Schlacht um Sina

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Kapitel 2. Die Verlassenen

»Sei bloß vorsichtig! Wenn sie uns entdecken, ist alles aus.« Jill drückte sich in eine Nische, die sich im zerborstenen Quarzbeton gebildet hatte. Ihr Atem ging stoßweise. Im schiefrigen Licht, das den Stollen erfüllte wie stehendes Wasser, war die zitternde Fahne kondensierender Luft das einzige was von ihr zu sehen war.

»Ich pass’ schon auf«, gab Taylor mit gutmütigem Brummen zurück.

Er stützte die Brust an den Wall aus zerbröselndem Zement und schob sich millimeterweise über die Kante. Dabei vergewisserte er sich, dass die Polarisierung der Objektive auf einhundert Prozent geschaltet war. Dann setzte er das Scheren-HoloSkop an und spähte in die rußige Nacht. »Irgendwas geht vor«, flüsterte er. »Der ganze Horizont scheint zu kochen.«

Lamberts blauer Anzug war ganz in die Kuhle der zertrümmerten Bewehrung eingeschmolzen. Die enganliegende Haube verdeckte ihr Haar. Ihre Hände und Füße steckten in schwarzen Schuhen und Handschuhen aus sensoriellem Tloxi-Leder. Ängstlich beobachtete sie, wie Taylor über die Kante aus zerschossenem Obsidianquarz und die herausstehenden Stahlstifte lugte. Sie war nur ein hechelnder, von Angst durchtobter Brustkorb, der sich im tiefen Schatten der schmalen Nische hob und senkte.

»Was siehst du?«, zischte sie, als Taylor den virtuellen Fokus betätigte, aber weiterhin schwieg.

Er antwortete nicht. Die Servos in seinem linken Arm surrten und die Relais in seiner Schulter klickten, als er das HoloSkop nachführte und systematisch den nördlichen Horizont abtastete. »Irgendetwas ist da los«, sagte er nach einer Weile gedämpft. »Aktivitäten.«

Er schaltete das hochauflösende Nachtsichtgerät ab, wandte sich um und ließ sich mit dem Rücken die nackte Steinwand heruntergleiten. Dann saß er neben Jill und streckte die rechte Hand nach ihr aus. Er wusste, dass das Tloxi-Implantat sie immer noch ein wenig gruselte, und achtete daher darauf, ihr stets die Rechte zuzuwenden, die intakte und organische Körperhälfte. Er selbst hatte sich an die sensorielle, durch mehrere KI-Entitäten gestützte Prothese längst gewöhnt. Vom ersten Augenblick an, als er aus der Narkose erwacht war, hatte er sich ihrer wie einer gewachsenen Extremität bedienen können. Kein Einlernen, keine zeitraubende Reha, keine Phantomschmerzen oder das unangenehme Gefühl, das ihn bei dem ersten Ersatzarm immer gestört hatte, dass das ehemalige Glied irgendwie auch noch vorhanden war und der Wahrnehmung des neuen in die Quere kam. Von all dem konnte diesmal nicht die Rede sein. Die Tloxi-Ingenieure hatten ganze Arbeit geleistet. Kraft und Feingefühl, Tastsinn und Körperbild waren vom ersten Moment an vollkommen natürlich gewesen. Immer öfter vergaß er, dass er überhaupt eine Prothese trug, und er hätte es auch längst vollständig vergessen, wenn Lambert nicht mit einer Miene unterdrückten Angewidertseins seiner linken Seite ausgewichen und stets seine Rechte gesucht hätte.

Das war umso erstaunlicher, als sie ihn schon als Prothesenträger kennengelernt hatte. Sie hatte ihn nie anders erlebt. Als sie sich auf der MARQUIS DE LAPLACE näher kamen, in WO Reynolds’ Sondenbauprogramm und bei Taylors Einführung in der Crew der ENTHYMESIS, hatte er seinen natürlichen linken Arm längst eingebüßt. Das hatte Lambert nie gestört. Vielleicht hatte das mechanische Surren der integrierten gravimetrischen Kupplungen und die manchmal noch etwas unbeholfenen Bewegungen sie sogar auf den jungen Corporal aufmerksam gemacht, der im Lauf der nächsten Jahre zu Reynolds’ Nachfolger als WO in General Nortons Team aufstieg. Mit der puren Tatsache, dass sein dreißigjähriger, zierlicher und doch kraftvoller Körper einen Defekt aufwies, konnte es also nichts zu tun haben. Taylor vermutete, dass Jills Vorbehalte gegen die Tloxi und die sonderbar kalte und anonyme Perfektion ihrer Technik hereinspielten. Auch im tagtäglichen Umgang mit dem höflichen, besorgten, aufmerksamen und aufopferungsvollen Volk konnte Lambert eine letzte Distanz und Reserviertheit nie überwinden. Sie störte sich an dem unpersönlichen Stil des Androiden-Kollektivs, und gerade die lückenlose Geschlossenheit seiner Organisation schien sie abzustoßen. Taylor konnte nur hoffen, dass zumindest der Teil dieser Abneigung, der sich auf seine linke Leibeshälfte, genauer: auf die Strecke von Schulter und Schlüsselbein bis zu den Fingerspitzen, bezog, mit der Zeit legen würde.

