Chris Owen - Die Wiedergeburt

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Kapitel 11: IMMERZEIT

»Warum hast du das getan?« Chris sah Michail verständnislos an. Sie überquerten die Straße, die um diese Zeit ausgesprochen belebt war. Wie immer so kurz vor der Rushhour, versuchte ein jeder, noch vor dem allabendlichen Stau Washingtons rasch nach Hause zu kommen. Die fahrenden Autos kümmerten beide nicht. Ungeachtet derer liefen sie, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, zur anderen Straßenseite.

»Ich dachte, es wäre dir recht, Meister.«

»Wie kommst du darauf?«

Michail schwieg. Er wusste, dass er einen Fehler begangen hatte.

»Also, wie kommst du darauf, Michail? Du musst dir dabei doch etwas gedacht haben?«

»Ich wollte der Erste sein, der die heilige Mutter zu Gesicht bekommt.«

»Reicht es dir nicht, wenn ich mich dir anvertraue?«

»Doch, Meister, es ist nur …«

»Und dann warst du noch nicht einmal bei Sandra. Nein, du musstest Lea einen Riesenschrecken einjagen.«

»Verzeih mir.«

»Da gibt es nichts zu verzeihen. Aber halte dich zurück, sonst wird es lange dauern.«

»Willst du damit sagen, ich muss noch warten?«

»Was bedeutet Zeit, Michail? Hier ist die Zeit von morgen die von jetzt. Und die Zeit von gestern ebenso. Immerzeit. Du weißt das.«

Michail nickte.

»Lea ist sehend, doch sie ahnt nichts davon. Daher auch dein Erscheinen als ihresgleichen. Deswegen fand Janette auch den Schmutz deiner Stiefel. Du hast die Grenze überschritten.«

»Wann wird meine Zeit sein, Meister?«

»Thron wird entscheiden, es liegt nicht bei mir. Ich werde dich brauchen, das weißt du. Drei Siegel sind gebrochen, seither stehst du nach Jahrtausenden deines Irrweges endlich an meiner Seite. Raphael dagegen nicht. Er und seine Schergen werden die Apokalypse vorantreiben, wenn wir sie nicht aufhalten.«

Neben einem Hotdog-Stand dache Michail, wie gerne er jetzt eines dieser weichen Brötchen mit Wurst, getrockneten Zwiebeln, Ketchup, Senf und extraviel Käsesoße essen würde. Doch der Hotdog-Verkäufer sah ihn nicht.

»Michail«, unterbrach Chris seine Gedanken, »du hast die Seite gewechselt. Jetzt übe dich in Geduld.«

Kapitel 12: Krieg und Terror

Syrienkrieg, Juni 2016

Die Kämpfe hielten unvermindert an. Kurz vor Weihnachten hatte der amerikanische Präsident den Entschluss gefasst, neben den Bodentruppen Russlands und den im Herbst 2015 entsandten 50 US-Elitesoldaten weitere 1.300 Mann der US Army, davon knapp 500 US Marines, nach Syrien zu entsenden. Zum einen zeigten die bisherigen Luftangriffe nicht den gewünschten Erfolg, zum anderen hoffte er auf elementare Informationen der russischen Manöver direkt vor Ort.

Seit über einem Jahr gab es Streitigkeiten, da russische Kampfjets Stellungen in der Nähe von Homs sowie im Westen Syriens angriffen. Diese lagen außerhalb der vom IS besetzten Zonen und wurden von den Rebellen, die gegen das Assad-Regime kämpften, beherrscht. Daher die Vermutung, mehr noch der Vorwurf, der russische Präsident stärke durch seine Offensive die Regierungstruppen von Baschar al-Assad, indem er die Widerstandskämpfer des jetzigen Regimes schwächte.

Die Lage war äußerst kompliziert, da die syrische Opposition aus unterschiedlichen Rebellengruppierungen bestand: unter ihnen radikal-islamische Gruppen wie Ahrar al-Scham sowie die Nusra-Front, die sich zu al-Qaida bekannte. Andererseits kämpften in den bombardierten Gebieten auch Einheiten, die zur Freien Syrischen Armee (FSA) zählten, einem losen Verband Oppositioneller, die seit dem Arabischen Frühling Assad attackierten.

