Krebs

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3. Philosophische Zugänge zum Phänomen „Leben“
Das Leib-Seele-Problem nach Aristoteles und Thomas von Aquin

Nach der Verschmelzung von Samen und Eizelle entwickelt sich der Embryo von selbst weiter. Diese innere Lebensdynamik bezeichnet Aristoteles mit dem Begriff der „Selbstbewegung“. Es geht um die Beschreibung einer Lebensdynamik von innen nach außen. Ein Keim entwickelt sich von innen her zu einem erwachsenen Organismus. Der Embryo wird zum Fetus, zum geborenen Kind, Jugendlichen und Erwachsenen.

Es ist ein zentrales Phänomen des Lebendigen, dass es sich dauernd verändert und doch eine sich durchhaltende „Identität“ besitzt. Dieses Phänomen hat Aristoteles veranlasst, von zwei Prinzipien im Lebendigen zu sprechen: von einem sich durchhaltenden und einem sich verändernden. Das eine nennt er „Seele“, das andere „Materie“. Die Seele beschreibt er als inneres Lebensprinzip, Formprinzip und Ganzheitsprinzip.21 Insofern haben nicht nur der Mensch, sondern auch Pflanze und Tier eine Seele. Genau genommen „haben“ sie keine Seele, sondern sie „sind beseelt“, sie entfalten eine innere Lebensdynamik. Beim Menschen konnte Aristoteles die Seele nicht mit dem Phänomen des menschlichen Geistes zusammendenken. Daher fügt er den Geist von außen hinzu. Dadurch verbleibt bei ihm ein Dualismus zwischen Seele und Geist.

Erst Thomas von Aquin bringt im Mittelalter die Leib-Seele-Einheit des Menschen denkerisch zustande.22 Vor dem Hintergrund seines jüdisch-christlichen Weltbildes, das den Menschen grundsätzlich als eine Einheit betrachtet, bringt er griechisches Leib-Seele-Denken mit jüdischchristlichem Einheitsdenken zusammen.23 Er übernimmt Aristoteles’ Auffassung von der Seele als innere Form des Leibes, konzipiert die Seele allerdings so, dass sie beides in einer Einheit ist. Die Seele wird so entworfen, „daß sie beides zusammen in Identität ist: ihrem Wesen nach ganz Form des Leibes und ganz subsistenter unzerstörbarer Geist“.24 „Subsistent“ heißt hier, dass der Geist dem Inneren des Menschen zugrunde liegt und alle anderen Elemente (auch das Seelische im psychologischen Sinn) zu einer Ganzheit integriert. Daher spricht Thomas auch von der „Geistseele“ („anima intellectiva“) als der inneren Mitte des Menschen. Die Tierseele als die sensible und fühlende Seele nennt er „anima sensitiva“ und die Pflanzenseele „anima vegetativa“ (ernährende Seele). Die Medizin kennt noch das Vegetativum oder das autonome Nervensystem, das vom Menschen kaum direkt willentlich beeinflusst werden kann.

In der Philosophie des Thomas von Aquin sind im Menschen alle diese drei Seelenanteile zu einer vereint. Die eine Seele in ihren dreidimensionalen Aspekten formt von innen her den Körper zum Leib. Thomas bringt diesen Sachverhalt in folgender Kurzformel auf den Punkt: „anima forma corporis“, „die (Geist-)Seele formt den Körper zum Leib“. Diese Gegebenheit kann man auch für den Alltag konkret machen: Das Geistsein hängt unmittelbar mit dem Gefühlsleben zusammen und dieses wiederum mit dem Vegetativum.