Noch immer waren sie Gäste und Schutzsuchende der Tloxi, des geheimnisvollen Sklavenvolks der Sineser. Noch immer wanderten sie allnächtlich von einer der Enklaven und Vorstädte zur nächsten. Noch immer lebten sie in ständiger Gefahr und Todesangst, die durch die beinahe alltäglichen Berichte über Tloxi, die den brutalen Nachstellungen der Herrenkaste zum Opfer gefallen waren, nicht gerade gelindert wurde. Wie Symbionten in einem Ameisen- oder Termitenstaat bewegten sie sich durch die Quartiere und Verstecke der Tloxi. Sie lebten ausschließlich in dem Katakombensystem des insektenhaften Robotervolkes, das seine Schlafstädte miteinander verband, Industriebrachen, Hafen- und Fabrikgelände und Teile der Kanalisation mit einbezog und wie ein lymphatisches Geflecht ganz Sina City unterhalb seiner monumentalen Oberfläche durchzog. Tagsüber schliefen sie in den roten Ziegelstädten, die entlang der großen Magistralen und Radialstraßen in die Außenbezirke der Megalopolis eingelassen waren, und nachts nahmen sie ihre ruhelose Wanderung wieder auf. Durch Tunnel und Stollen, miteinander vernetzte Bunker, leerstehende Lagerhallen, stillgelegte Produktionsstätten, verfallene Schächte und sogar Pipelines gingen ihre Wege, selten auch unter freiem Himmel, über riesige Abraumhalden, Depots ausgebrannter thermischer Elemente, Müll- und Schrottplätze und ganze Schiffsfriedhöfe, auf denen komplette Raumflotten in den ätzenden Winden und dem sauren Regen dieses unwirtlichen Planeten vor sich hinrotteten. Das alles sahen sie nur in den kalten windigen Nächten von Sina, und unterschwellig blieben sie dabei immer auf das Zentrum der Metropole ausgerichtet, dessen Türme sie stets in der Ferne leuchten sahen und das sie wieder und wieder umkreisten.

Zu Lamberts Argwohn gegenüber den Tloxi mochte auch die unverhohlene taktische Rationalität beigetragen haben, deren Zeuge und beinahe auch deren Opfer sie geworden waren. Jennifer hatte recht behalten: es war den Tloxi ein leichtes, Taylors verlorene Gliedmaße zu ersetzen, aber sie warteten damit bewusst, bis Norton und seine Frau den Planeten verlassen hatten. Es war eine unausgesprochene Geiselnahme, mit der die Tloxi sicherstellten, dass die Mitglieder der Union ihr Interesse an ihrer Sache nicht wieder verloren. Während das Scharmützel am Raumhafen noch andauerte, in dessen Verlauf Frank und Jennifer ein kleines sinesisches Shuttle kapern und darin fliehen konnten, wurden Taylor und Lambert zu einer der rätselhaften Tloxi-Fabriken geführt. Der Atem stockte ihnen, als sie die mehrere hundert Meter lange, aus gelbgrünen Elastalplatten gefügte Halle betraten. Es war eine Fertigungsstätte, das sah man auf den ersten Blick, und das Produkt, das hier hergestellt wurde, war kein anderes als die Tloxi selbst. Gegenwärtig standen die Bänder still. In großen Vorratscontainern stapelten sich halb- und dreiviertelsfertige Wesen, die unverkennbar dazu bestimmt waren, das arbeitsame Sklavenvolk zu ergänzen. Gliedmaßen, Torsi, Köpfe, Hände und Füße in separaten übermannshohen Glocken aus durchscheinendem Elastilglas – alle Elemente waren vorhanden. Ihr Innenleben wurde anderswo fabriziert; hier wurden die Teile nur noch zusammengefügt. Auch Bauteile, die auf den ersten Blick nichts von ihrem anthropoformen Zweck verrieten, waren zu sehen. Feldgeneratoren von der Größe einer Faust oder eines Fingergelenks, optische, akustische und andere Sensoren, deren Aufgabengebiete nicht prima vista zu erkennen waren, Servos und Holo-Schnittstellen, stählerne Korsagen und halbkugelförmige grünschimmernde Gebilde, die wie große Walnüsse geriffelt waren und an Hirnschalen erinnerten – alles war bereichsweise in Vorratsbehältern gestapelt oder schwebte an langen Förderbändern quer durch die riesige Halle. Allerdings waren die Maschinen abgeschaltet. Dutzende Köpfe baumelten gleichsam an einer langen Wäscheleine, die sich diagonal durch den unzureichend erleuchteten Raum zog. Am Tag schien eine neue Ladung von KI-Entitäten eingetroffen zu sein; ihre Wafer füllten mehrere Bottiche. Auf Pritschen – oder ruhenden Förderbändern? – lagen Tloxi, die äußerlich unversehrt schienen. Sie waren bereits fertiggestellt, aber noch nicht zum Leben erweckt. Oder sie waren zur Instandsetzung hier, zur Reparatur.