Bemerkenswert erschien die Tatsache, dass in der globalen Presse nur noch vereinzelt über die Kämpfe und deren Zusammenhänge berichtet wurde. Noch im November 2015, als die Terrorakte von Paris der Bedrohung eine neuartige tragische Dimension verliehen, war ein weltweiter Aufschrei durch die sozialen Medien gegangen. Die Anteilnahme schien immens, ebenso die angekündigten Vergeltungsschläge Frankreichs – ja der gesamten westlichen Welt. Jene unmenschliche Tat verängstigte nun auch Europäer, Amerikaner, einfach alle, die an Demokratie und freien Glauben appellierten. Der Krieg war vor der eigenen Haustür angelangt!

Und dennoch: Von Journalisten gesteuert, gerieten all diese Themen, wie der seit 2011 währende Krieg Syriens, für die Masse der Leser in den Hintergrund. Man kann es sogar so ausdrücken: Der Mensch stumpft mit der Zeit ab, gerade dann, wenn es um Ereignisse geht, die Hunderte, gar Tausende Kilometer von ihm entfernt stattfinden. Über Jahre hinweg ein und dieselben Meldungen in den Nachrichten. Kein Garant für hohe Auflagen. Jungfräuliche Schlagzeilen müssen gemeldet werden, die Entsetzen und Angst auslösen. Dies weckt Interesse und generiert entsprechende Einschaltquoten.

Die letzte große Headline war aus dem Frühjahr 2016. IS-Kämpfer hatten zwei Marine-Soldaten in der Nähe der Kleinstadt Mohassan im Nordosten Syriens in Gefangenschaft genommen. Acht Tage nach der Verschleppung tauchte im Internet ein Video auf, in welchem sich drei vermummte Islamisten hinter einem in der Wüste knienden Amerikaner zeigten. Ein vierter Fanatiker, der ein großes Messer ansetzte und die Kehle des Soldaten durchschnitt, trug keine Sturmmaske. Der Junge konnte nicht älter als fünfzehn sein, dennoch säbelte er so lange am Kopf des Opfers, bis dieser abgetrennt war. Wie im Blutrausch hob der Jugendliche das rot besudelte Haupt in die Höhe, blickte direkt in die Kamera, lachte hämisch, während er kriegerische Parolen schrie. Hinter ihm wehten die drei Vermummten mit den schwarzen Fahnen des Terrors.

Weltweites Entsetzen!

Der amerikanische Präsident geriet in die Kritik und Kandidaten der kommenden Präsidentschaftswahl schlachteten die grauenhaften Bilder auf unmoralische Weise für sich aus. Die Umfragewerte der Demokraten sanken um sieben Prozentpunkte, obwohl jedem politisch interessierten Amerikaner bewusst war, dass die republikanische Partei die Streitkräfte im feindlichen Gebiet Syriens noch weiter ausbauen würde.

Eine Woche später brach das Interesse der Öffentlichkeit ab. Genauso wie bereits zuvor für den anhaltenden Konflikt in der Ostukraine, rund um die Provinzen Donezk sowie Luhansk. Gleiches galt für den Bürgerkrieg in Libyen, den der Islamische Staat mittels 21 Enthauptungen im Jahr 2015 medienwirksam für sich ausschlachtete. Ebenso ließ das Interesse am schwelenden Krieg im Sudan und Südsudan nach, wo unter anderem 2.000 Kinder als Soldaten unterwegs waren, blutige Schlachten zu gewinnen. Irak, Kongo, Somalia, Gaza Streifen, Afghanistan, Pakistan … Es verwundert nicht, dass in den bewaffneten Konflikten des 20. Jahrhunderts über 180 Millionen Menschen zu Tode kamen, mehr als in allen vorangegangenen Jahrhunderten zusammen. Und es war nicht der Plan, dies im 21. Jahrhundert zu ändern. Das Siegel des Roten Reiters war gebrochen.

Kapitel 13: Das dritte Siegel

Innenstadt Ouagadougou, Westafrika, November 2015

Niemand beachtete die Person, die eingehüllt in weißes Tuch die Avenue de l’Indépendance in westlicher Richtung ging. Ohne Hast wandelte die helle Mönchskutte auf das Musée de la Musique de Ouagadougou zu. Vor dem Museum nahm sie am Boden Platz. Einige Touristen, die das Museum soeben verließen, um sich zu ihrem Reisebus zu begeben, schielten im Vorbeilaufen auf jene Gestalt, die wie ein Mönch gekleidet mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze im Schatten der Hauswand saß.