Konkret ausgedrückt: Das Denken des Menschen ist immer von Gefühlen begleitet und schlägt sogar manchmal bis ins Vegetative durch. Wenn eine Entscheidung zu treffen ist und jemand darüber nachdenkt (Vernunft, „anima intellectiva“), ob er dieses oder jenes tun soll, sind seine Gedanken mit bestimmten Gefühlen verbunden (sensible Anteile, „anima sensitiva“). Bei bestimmten Entscheidungen fühlt der Mensch sich wohl und freut sich, bei anderen ist er unruhig, unglücklich, deprimiert. Die Angst vor einer bevorstehenden Prüfung beispielsweise kann sogar über die Ebene des Gefühls hinaus auf das Vegetativum durchschlagen und zu Übelkeit und Diarrhö führen. Hier zeigt sich die Einheit von Geist (Denken), Seele (Gefühl, Erleben) und körperlichen Auswirkungen (Übelkeit). Die Richtung dieser Kaskade ist dabei vorgegeben: Es beginnt mit dem Gedanken an die Prüfung, ist begleitet von Gefühlen und führt zu körperlichen Reaktionen der Übelkeit. So gibt es ein Gefälle vom Gedanken über das Gefühl zum leiblichen Erscheinungsbild – nie umgekehrt. Der Prozess beginnt eben nicht bei der Übelkeit und führt von dort aus zum Gedanken an die Prüfung, sondern umgekehrt vom Gedanken zum körperlichen Symptom – allgemeiner gesagt: vom Geist zur Materie. So ist die Einheit von Geist, Seele und Körper (Leib) philosophisch ableitbar und auch im Alltag erfahrbar.25

Diese Leib-Seele-Einheit kann auch auf andere Weise philosophisch gezeigt werden, nämlich anhand eines wesentlichen Vollzugs menschlichen Lebens, am Phänomen der Erkenntnis. Erkennen ist ein Wesensmerkmal des Menschen. Der Mensch strebt von Natur aus nach Wissen (und Erkenntnis), so lautet ein Satz der Metaphysik von Aristoteles.26 Daher zeigt Thomas von Aquin die Einheit von Seele und Leib auch anhand des menschlichen Erkenntnisprozesses auf. Der Mensch erkennt nicht nur mit seinem Geist, sondern vor allem mit seinen leiblichen Sinnen: mit Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten und der Geist formt diese Sinneserkenntnis zu einem Urteil: Das ist ein Buch, das ist ein Auto. Denn genau genommen sieht der Mensch kein „Auto“, sondern etwas Großes, Rundes, Eckiges, Metallenes, Rotes und verknüpft mithilfe des Geistes diese Informationen zum Begriff „Auto“.

Im Erkenntnisprozess wirken die materiellen Sinne und der immaterielle Geist als Einheit zusammen. Ziel des Erkennens ist es, die Dinge draußen zu erfassen und durch diese Außenerkenntnis langsam zu sich selbst zurückzukehren. Die Seele formt also in dieser Philosophie den Körper zum Leib. Nur in der Einheit von (Geist-) Seele und Leib kann der Mensch (sich) erkennen.27 Damit ist jeder Leib-Seele-Dualismus ausgeschlossen.28

Zusammengefasst: Der Mensch ist nach Thomas von Aquin eine Leib-Seele-Einheit. Die Seele als das innere Ganzheitsprinzip ist beim Menschen sein Geistsein. Das Wesen dieses Geistseins ist, mithilfe des Leibes zu erkennen (die Welt und sich selbst), den Leib von innen her zu durchformen und sich in diesem Leib auszudrücken. Jedes Erkennen (Geist) ist von einem Fühlen und Erleben (Seele) begleitet und hat Auswirkungen auf den Körper. Es ist das Fühlen eines denkenden Menschen. Dieses Fühlen geht über die emotionale Beziehung zum Mitmenschen hinaus und reicht hinein in ein „Fühlen“, das sich auf einen letzten Seinsgrund bezieht.29 Es ist ein Fühlen, das mit der Letztausrichtung des Menschen auf Absolutes zu tun hat.