Atemlos von dem Anblick, den in sich aufzunehmen er nicht nachkam, und gekrümmt von den Schmerzen, die ihn marterten, war Taylor in die Halle gewankt. Man geleitete ihn zu einer der Pritschen, die den vorderen Teil der Fertigungsstätte einnahmen. Vielleicht wurden hier auch neue Prototypen erprobt?, durchzuckte es ihn. Er tauschte einen letzten Blick mit Jill und versuchte ihr tapfer zuzulächeln. Dann wurde er auf die Pritsche gelegt und verlor wenige Augenblicke später das Bewusstsein. Lambert wandte den Blick ab, als man seinen Körper auf die gesunde Seite drehte, den von Blut, Schweiß, Schmutz und seröser Flüssigkeit verunstalteten Anzug von ihm löste, den Knochen bloßlegte, der von Eitergeschwüren und vernarbtem Gewebe überzogen war, und den Bohrer ansetzte. In der folgenden Stunde saß sie abseits auf einem Schemel, starrte in die albtraumhafte Halle, deren groteske Details vom flackernden Licht der Instrumente erleuchtet wurden, und versuchte den Brechreiz niederzukämpfen, den der Anblick der vielen herumliegenden Gliedmaßen und Körperteile und die schmatzenden Geräusche in ihr auslösten, die von der Pritsche zu ihr drangen.

Als man sie herbeirief, um das Resultat zu begutachten, war es mit ihrer Selbstbeherrschung zuende. In dem Moment, als ihr Blick auf die schwarzen Stahlklammern fiel, mit dem Taylors Brust und die künstliche Schulter zusammengetackert waren, brach sie in die Knie und sank in sich zusammen.

 

Die beiden erwachten nebeneinander, in einem der austauschbaren, ihnen bis zum Überdruss vertrauten Quartiere. Taylor war schmerzfrei. Er konnte sich des neuen Arms ohne jede Anpassungsschwierigkeit bedienen und klagte einzig über Hunger und reißenden Durst. Lamberts Kommentar war, warum man nicht schon längst diesen Weg beschritten hatte. Dass die Tloxi Taylors Qualen mit angeschaut und seinen Tod in Kauf genommen hatten, um zu verhindern, dass er und sie sich an der Flucht beteiligten, konnte sie ihnen nicht verzeihen. Umso einfacher die Lösung nun gelungen war, umso schwerer wog ihre monatelange Aufschiebung.

Taylor war damit zufrieden, dass er geheilt war. Er erholte sich rasch. Sein Körper, der in den Latinoslums von Pensacola groß geworden und schon vor der Pubertät nicht nur Unterernährung und Tritte, sondern auch Messerstiche kennengelernt hatte, hatte dem Schmerz, dem Blutverlust und den Infektionen getrotzt. Jetzt blühte er schnell wieder auf. Innerhalb weniger Tage gewann der junge WO seine Zuversicht und seinen Tatendrang zurück. Er ließ es nicht mehr zu, dass Jill oder die Tloxi ihn bei den allnächtlichen Wanderungen stützten, und bald war er es, der die Trupps führte und an der Spitze kleiner Kommandos die Wege auskundschaftete, deren Sicherheit niemals garantiert war.