Als die Urlauber nach und nach in den klimatisierten Bus stiegen, zählte die junge Reiseleiterin, freundlich lächelnd, die mitfahrenden Gäste. 23 Personen. 24 sollten es sein. Die schlanke Französin, die seit knapp einem Jahr Ingenieur- und Agrarwesen studierte, besserte während ihres Aufenthalts in Afrika ihr Taschengeld als Stadtführerin auf und verdrehte nun, der fehlenden Person wegen, die Augen. Sie nahm die drei Stufen des Busses, trat hinaus in die glühende Hitze und lief zum Eingang des Museums. In Gedanken darüber, wo ihr fehlender Reisegast abgeblieben sein könnte, nahm sie keine Notiz von dem Sitzenden, der soeben eine Schriftrolle aus der Kutte zog.

Gerade als die Reiseleiterin die Tür zum Museum öffnen wollte, trat eine Frau Mitte sechzig, Hawaiihemd, kurze lilafarbene Shorts sowie Sportschuhe, heraus. »Kommen Sie, Lady, Sie sind die Letzte der Gruppe, der Fahrer wartet schon!«

»Ich musste nur mal rasch, wenn Sie verstehen«, gluckste die Dame und entschuldigte damit ihren kurzen Gang zur Toilette. Noch während sie zum Bus marschierten, gab die Französin dem Fahrer von außen Zeichen, dass sie nun losfahren konnten.

Sie hörten nicht das gebetartige Gemurmel der Kutte von Tod und Krankheit, sahen nicht die fahle Haut des Trägers, erkannten nicht dessen starre Augen, die gebannt die Schriftrolle fixierten. Ebenso nicht das leise Knacken, als das Siegel der Pest und Seuchen brach.

Das Zischen der sich schließenden Bustüren wurde durch die Schreie der Urlauber übertönt, die in hektischer Aufruhr an die Fenster des Busses drängten und entsetzt Augenzeugen eines dramatischen Ereignisses wurden: Die weiße Kutte des Fremden stand plötzlich in Flammen, glich einer lebenden Fackel. Keine panischen Bewegungen, kein Versuch, um sich zu schlagen oder den um sich leckenden Flammen zu entgehen. Nein, mit erhobenen Armen stand er da, starr wie eine Statue gen Himmel blickend, während das gleisende Flammenmeer um seinen Körper züngelte.

 

»Fahren Sie, fahren Sie«, kreischte die Touristenführerin den Busfahrer an – aus Angst, im nächsten Moment würde eine Bombe in die Luft gehen. Sie hatte die Bilder des Terrors vor Augen, die erst wenige Tage zuvor ihre Heimatstadt Paris erschüttert hatten.

Kapitel 14: 9 Monate?

Washington, D. C., 28. Juni 2016

Sandra lag mit weit gespreizten Beinen auf dem Gynäkologenstuhl. Ihr Bauch hatte eine Dimension angenommen, die es ihr unmöglich machte, im Stehen die Füße zu sehen. Bewusst fiel ihre Entscheidung auf Dr. Sisley als Frauenärztin, da sie einen exzellenten Ruf genoss; zudem war sie, ebenso wie Sandra, eine Farbige. Noch unangenehmer wäre es Sandra gewesen, wenn ein männlicher Arzt sie in derart ausgelieferter Stellung untersucht hätte.

Dr. Sisley streifte die hauchdünnen Einmalhandschuhe ab und lächelte. »Sieht alles gut aus, Sandra. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Hatten Sie schon Anzeichen von Wehen?« Sandra schüttelte den Kopf. »Legen Sie sich kurz auf die Liege, dann machen wir den letzten Ultraschall.«

Sandra zog ihr Höschen an, bevor sie sich auf dem mit einem Papiertuch überzogenen Polster ausstreckte. Als Dr. Sisley das glibberige Gel der Tube pflaumengroß auf den Bauch tropfen ließ, fühlte Sandra dessen kühle Substanz. Mit der mobilen Kamera verstrich die Ärztin die gallertartige Masse und schaltete den Monitor an.

»Sehen Sie, er hat sich schon gedreht. Hier, sein Herz.« Dr. Sisley drückte einen Knopf und Sandra hörte dumpf aus dem kleinen Lautsprecher des Ultraschallgerätes die schnellen Herztöne ihres Kindes. Geschickt vermaß die Ärztin ein letztes Mal die Größe des Kopfes, des Rumpfes, der Arme sowie der Beine. »Das wird ein Prachtexemplar, Sandra. Freuen Sie sich darauf. Wollen wir noch ein Foto machen?«

Bevor Sandra antworten konnte, sah sie das Standbild ihres Babys. Eine winzige Stupsnase mit fünf wie Shrimps aussehenden Fingern davor. Der Drucker surrte leise, als eine Minute später der farbige Ausdruck auf dem Tisch lag. Dr. Sisley reichte Sandra ein feuchtes Tuch, um den Bauch zu reinigen.