Das Leib-Seele-Problem nach Descartes – Medizin als Naturwissenschaft

Im Verlauf der Philosophiegeschichte zerbricht das Denken der Leib-Seele-Einheit in der Zeit nach Thomas von Aquin zunächst langsam,30 später bei René Descartes vollständig. Bei ihm wird der Begriff der Seele vollends auf den des Geistes im Sinne des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins reduziert. Geist und Materie werden in der Unterscheidung von „res cogitans“ (denkende Sache) und „res extensa“ (ausgedehnte Sache) gänzlich voneinander getrennt.31 Die Materie hat eine Ausdehnung, die gemessen werden kann (zum Beispiel das Gewicht des Gehirns), der menschliche Geist hat keine Ausdehnung und kein Gewicht. Er kann selbst nicht gemessen werden (nur in seiner Außenwirkung auf das Gehirn). Die Entwicklung nach Descartes lässt sich so zusammenfassen, dass alle Denkversuche, die durch ihn verloren gegangene Einheit von Seele und Leib wiederherzustellen, bis heute erfolglos geblieben sind.32

Worin die Gründe für den denkerischen Verlust dieser Leib-Seele-Einheit im Einzelnen liegen, kann hier nicht weiter analysiert werden. Für den vorliegenden Kontext genügt es, zu sagen, dass sich die Philosophie durch die Reduktion des Seelenbegriffs auf jenen des Geistes vorwiegend der Reflexion des Geistphänomens zuwandte (zum Beispiel im deutschen Idealismus u. a. mit der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel) und die Medizin sich im Gefolge der aufkommenden Naturwissenschaften vorrangig den ausgedehnten und messbaren Dingen widmete. Sie wurde nahezu reine Naturwissenschaft. Die Medizin suchte folglich Ursachen von Krankheiten in der Materie. Aus dem Philosophicum33 wurde im Medizinstudium das Physikum, der Mensch wurde auf seine physikalisch messbaren Parameter reduziert. Das Grundproblem des Verhältnisses von Seele und Leib wurde auf den Aspekt der Gehirn-Geist- oder Geist-Materie-Problematik verkürzt. Deswegen wird die Seele oft im Gehirn gesucht,34 von der Seele als innerem Ganzheitsprinzip, die den ganzen Körper durchseelt, ist keine Rede mehr.

Diese Verengungen und Vereinseitigungen führen bis heute zu Missverständnissen. Erstens ist der alte Begriff der Seele umfassender als jener des Geistes und zweitens ist die Seele kein Etwas. Sie hat keine Gegenständlichkeit und daher auch keinen Ort. Schon Rudolf von Virchow unterlag einem Irrtum, als er bemerkte, er habe viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden. Die Seele ist kein Gegenstand und kann daher auch nicht gefunden werden. Sie ist in gewisser Weise alles und macht in Verbindung mit dem Leib die ganze Lebendigkeit und Identität des Menschen aus. Umgekehrt verschwindet sie hinter dem körperlich Sichtbaren und verbleibt in ihrer Unsichtbarkeit. Sie wird nur „sichtbar“ durch den Ausdruck im Leib.

Die neuzeitliche Spaltung von Geist und Materie führte denkerisch zu einem Verlust der Seele als innerster Mitte des Menschen. Diesen Verlust greift zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Sigmund Freud auf, begreift aber die Seele jetzt als Unbewusstes, Trieb, Verdrängtes, „Es“; sowie Ich und Über-Ich als rationale beziehungsweise moralische Instanzen.

 

Während in der Sichtweise des Thomas von Aquin die Seele noch als innerste Mitte des Menschen mit Vernunft, Verstand, Gefühl, Emotion, Intuition und den Blick auf Absolutes umfasste, beschreibt der Seelenbegriff Freuds und jener der nachfolgenden Psychologie nur noch die Welt der Gefühle, des Erlebens und des Verhaltens. Der Begriff der Seele hat also eine große Wandlung und Verkürzung durchgemacht: von der innersten Mitte des Menschen als Geist-Seele hin zur Seele im modernen psychologischen Sinn.