Etwas anderes begann sie zu beschäftigen, während sie die unglaubliche Stadt Stein für Stein und Rohrleitung für Rohrleitung durchkreuzten und auswendig lernten. Nachdem er sein Handicap überwunden und sein Gewicht wiedergewonnen hatte, entdeckte Taylor andere, längst vergessen geglaubte körperliche Bedürfnisse wieder. Er war ein junger Mann, der gerade ein Martyrium durchgestanden hatte. Jetzt entdeckte er die stimulierende Wirkung der Genesung. Die raschen Fortschritte, die er in der Rekonvaleszenz machte, riefen auch andere virile Energien in ihm wach. Mit Blicken, Gesten, halben Worten näherte er sich Jill nun auch von dieser Seite wieder an. Sie waren längst ein Paar. Noch auf der MARQUIS DE LAPLACE hatten sie die Phase keuschen Kennenlernens hinter sich gelassen. Lambert hatte das Bewusstsein ihres deutlich höheren Alters überwunden und in Taylor einen ebenso kraftvollen wie einfühlsamen Liebhaber entdeckt. Nichts stand der Wiederaufnahme auch dieses Teils ihrer Beziehung im Weg, mit einer Ausnahme: sie waren niemals allein.

Nachts krochen und schlichen sie durch die Katakomben Sina Citys, hetzten über Freiflächen, die in der sternlosen Dunkelheit dalagen, und warteten stundenlang in zugigen Durchgängen, bis das Vorauskommando das Zeichen zum Nachkommen gab. Und tagsüber ruhten sie in den Quartieren aus, die die Tloxi ihnen anwiesen und wo sie niemals ohne Begleitung blieben. Ihnen war klar, dass diese Bewachung nicht nur ihrem Schutz diente; sie wurden auch beobachtet. Sie waren gleichermaßen Gäste wie Gefangene. Sie sollten nicht fliehen. Ihrem Bedürfnis nach Intimität standen stets mehrere Tloxi-Aufpasser buchstäblich im Weg. Sie suchten sich in den schmalen Stockbetten oder Pritschen zu verkriechen, in denen die Kollektivwesen selbst zu nächtigen pflegten und die tagsüber leerstanden, sie drückten sich in Erker, unerleuchtete Winkel und dunkle Ecken, oder sie suchten mit Ausrüstung und den dünnen, aber warmen Elastildecken, die sie bei sich führten, ein Liebesnest auszustatten. Immer blieben ihnen mehrere Tloxi so nahe, dass an den Austausch von Zärtlichkeiten nicht zu denken war. Selbst als Taylor sich eines Tages ein Herz fasste und die Wachhabenden bat, sie für eine Stunde in Ruhe zu lassen, rückten diese nur wenige Meter von ihnen ab und sahen dann mit automatenhafter Neugierde zu, wie sie sich aus Decken, Planen und einem Teil ihrer Kleidung ein gemeinsames Bett richteten. Schließlich überwanden sie in einem Anfall von praktischem Trotz alle Scham. Sie beschlossen, dass die Zeit und die Umstände es nicht zuließen, zimperlich zu sein.

»Wer sind denn diese Tloxi schon?«, flüsterte Taylor Lambert ins Ohr, als sie neben ihn unter die Decke gekrochen kam und ihren schmalen, ewig fröstelnden Leib an ihn schmiegte. »Geschlechtslose Maschinen. Wahrscheinlich begreifen sie gar nicht, was wir hier machen.«

Jill kicherte und drängte sich noch dichter an ihn. Er spürte ihre kalten Füße, ihre schwitzigen Hände, die sie zu kleinen Fäusten ballte; ihr blasses Gesicht, auf dem die Erregung in roten Säumen blühte, war direkt vor dem seinen. Nur ihr struppiger, schlohblonder Haarschopf sah oben aus der Masse der aufgetürmten Textilien heraus. Während ihr Flüstern in ein verliebtes Gurren und schließlich in gedämpftes Keuchen überging, bewegte der Deckenberg sich rhythmisch, in immer gleichmäßigeren, rascheren und tieferen Wogen.

Ein Dutzend Tloxi standen im Abstand weniger Schritte halbkreisförmig um das Geschehen herum. Im Infrarot- und im Röntgenspektrum nahmen sie an dem Tumult der Gliedmaßen und Säfte teil. Dabei tauschten sie auf unhörbaren Frequenzen Hypothesen über den Sinn des Gesehenen aus. Sie kamen zu dem Schluss, dass es sich um eine der vielen menschlichen Marotten handeln müsse, nicht restlos erklärbar, aber im Grunde ungefährlich. Aus den unmittelbaren wie auch aus den langfristigen Folgen leiteten sie ab, dass der Vorgang die Verbundenheit der Beteiligten untereinander und auch ihre Kampfmoral im allgemeinen förderte.