»Hätten Sie noch eine Minute Zeit, Sandra?«

Während sich Dr. Sisley die Hände wusch, knöpfte Sandra ihre weite Stoffhose zu.

Dann saß sie vor dem weißen Besprechungstisch.

»Sandra, verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, es geht mich eigentlich auch nichts an, aber – wann sagten Sie, sei Ihr Mann verstorben?«

Sandra ärgerte sich. Hätte sie doch nichts davon erzählt, dass der Erzeuger des Kindes ihr verstorbener Mann ist. Natürlich kannte Dr. Sisley die Zeitungsartikel, ebenso die Schlagzeilen des vergangenen Jahres. »Juni 2015«, erwiderte Sandra kleinlaut und ahnte, was nunmehr kam.

»Ihnen ist bewusst, dass das nicht sein kann?«

Sandra nickte. »Durchaus, Dr. Sisley.« Sie dachte nach. Bliebe sie bei der Erklärung, Stephen sei der Vater, würde ihr Dr. Sisley nicht glauben. Allerdings zu lügen, zu behaupten, sie hätte nur drei Monate nach dem Attentat in der Kirche Charlestons mit einem anderen Mann Sex gehabt – diese Unmoral zu äußern, kam nicht infrage. Daher wagte sie den Vorstoß: »Dr. Sisley, das Thema hängt wie ein Damoklesschwert über mir. Meine ganze Familie kann rechnen.«

»Hat es jemand angesprochen?«

»Nein und ich weiß nicht, was schlimmer ist. Darüber zu reden oder es totzuschweigen.«

»Von Frau zu Frau, Sandra, mir können Sie die Wahrheit sagen. Sie sollten sogar. Ich bin Ihre Ärztin und als solche für Ihre Gesundheit sowie die des Kindes verantwortlich.«

»Dr. Sisley, ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Das letzte Mal, dass ich mit einem Mann geschlafen habe, war im Juni 2015. Mit meinem Mann!«

»Das würde bedeuten, dass die Schwangerschaft drei Monate verspätet eingesetzt hat oder aber Sie statt 40 Wochen 52 Wochen schwanger sind. Beides ist unmöglich.«

»Und doch ist es so.« Sandra blieb bei ihrer Ausführung.

»Hatten Sie nach dem tragischen Tod Ihres Mannes Ihre Tage?«

»Ich weiß es nicht, Dr. Sisley. Die Zeit, die Monate danach waren derart dramatisch. Ich kann es Ihnen nicht sagen.« Die Anspannung in Sandra wuchs. Von daher beruhigte Dr. Sisley ihre Patientin.

»Also, Sandra, ich glaube Ihnen. Somit haben wir es mit einer äußerst sonderbaren Schwangerschaft zu tun bei einer außergewöhnlichen Frau.« Sie lächelte Sandra an und beließ es vorerst dabei. Die Tatsache, dass dieses Kind unmöglich von Sandras verstorbenem Mann sein konnte, war ja auch im Grunde genommen die ganz persönliche Privatangelegenheit ihrer Patientin.

»Danke, Dr. Sisley. Mir ist nur wichtig, dass mein Junge gesund zur Welt kommt.« Sandra lächelte etwas gehemmt.

»Machen Sie sich hierüber keine Sorgen. Ich werde bei der Geburt dabei sein. Das lasse ich mir mit Gewissheit nicht entgehen.«

Kapitel 15: Tafaris Reise

Tamiga, Westafrika, 2016

Akono kickte kleine Steine auf dem ausgetrockneten Weg vor sich her. Wie immer begleiteten ihn seine Freunde Bahati und Orma von der Schule nach Hause. Das durch europäische Unterstützung aus Lehmziegeln erbaute Schulhaus wurde 1993 mit einer großen Feier der knapp tausend Dorfbewohner eingeweiht. Akono war elf, Bahati ebenfalls, Orma bereits zwölf Jahre alt. Sie kannten es nicht anders, als jeden Morgen, außer sonntags, zum Unterricht zu gehen. Schreiben, Lesen, Rechnen, die englische Sprache sowie Landwirtschaft und Ackerbau zählten zu ihren Fächern, während sie die Freizeit am liebsten mit ihrem Sport, dem Fußballspielen, verbrachten.