So kommt das innere Auseinanderbrechen des Menschen heute an einen Punkt, wo die Medizin als Naturwissenschaft trotz vieler Fortschritte gerade im Bereich chronischer Erkrankungen – zu denen man auch Krebserkrankungen zählen kann – nicht recht weiterzukommen scheint. Sie muss ihren Fokus über die Betrachtung der Materie hinaus auf die menschliche Seele (Psychologie, Psychosomatik) ausdehnen, vor allem aber auf den menschlichen Geist als innerer Mitte des Menschen. So kann sie zu einer wirklich „personalisierten Medizin“ werden. Die alte innere Einheit von Geist, Seele, Körper muss heute neu als transdisziplinärer Zugang der Wissenschaften erarbeitet werden.35 Die neue Einheit ist als Einheit in Verschiedenheit zu denken.

4. Philosophie und Genetik

Die alte Philosophie des Aristoteles und Thomas von Aquin sah den Menschen als Leib-Seele-Einheit von innen nach außen strukturiert (von der Geistseele zur Materie). Die moderne Medizin versucht, den Menschen von außen nach innen (von der Materie zum Geist) zu konstruieren. „Seele“ stand in der alten Philosophie für das Ganze, das den Teilen vorausliegt. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ ist eine Weisheit des Aristoteles, und Herbert Pietschmann schreibt sogar, dass das Ganze nicht nur mehr sei als die Summe seiner Teile, sondern etwas ganz anderes.36 Das Ganze der Zelle und des Organismus bildet die Grundlage dafür, dass die Kommunikationsprozesse zwischen den einzelnen Komponenten funktionieren.37 Dieser „dialogischen Struktur“ liegt eine innere Ganzheit voraus, die nicht Folge und Ergebnis der Kommunikationen ist, sondern dem ganzen Geschehen als Bedingung der Möglichkeit zugrunde liegt.

„Jeder Teil in einem Organismus hat eine spezifische Funktion für das Ganze; erst aus dem Ganzen erklärt sich das Wirken der einzelnen Teile. Man kann weder das Ganze aus den Teilen zusammensetzen, noch ist das Ganze ein die Teile von außen organisierendes Prinzip.“38

Das Ganze organisiert von innen her die Teile, diese sind auf das Ganze angewiesen. Ohne diese Einheit und Ganzheit laufen die Kommunikationen ins Leere oder ins Falsche, die Zellen verfehlen einander oder verändern sich zur Fehlgestalt. Das Ganze der Zelle liegt auch den genetisch-epigenetischen Verschaltungen zugrunde. Die Zelle entscheidet darüber, welche Gene an- oder abgeschaltet werden. Sie ist gewissermaßen die Grundlage, die die Genetik und Epigenetik koordiniert. Auf der nächsthöheren Ebene sind es die Organe und schließlich ist es der gesamte Organismus, der die Ganzheit darstellt und alle niedrigeren Ebenen zu einer Ganzheit integriert.

Wenn Thomas von Aquin dieses Ganze im philosophischen Begriff der Seele (Geistseele) beschreibt und es im erwähnten Satz auf den Punkt bringt: „anima forma corporis“, kann man diese Kurzformel auf einen „ganzheitlichen“ philosophischen Begriff von Information bringen. Diese Vorstellung von Information ist vom Ganzen her zu den Teilen gedacht, von innen nach außen, und veranschaulicht das, was als innere Entwicklungsdynamik und Selbstbewegung des Lebendigen beschrieben wurde. Beim Menschen hat es zentral mit seinem Geistcharakter zu tun.39