Längst hatten Jill und Taylor die letzten zerschlissenen Überreste ihrer Raumanzüge ablegen müssen. Sie trugen die blauen, aus sensoriellem Leinen gewebten Kleider der Tloxi, die ihnen vor allem während der nächtlichen Streifzüge wesentlich besser zustatten kamen als die weißen Schutzanzüge aus leuchtendem und reflektierendem Elastil. Sie schmolzen so auch äußerlich immer mehr in die anonyme Völkerschaft der Tloxi ein. Sie bekamen ihre Nahrung von ihnen, das geschmacksneutrale, aber nahrhafte Granulat, sie trugen ihre Kleidung, sie lebten unter ihnen und liebten sich in ihrer Mitte. Sie teilten ihren Tagesablauf, wenn auch in antizyklischem Sinn, ihre Quartiere, ihre Gefährdung durch die Nachstellungen der sinesischen Polizei. Sie wurden Teil der vielköpfigen und gesichtslosen, pflichtbewussten und nomadisierenden Familie, die die Tloxi darstellten. Sie nahmen die unterschiedslose Rollenverteilung hin, bei der jeder jeden Posten einnehmen konnte, bei der es keine Hierarchien, keine Privilegien und keine Berufe gab, sondern jeder augenblicklich für jeden anderen einspringen konnte. Und sie lernten trotz allem, hauchfeine Nuancen zu unterscheiden. In den Stimmen, in den maskenhaften Gesichtszügen, im Verhalten. Es kam vor, dass sie einen Tloxi bei einer Anwandlung von Humor ertappten. Andere gingen mit grimmigem Landserethos zu Werke. Manchmal glaubten sie in den grünen, kaltflammenden Augen so etwas wie Neugierde oder Anteilnahme funkeln zu sehen, während die gleichgültige Funktionalität bei einem freundlich, beim nächsten abweisend getönt schien. Das alles machte noch keine Personen aus den Tloxi. Sie unterschieden sich so voneinander, wie ein Ei sich eben in der Realität vom anderen unterscheidet. Wenn man sich die Zeit nahm, sie lange und eingehend genug zu betrachten, konnte man individuelle Eigenschaften feststellen. Und Zeit hatten sie mehr, als ihnen lieb war. Tage und Wochen vergingen, seit Frank und Jennifer geflohen waren. Dann war es schon ein Monat. Sie hatten versprochen, dass sie zurückkommen würden. An diesem Wort war nicht zu zweifeln. Aber wir wollten sie das bewerkstelligen? Wollten sie diplomatische Kontakte aufnehmen und sie austauschen, sie freikaufen? Was hatten sie, was hatte die Union in einem solchen Handel zu bieten? Und wenn sie sie mit Gewalt herausholen wollten – wie sollte das gehen? Mit einem kleinen Expeditionskorps landen und sie heraushauen? Mitten in Sina City, im Zentrum des Sinesischen Imperiums, das die gesamte Galaxis unterworfen hatte, in die Höhle des Löwens kommen wegen zwei Menschenleben? Weder Jill noch Taylor konnten das ernstlich glauben. Durch Späher und Informanten der Tloxi hatten sie erfahren, dass die Flucht der beiden geglückt war. Sinesische Verbände hatten ihnen nachgesetzt, die Verfolgung aber schließlich aufgegeben. In untätigen Stunden versuchten sie sich auszumalen, wie Jennifer die Sinesische Flotte ausgetrickst und abgehängt hatte. Aber dann verlor sich ihre Spur im Dunkeln. Und an dieser Stelle endeten dann auch die halblauten Gespräche der beiden Zurückgebliebenen. Konnten die, die entkommen waren, sich zur Erde durchschlagen? Sina kontrollierte den gesamten nordöstlichen Bereich der Galaxie. Man musste schon weiträumig um die ganze Milchstraße herumfliegen, hunderttausende von Lichtjahren. Und wenn sie die Erde erreichten, welche Hilfe konnten sie von dort zu gewärtigen haben, wo man, wenige Jahre nach der Katastrophe, noch im Wiederaufbau befangen war? Am wahrscheinlichsten war es, dass sie sogar gewillt waren, die Abmachung einzuhalten, aber an den Fakten scheiterten, lagen diese nun in der sinesischen Übermacht, der irdischen Bürokratie oder dem desaströsen Zustand der unierten Flotte. Jill und Taylor verfolgten die Gespräche nicht über diesen Punkt hinaus. Sie wussten, dass alle Spekulation und alles menschliche Vertrauen hier versagte und dass der weite, nebelverhangene Bereich der Hoffnung und des Glaubens begann.

