palm(kern)öl stammt. Ich erinnerte mich, dass mir Kokosöl in Naturkostläden schon aufgefallen war und ich mir nicht erklären konnte, was es dort zu suchen hatte – stand es doch in dem Ruf, die Arterien zu „verstopfen“. Ich hatte mir nie die Zeit genommen herauszufinden, warum es wohl als gesund galt.

Nach der Lektüre der Patentanmeldung durchsuchte ich das gesamte Internet wie in einer Art Rausch nach Informationen über mittelkettige Fettsäuren, Kokosöl, MCT-Öl und Ketone. Ich musste die Biochemie aus meinem ersten Studienjahr an der Universität nochmals durcharbeiten (Was unterschied mittelkettige Fettsäuren bloß wieder von kurz- und langkettigen?) und die Zusammensetzung der Fettsäuren des Kokosöls finden. Ich erfuhr, dass es zu nahezu 60 Prozent aus mittelkettigen Fettsäuren besteht, und rechnete aus, dass etwa 35 Gramm davon (7 Teelöffel oder etwas mehr als 2 Esslöffel) 20 Gramm MCT-Öl entsprechen. Wenn ich Steve Kokosöl geben würde, wäre es vielleicht möglich, dieselbe Wirkung zu erzielen …? Steve war Träger des ApoE4-Gens und so musste ich aufgrund der Ergebnisse der AC-1202-Studien damit rechnen, dass er überhaupt nicht darauf reagierte.

Es war der 20. Mai 2008, nach 1 Uhr nachts, und Steves Eignungstest fand am nächsten Morgen um 9 Uhr statt … Ich musste fürs Erste leider Schluss machen – ich konnte vor diesem ersten Termin kein Kokosöl mehr bekommen.

Zwei Eignungstests

Am nächsten Morgen lief alles wie gewohnt. Auf dem Weg zum Neuro- Science Center versuchte ich, Steve auf den Mini-Mental-Status-Test vorzubereiten, wie die Assistentin es vorgeschlagen hatte, und übte mit ihm immer wieder Fragen zur zeitlichen und örtlichen Orientierung: Welches Datum, welchen Tag und Monat, welches Jahr und welche Jahreszeit wir hatten und in welche Stadt wir fuhren … Ich dachte, er würde sich sicher daran erinnern, wo wir 16 Jahre lang gewohnt hatten, bevor wir in die Stadt zogen, in der wir jetzt lebten. Wir sprachen wie üblich auch noch über andere Dinge, aber ich kam immer wieder auf dieselben Fragen zurück.

Der erste Eignungstest

Es war wie beim vorherigen Mal: Steve erfüllte alle anderen Voraussetzungen, doch im Mini-Mental-Status-Test hatte er nur 14 Punkte und wurde nicht in die Studie aufgenommen. Sehr enttäuscht setzten wir uns mit der Ärztin zusammen; sie erzählte uns, dass ihre Mutter ebenfalls an Alzheimer leide, und beantwortete unsere Fragen. Sie bat Steve, eine Uhr zu zeichnen – ein noch präziserer Test für Alzheimer, wie sie sagte. Anschließend zeigte sie mir seine Zeichnung (vgl. Abbildung 1, Seite 52).

Wie man sieht, hatte seine Zeichnung nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Uhr. Die Ärztin nahm mich zur Seite und erklärte mir, dies sei ein Hinweis auf einen eher schweren Krankheitsverlauf. Einerseits überraschte mich das, andererseits auch nicht – es war auf jeden Fall ein Schock und meine Gedanken kreisten darum, dass wir wohl auf den unausweichlichen Verfall zusteuerten, den niemand erleben möchte.