Ganz anders als dieser philosophische Begriff von Information versteht sich der moderne empirisch-physiologische Informationsbegriff. Hier werden – ganz konkret – Informationen über den Kranken erworben, indem von außen durch das Messen bestimmter Laborwerte auf eine Diagnose geschlossen wird. Das ist sinnvoll, um sich ein erstes Bild von einer Erkrankung zu machen, aber das tiefste Innere des Patienten erfassen diese Werte nicht. Konkret kann es sein, dass sich jemand innerlich krank fühlt, aber die Laborwerte noch in Ordnung sind und „Gesundheit“ anzeigen. Es kann auch sein, dass sich jemand gesund fühlt, aber die Laborwerte eine andere Sprache sprechen. Natürlich gibt es den Hypochonder, den Simulanten, den psychosomatisch Kranken, bei dem (noch) keine Laborwerte verändert sind, der innerlich aber schon krank sein kann, obwohl die Laborwerte noch „gesund“ anzeigen und sich erst später sichtbar verändern.

So ist der philosophische Begriff der Information, der das Phänomen des Lebendigen von innen her in seiner Entfaltungsdynamik zu beschreiben versucht, zu unterscheiden vom modernen naturwissenschaftlichen Informationsbegriff, der von außen auf die Phänomene blickt, aber die zugrunde liegende Ganzheit und damit das ganze Phänomen nicht erfassen kann. Einfach ausgedrückt: Aus dem Umstand, dass ein Gen für mehrere Proteine codieren kann und sich die Frage stellt, wie sich das Gen „entscheidet“, welches Protein herzustellen ist, zeigt sich, dass nicht das Gen, sondern die Zelle als Ganze festlegt, welche Proteine hergestellt werden sollen.

Die US-Physikerin und Philosophin Evelyn Fox Keller beschreibt es so:

„Die Verantwortung für diese Entscheidung liegt anderswo, in der komplexen Regulationsdynamik der gesamten Zelle. Von hier und nicht vom Gen kommt in Wirklichkeit das Signal (oder kommen die Signale), die das spezifische Muster festlegen, nach dem das endgültige Transskript gebildet wird. Eben die Struktur dieser Signalpfade zu entwirren, ist zu einer wesentlichen Aufgabe der heutigen Molekularbiologie geworden.“40

Das heißt, dass die einseitige Fixierung darauf, dass das Programm für den Zellaufbau, die Zellvermehrung, die Gesamtfunktion des Organismus in den Genen liege, nicht haltbar ist. Evelyn Fox Keller fasst dies so zusammen, dass ein Organismus sich wie ein System von Organen verhält, und zwar so, „als besäße es einen eigenen Geist – als würde es sich selbst steuern“.41 Dies wird heute schon durch Erkenntnisse der Epigenetik zunehmend plausibel dargestellt.

Es geht also darum zu erkennen, dass das Leben mehr von innen nach außen und vom Ganzen zu den Teilen gestaltet wird als umgekehrt. Zwar wirkt auch das Materielle auf den Geist ein und hat von dort her seine Auswirkungen. Ein Hirntumor beispielsweise kann das Zukunftsdenken der Menschen massiv beeinflussen und die materiellen Veränderungen bei Demenzerkrankungen das Gedächtnis. Für eine moderne Forschung und die Interpretation von Krankheiten ist daher beides notwendig: Zum einen soll gemessen werden, was gemessen werden kann, zum anderen sollte klar sein, dass das, was gemessen wird, nicht das Phänomen des Lebendigen mit seiner inhärenten Kommunikation erfasst. Dazu braucht es den Blick von innen, vom Ganzen her.