»Irgendetwas ist da im Gang«, flüsterte Taylor immer wieder. Seit Stunden turnte er in dem Stollensystem herum, das für Jill so aussah, wie sie sich die Schützengräben des Weltkriegs vorstellte. Er lief zwanzig Meter vor, um dort über den Rand zu spähen, und kletterte an zerborstenen Elastalstahlträgern hinauf, um einen besseren Standpunkt zu gewinnen. Endlich ließ er sich wieder in den Graben hinab und sank schwer atmend neben sie auf den Grund aus zerbröselndem Quarzbeton. Kondenswasser schwitzte von den mannshohen Seitenwänden und sammelte sich in bleifarbenen Pfützen. Beide gaben sie nicht darauf acht, dass sie in einer solchen Lache saßen; die sensoriellen Tloxi-Anzüge hielten die Feuchtigkeit ab. Sie würden im Weitergehen die Selbstreinigungsfunktion aktivieren. In ihrem Inneren war es stets gleichmäßig warm. Dennoch fröstelte Lambert, wenn auch mehr aus Nervosität, Müdigkeit und Furcht. Es war ein Uhr morgens. Sie schmiegte sich an Taylor und legte den Kopf auf seine rechte Schulter. Für einige Minuten verharrten sie so, aneinandergedrängt, schweigend, von der Erschöpfung ausruhend, die dauernde Todesangst in sie eingegraben hatte.

»Wir müssen weiter«, sagte Taylor schließlich. »Wir müssen näher ran.«

Jill hob seufzend den Kopf von seiner Seite. »Wo ran«, fragte sie ergeben.

Der WO war schon aufgesprungen. Er betätigte den Tloxi-Kommunikator, den ihre Gastgeber ihm nach seiner Genesung ausgehändigt hatten. »Weiter nach vorne«, brummte er und winkte mit dem Arm in die Richtung des Grabens. Allerdings brach der Stollen, in dem sie sich befanden, hundert Meter vor ihnen abrupt ab. Sie mussten zurück und einen anderen Weg suchen.

»Mir ist kalt«, jammerte Jill, die ihre roten Hände aneinander rieb und versuchte, sie in die Ärmel des blauen Tloxi-Overalls zurückzuziehen. »Wenn es gefährlich ist, sollten wir lieber sie das machen lassen.«

Taylor betätigte wieder den Kommunikator, einen daumengroßen Taster, der am Revers seiner einteiligen Tloxi-Uniform baumelte. Er gab dem kleinen Trupp, der sie begleitete, zu verstehen, dass er wieder benötigt wurde. Taylor vermutete, dass das Gerät sich dazu einer der Frequenzen bediente, die das Androidenvolk bei seiner kollektiven Telepathie benutzte. Er hoffte, dass sie für die sinesische Polizei nicht zu orten war, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, wie das zugehen sollte. Wahrscheinlich, überlegte er, gingen die Signale einfach im Weißen Rauschen unter, das von Millionen Tloxi in der riesigen Stadt erzeugt wurde.

Sie schlichen geduckt durch den kaum meterbreiten Stollen zurück und tauchten in die tiefere Finsternis eines aufgelassenen Bunkers ein. Dort ließ Taylor den Handflammer aufleuchten, der auf die geringste Leistung geschaltet war. Im schwachen, neongrauen Licht waren fünf oder sechs Tloxi zu erkennen, die in der Dunkelheit gewartet hatten und sie nun mit der automatenhaften Aufmerksamkeit musterten, die Taylor nicht mehr wahrnahm und an die Jill sich nie gewöhnen würde.

»Wir müssen weiter vor«, sagte Taylor und deutete mit einem Kopfnicken in nördliche Richtung.

Die Tloxi bestätigten wortlos, mit sparsamen Bewegungen, dass sie verstanden hatten. Sie schlugen einen Weg ein, der sie über Treppen, Schächte und freischwebende Leitern aus korrodiertem Onyxstahl zunächst mehrere Stockwerke in die Tiefe führte. Hintereinander gehend, marschierten sie dann durch Stollen, die so schmal waren, dass selbst die schmächtige Jill rechts und links mit den Schultern anstieß. Andere waren so niedrig, dass sie sich nur geduckt weiterbewegen konnten. Immer wieder mussten sie durch kreisrunde Irisschotte kriechen, die mitten im Schließvorgang abgeschaltet worden zu sein schienen, oder sie drückten sich durch oktogonale Schleusen. Mehrere Stunden lang wurde kein Wort gesprochen. Auch die Tloxi schienen nicht miteinander zu kommunizieren. Taylors Kommunikator taugte zwar nicht als Empfänger, er zeigte aber an, ob die rätselhaften Frequenzen – falls es sich um ein elektromagnetisches Verständigungssystem handelte – aktiv waren. Die ganze Nacht hindurch zeigte die entsprechende Anzeige nur ein finsteres und griesgrämiges Schwarz. Nur ihr Keuchen war zu hören, das Schlurfen ihrer Schritte auf dem rauen Untergrund, der meist aus verwittertem Obsidianstahl und Bauquarz bestand, und das Rascheln ihrer Anzüge, die an den Seitenwänden streiften.

 

Jill hatte Taylor und zwei der Tloxi voraus gelassen. In dem zertrampelten Licht, das zwei stark polarisierte Handflammer um ihre Beine flattern ließen, marschierte und kroch sie vor sich hin. Dabei hing sie ihren Gedanken nach. Sie kehrte immer wieder zu Norton und Jennifer zurück. Vor dem Kommandanten hatte sie Angst. Selbst jetzt dachte sie mit Furcht an ihn. Seine unberechenbare Art, die mal phlegmatisch war, dann wieder zu cholerischen Ausbrüchen neigte, schüchterte sie ein. Obwohl sie seit Jahrzehnten seinem Team angehörte, hatte sie nie gelernt, damit umzugehen. Sie wusste nie, wie sie ihn ansprechen sollte. Manchmal fragte sie sich, wie Major Ash mit diesem unbeherrschten Mann klar kam. Die beiden waren das Traumpaar der MARQUIS DE LAPLACE, auch wenn in den letzten Jahren Gerüchte kursiert waren, dass auch in ihrer Beziehung nicht alles zum besten stand. Unter der Oberfläche von märchenhaftem Erfolg, der sie zum höchstdekorierten Team in der Geschichte der Fliegenden Crew gemacht hatte, schien es auch bei ihnen Krisen und Schattenseiten zu geben. Lambert hatte sich an dem Tratsch darüber nie beteiligt. Sie wollte auch nicht, dass ihr Verhältnis zu dem wesentlich jüngeren und attraktiveren Taylor durchgehechelt wurde, obwohl ihr klar war, dass die Klatschtanten der MARQUIS DE LAPLACE auch darüber längst hergezogen waren. Häme und Schadenfreude waren ihr fremd. Ihr tat es vor allem um Major Ash leid, die von allen Menschen, die sie kannte, derjenige war, vor dem sie den größten Respekt hatte. Und das betraf nicht nur die Pilotin, die zweifellos die begnadetste Offizierin war, die jemals in den Reihen der Union anzutreffen war. Sie mochte Jennifer vor allem wegen ihrer ausgeglichenen und fairen Persönlichkeit. Sie war, das, was man als einen »feinen Menschen« bezeichnete. Nie hätte sie sich dazu hinreißen lassen, verletzend zu werden. Dazu mochte auch ihre Unterweisung in den Riten und Meditationspraktiken des Prana-Bindu-Ordens beitragen. Sie hatte sich vollkommen im Griff, in einer Weise, die Jill beeindruckte und die ihr fast übermenschlich vorkam. Manchmal fragte sie sich, ob eine solche, schon beinahe maschinenhafte Selbstbeherrschung überhaupt erstrebenswert war. Selbst in den ärgsten Stresssituationen verlor sie nie den Überblick. Meistens hatte sie ausgerechnet dann noch Sinn für Ironie. Ihre geistige Überlegenheit blitzte manchmal in einer Neigung zum Sarkasmus auf, und die roboterartige Geschwindigkeit und Verwachsenheit, mit der sie das Schiff in kritischen Momenten zu führen verstand, entlud sich bisweilen in Ungeduld. Auch Jill hatte dann schon Ermahnungen und Verweise einstecken müssen. Aber sie wusste, dass diese nicht persönlich gemeint und im selben Augenblick schon wieder vergessen waren. Deshalb arbeitete sie gern mit dem Major zusammen, während die pure Anwesenheit des Kommandanten sie befangen machte.

Seltsam, dachte sie und musste beinahe über sich selbst lächeln, wie tief diese Befangenheit sitzen musste, wenn sie ihr selbst jetzt nicht aus dem Sinn ging, da der General Lichtjahre entfernt war und seine Rückkehr ebenso unwahrscheinlich wie lebensnotwendig für sie war.