Wie die Quantenphysik die strenge Gültigkeit der Kausalität im Sinne einer deterministischen Ursache-Wirkung-Relation relativiert hat,42 so könnte in der Medizin und Biologie durch die erwähnten neuen Erkenntnisse des Zusammenhanges zwischen den epigenetischen Mechanismen zum An- und Abschalten von Genen sichtbar gemacht werden, dass eine eindimensionale Ursache-Wirkung-Beziehung auch für das Lebendige nicht zutrifft.43

Damit kann auch auf die ebenfalls mehrdimensionale (transdimensionale) Dimension des Menschen hingewiesen werden, dessen Geistcharakter erst die zweidimensionale psychosomatische Ebene zu einer dreidimensionalen Einheit und Ganzheit integrieren kann. Der ganze Mensch verbindet die Kommunikation der verschiedenen Organe, der Organe mit den Geweben, der Gewebe mit den Zellverbänden, der Zellverbände mit den Zellen und die Zellen über die epigenetischen Mechanismen mit den An- und Abschaltvorgängen von Genen zu einer integrativen Ganzheit. Damit wäre der Weg zu einer wirklich „personalisierten Medizin“ eröffnet und der Einzelne in seiner Einzigartigkeit berücksichtigt.

Diese Erkenntnisse könnten für die Interpretation von Krebserkrankungen fruchtbar gemacht werden. So wäre es möglich, das „Phänomen Krebs“ auch aus der Perspektive der inneren Ganzheit und des Geistes und nicht nur aus jener der Materie zu betrachten. Wenn es zutrifft, was oben dargestellt wurde, dass das Ganze etwas ganz anderes ist als die Summe der Teile, wenn der Geist die Materie formt und die Materie geradezu gefrorener Geist ist, dann haben geistige Aktivitäten auch Einfluss auf die Materie. Das ist philosophisch einleuchtend und wird heute mit empirischen Erkenntnissen bestätigt. Es könnte daher zu dem alten Spruch: „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ die Umkehrung hinzufügt werden: Ein „gesunder Geist“44 als Grundlage eines gesunden Körpers.

5. Was sind Krebszellen?
Naturwissenschaftliche Grundlagen

Im Folgenden soll veranschaulicht werden, wie komplex die Entstehung von Krebserkrankungen vor sich geht. Die Entstehungsgeschichte von Krebserkrankungen hinreichend in kurzer, kompakter Form darzustellen, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist aber unerlässlich, zumindest die rudimentären naturwissenschaftlichen Grundlagen zu kennen. Man benötigt sie, um die Komplexität der Krankheitsphänomene einigermaßen verstehen zu können, auch im Hinblick auf die seelischen und geistigen Hintergründe von Krebserkrankungen.

Naturwissenschaftliche Hintergründe von Krebserkrankungen wurden zunächst in genetischen Veränderungen gesehen, heutzutage kommt der Einfluss epigenetischer Mechanismen hinzu. „Ursache jeder Tumorerkrankung sind Veränderungen im Erbmaterial der primären Tumorzelle.“45 Auslöser dieser genetischen Veränderungen können äußere Faktoren sein, wie Viren, Radioaktivität, Sonneneinstrahlung, Nikotin, Alkohol. Bei bestimmten Krebserkrankungen finden mehrere unabhängig voneinander ablaufende genetische Entgleisungen statt. Diese Veränderungen sind meist erworben, selten ererbt.46 Vornehmlich finden derartige Mutationen in ausdifferenzierten Zellen des erwachsenen Organismus statt, seltener in Keimbahnzellen wie Ei- und Samenzelle.

Diese genetischen Veränderungen können in verschiedener Weise stattfinden. Es können einzelne Basen der Desoxyribonukleinsäure (DNS) verändert sein oder größere DNS-Segmente verloren gehen. Fremde DNS kann eingebaut werden oder einzelne DNS-Segmente können vervielfacht werden.47 Die Auswirkungen dieser Störungen bestehen entweder in der Zerstörung des Gens oder des von dem betroffenen Gen codierten Proteins. Die Entartung besteht in der Herstellung eines funktionell veränderten Proteins oder darin, dass durch die Fehlregulation eines Gens unphysiologische Mengen (also zu viel) eines bestimmten Proteins hergestellt werden.48

Eine weitere Eigenart von Krebszellen ist, dass sie nicht altern. Gesunde Zellen hingegen schon, der gesamte Mensch altert, weil an den Genen bestimmte Endstücke, die Telomere, heften – und diese werden bei jeder Zellteilung verkürzt. So ist die „Endlichkeit“ der Zellen schon eingebaut. Allein bei Keimbahnzellen werden durch die Aktivität der sogenannten Telomerase die Telomere immer wieder verlängert, sodass diesen Zellen eine schier unendliche Teilungsmöglichkeit innewohnt. Bei Krebszellen ist nun ebenfalls das Telomerase-Gen wieder angeschaltet, sodass die Telomere immer wieder verlängert werden. Krebszellen besitzen daher eine Art „Unsterblichkeit“.

Lange Zeit wurde diskutiert, ob es auch Gene gibt, die für das Wachstum des Organismus zunächst notwendig sind, dann aber in der Pubertät abgeschaltet werden müssen, damit aus diesen „guten“ Protoonkogenen nicht „schlechte“ Onkogene, also Krebsgene, werden. Außerdem wurde diskutiert, ob es bestimmte „Schutzgene“ für den Organismus gibt, die Tumorwachstum unterdrücken sollen. Diese sogenannten Tumorsuppressorgene sollten das Tumorwachstum stoppen. Auch diese Suppressorgene – so meinte man – seien bei Krebserkrankungen geschädigt. Die Kombination aus all diesen Fehlstellungen sollte zum Tumorwachstum beitragen.49 Welche Hypothese auch immer noch Gültigkeit hat, was man wohl festhalten kann, ist, dass „im Rahmen der Krebsentstehung mehrere Gendefekte … zusammenwirken müssen“.50 Diese geschädigten Gene unterliegen wiederum den epigenetischen An- und Abschaltmechanismen. Das bedeutet: Ist in der normalen Zelle alles nach einem genauen Plan geregelt, kommt dieser Plan bei Krebszellen durcheinander.

 

Krebszellen lösen sich aus dem Gesamtkontext des Organismus heraus und führen ihr eigenes Leben. Tumorzellen haben ihre normale Struktur und Funktion verloren, sie weisen in späteren Stadien gegenüber gesunden Zellen eine veränderte Gestalt auf und zeichnen sich durch eine veränderte Oberflächenstruktur aus. Das „dialogische“ Miteinander der Zellen ist gestört, ihre fehlgesteuerten Kommunikationen führen zu forciertem fehlgeleitetem Wachstum und die Zellen vermehren sich rapide auf Kosten des übrigen Organismus. Sie bilden schließlich Tumore aus, die Metastasen in die Blutbahn entsenden können. Diese werden zu entlegenen Organen transportiert. Es tauchen fremde Zellen in anderen Organen auf.

„In der letzten Phase kann es zur Metastasierung des Tumors kommen, der durch den Transport von Tumorzellen durch die Blutbahn oder den Lymphstrom andere Lokalisationen einnehmen kann. Die Faktoren, die zur Metastasierung führen können, sind sehr vielfältig. Es ist durchaus denkbar, daß psychoneuroimmunologische Zusammenhänge auch in dieser Phase greifen können.“51

Das Gesamtgefüge der interzellulären Kommunikation kommt durcheinander, die Einordnung der Zellen in den organischen Prozess geht verloren. Am parallel fehlgesteuerten „Leben“ geht der Organismus zugrunde.52 Hintergrund derartiger Fehlentwicklungen ist die schon erwähnte Tatsache, dass jede Zelle bei jeder Zellteilung sowohl das genetische Material als auch die in jeder Zelle enthaltenen Proteine verdoppeln und an die neuen Zellen weitergeben muss. Sie muss etwa dreißigtausend Gene und eine große Zahl von Proteinen für jede Zelle bei jeder Zellteilung neu herstellen. Dies geschieht millionenfach in jeder Sekunde. Bei all diesen Verdoppelungsprozessen können Abschreibefehler und zusätzliche Schäden durch äußere Einwirkungen auftreten.