Sie schleppten sich weiter durch die Katakomben. Manchmal war ein fernes Dröhnen zu hören. In unterirdischen Kavernen stoppten die Vorausgehenden plötzlich. Alle hielten den Atem an. Staub rieselte von Decke und Wänden. In den Pfützen, die auf dem nackten Betonboden standen, kräuselte sich das ölige Wasser. Orgelnde Geräusche glitten über sie hinweg. Suchte der sinesische Polizeiapparat sie mit schweren Gleitern? Es klang, als zögen Schwebepanzer in geringer Höhe über die aufgegebenen Gebäude, in deren Eingeweiden sie sich bewegten. Dann wieder schien das Grummeln unterirdisch zu sein. Wie ferner Donner erschütterte es die engen Stollen, in denen die Luft bebte. Manche dieser Erschütterungen waren so stark, dass die sensoriellen Overalls an ihrer Haut zu flattern begannen. Sie klangen wie Detonationen. Waren Gefechte im Gang? Der Tumult verebbte, sie setzten ihren Marsch fort. Aber die Geräusche kehrten wieder, und zwar umso lauter und häufiger, je weiter sie auf ihrer stundenlangen nächtlichen Wanderung vorankamen. Sie schienen mit einer Sicherheit, über die Jill nicht recht froh werden wollte, direkt auf das Zentrum dieser seltsamen und beängstigenden Aktivitäten zuzusteuern.

Schließlich gelangten sie wieder ins Freie. Sie löschten die Handflammer und vereinbarten Funkstille und Schweigen. Durch eine mannsdicke Stahltür, die schräg in ihren verrotteten Scharnieren hing, traten sie in die graue sinesische Nacht. Jills Zeitgefühl sagte ihr, dass es in einer Stunde hell werden würde. Bis dahin mussten sie sich weit genug zurückgezogen haben, um ein sicheres Quartier für den Tag zu finden. Jetzt stand sie schaudernd im böigen Wind, der sie trotz der selbstwärmenden Kleidung zittern ließ. Taylor und ein Tloxi gingen vor. Im Schutz einer langgezogenen Mauer, die aus den charakteristischen roten Tloxi-Ziegeln bestand, schlichen sie auf eine Halde aus Trümmern und Schrott zu. Lambert überlegte, ob es sich um eine zerstörte Tloxi-Kaserne handelte. Wenn das der Fall war, musste die Zerstörung entweder schon lange zurückliegen – oder die Zerstörer hatten ganze Arbeit geleistet und es so aussehen lassen, als bewege man sich durch ein Labyrinth jahrhundertealter Ruinen. Während sie dem Vorauskommando folgte und in abgehackten Sätzen von einer Deckung zur anderen schnellte, durchzuckte sie die Möglichkeit, dass bald alle Hervorbringungen der genügsamen Tloxi-Kultur so ausschauen konnten.

Zwanzig Meter vor ihr lehnte Taylor an einem zertrümmerten Mauerrest. Er spähte mit dem HoloSkop darüber hinweg. Sie hörte, wie er leise vor sich hinzischte. Es klang, als wolle er »Scheiße« sagen, aber eine ungeheure Verstörung ließ ihn nicht über den ersten atemlosen Laut hinwegkommen. Er setzte das Scherenfernrohr ab und winkte sie heran. Mit einem letzten Blick sicherte sie das Gelände. Dann rannte sie, den Oberkörper waagerecht vorgebeugt, die letzten Schritte zu ihm. Scherben aus geborstenem Elastal knirschten unter ihren Stiefeln. Durch das weiche Tloxi-Leder spürte sie jede Unebenheit, aber die scharfkantigen Splitter drangen trotzdem nicht durch. Schwer atmend drückte sie sich neben Taylor in den Schatten der Mauer. Er drehte sich zu ihr um und reichte ihr wortlos das Sichtgerät. Von irgendwelchen fernen Raffinerien, Verwaltungstürmen und Plasmafabriken fiel ein fahles, rötliches Licht auf sein junges Gesicht, das in einem unaussprechlichen Entsetzen versteinert war. Jetzt erst, als ihr Puls sich beruhigte und ihr Keuchen nachließ, fiel ihr auf, wie laut es hier war. Die Luft schien zu kochen. Die ganze Atmosphäre zitterte und tobte in Bebungen, die im Infraschallbereich angesiedelt zu sein schienen. Sie teilten sich eher über das Bauchfell und über die Vibrationen des Untergrundes mit. Aber auch im hörbaren Bereich war schrilles Singen und Pfeifen zu vernehmen.