Es scheint so zu sein, dass all diese physiologischen Prozesse sehr instabil sind und verschiedener Kontrollmechanismen bedürfen. E. Fox Keller schreibt dazu, „daß die DNA aus eigenen Kräften nicht imstande ist, ihre präzise Replikation von einer Generation zur nächsten zu garantieren – dass sie vielmehr eine komplexe Editier-, Korrekturlese- und Reparaturmaschinerie dazu braucht“.53 Nur mit dieser Reparaturmaschinerie ist zu erklären, warum trotz der gewaltigen Zahl an Zellneubildungen, die jede Sekunde stattfinden und mit einer hohen Fehlerwahrscheinlichkeit einhergehen, insgesamt die verbleibende Fehlerquote gering ist und nur wenige fehlerhafte Zellen in den Kreislauf gelangen.

Die Gestalt der Zellen und das Funktionieren des Organismus ist also nichts Starres, sondern etwas höchst Flexibles. Es besteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Zellaufbau und Zellabbau, Zellumbau und Zellveränderung, neuer Synthese von Zellen, Zellreparatur und gezieltem Zelltod. In jeder Sekunde finden im menschlichen Körper milliardenfach solche Umstrukturierungsprozesse statt. Es handelt sich um „Dialoge“ der Zelle mit anderen Zellen. Bei diesen Prozessen spielt die Zellmembran als Abgrenzung nach innen und nach außen eine entscheidende Rolle. Gesunde Zellen halten hier einen gewissen „Diskretionsabstand“ ein, der bei Tumorzellen verloren geht.

Genetische Veränderungen führen allerdings noch nicht zu einer Erkrankung. Denn Gene müssen aktiviert und inaktiviert werden. Die entscheidende Frage scheint dabei jene nach der Gewichtung der verschiedenen Beziehungsgestalten zu sein: des Zusammenhanges zwischen epigenetischen Einflüssen und der Schaltung der Gene, dem Einwirken von Modifikationsfaktoren bei der Ausbildung der Proteine, der Prozesse zwischen den Proteinen, schließlich der Zell-Zell-Kommunikation, dem Wechselspiel zwischen aktivierenden und bremsenden Impulsen von innen und außen einschließlich der hierarchischen Kommunikationsstruktur zwischen Zellen, Geweben, Organen und dem einzelnen Menschen als dialogischem Wesen. Für Krebserkrankungen, wie auch für die meisten Erkrankungen, kann man sagen, dass sie ein multifaktorielles Geschehen darstellen. Oder umgekehrt: Es gibt nicht nur einen Grund für eine Erkrankung, sondern meistens mehrere.

Nimmt man all diese Faktoren zusammen und sieht, dass auf dem Weg der Zellvermehrung und Tumorentstehung eine Unzahl von Überprüfungen stattfindet, dass Reparatur-, gezielte Abbau- und Abwehrmechanismen die Fortexistenz von „entarteten“ Zellen verhindern, erscheint es relativ unwahrscheinlich, eine Krebserkrankung zu entwickeln. Andererseits ist es bei der sekündlich ablaufenden milliardenfachen Zahl von Zellabbau-, Zellumbau- und Neuaufbauprozessen, bei denen die genetische Information abgeschrieben und neue Proteine hergestellt werden müssen, relativ wahrscheinlich, dass Abschreibefehler bei der Zellvermehrung passieren oder zusätzliche genetische Schäden auftreten. Angesichts dieser komplexen Abläufe ist es vielmehr erstaunlich, dass Malignomerkrankungen vergleichsweise selten auftreten.54 Damit es zum Ausbruch einer Krebserkrankung kommt, bedarf es offensichtlich massiver und dauerhafter Schädigungen. Die Erkrankungen entwickeln sich oft über viele Jahre.

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