Als Akono in die Nähe der strohgedeckten Lehmhütte seiner Eltern kam, verabschiedete er sich von den Freunden. Die etwas abseits gelegene Hütte des Kraals lag unweit der rund angeordneten Zentrumshütten des Dorfes. »Wir sehen uns. Ich bring meinen Ball mit. Wird aber später, weil ich Vater noch helfen muss.«

Die restliche Wegstrecke rannte Akono barfuß, ohne die Unebenheiten des Weges – dank der Hornhaut an den Füßen – zu spüren. Freudig stürmte er durch die halbrunde Öffnung der Behausung ins Innere. Der unbändige Hunger eines Elfjährigen musste gestillt werden, bevor man sich eiligst der Ausbesserung des Ziegenzaunes widmen konnte.

In der Lehmhütte war es düster, da einzig durch die Eingangsöffnung sowie eine weitere, rechteckige Fensteraussparung Licht in den Raum drang. Zu seiner Verwunderung lag die Mutter auf der Liege, während sein Vater kniend ihre Stirn mit einem Lappen befeuchtete.

»Ist Oluchi« – so hieß seine Mutter – »krank?«

»Ihr geht es nicht gut, Akono. Schon seit mehreren Stunden. Sie hat Fieber.«

»Was ist mit dem Zaun?«

»Der muss warten, Akono. Lauf hinüber zur Krankenstation und frag Tafari, ob er kommen kann.«

Die Krankenstation, vor drei Jahren von der UNESCO errichtet, bestand aus einer rechteckigen Lehmhütte, einem Zelt mit sechs Liegen sowie dem einheimischen Tafari, der aufgrund seiner rudimentären Grundkenntnisse der englischen Sprache durch Mitarbeiter der Organisation »Ärzte ohne Grenzen« in die medizinische Grundversorgung eingewiesen worden war. Daneben verfügte die Station über ein Auto, was im Dorf zu einer Besonderheit zählte.

Sofort lief Akono los, als er begriff, dass seine Mutter ihn weder angesehen noch begrüßt hatte. Sie lag nur da, schwer atmend, mit geschlossenen Augen. Wenige Minuten später stürmte er in das Zelt der Station. »Tafari, du musst dringend kommen! Oluchi ist krank. Sie hat nicht mal gelächelt, als ich in die Hütte kam.«

Tafari verband gerade einem Dorfbewohner die Hand. »Was hat sie, Akono?«

»Weiß nicht, aber Vater sagt, sie habe hohes Fieber. Komm mit!«

Unter Zuhilfenahme von braunem Klebeband fixierte Tafari den Verband des Verletzten, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und verließ das Zelt. »Warte noch, ich hole meine Tasche.«

Wenig später, bei Akonos Eltern angekommen, maß Tafari das Fieber von Oluchi sowie deren Blutdruck. Für mehr reichte seine Grundausbildung nicht. So konnte er nur mutmaßen, was der Auslöser der hohen Körpertemperatur war. »Wie lange hat Oluchi bereits so hohes Fieber?«

»Heute Morgen, als wir aufgestanden sind, ging es ihr gut. Sie klagte über Kopfschmerzen, aber es ging ihr gut«, meinte Thabo, Akonos Vater.

»Und wann kam das Fieber?«

»Das kann ich dir genau sagen: kurz nachdem Akono zur Schule ging, also um sieben Uhr. Ich war am Zaun der Ziegen beschäftigt. Sie rief nach mir – da sah ich ihre glänzenden Augen. Seitdem ist sie immer schwächer geworden und jetzt …« Thabo sah besorgt zu seiner Frau.

»Ich kann dir vorschlagen, sie mit nach Burkina Faso in das dortige Krankenhaus zu nehmen. Da fahre ich später hin.«

»Ist es schon so weit? Fliegst du?«

»Ja, morgen Früh geht’s los.« Tafari blickte voller Stolz, da er als erster Bewohner seines Dorfes in ein fremdes Land außerhalb Afrikas kam: Amerika. Er folgte einer Einladung von »Ärzte ohne Grenzen«, die für den Flug wie auch für einen einwöchigen Aufenthalt aufkamen. Seine Aufgabe bestand darin, der großen Stadt zu berichten, was sich im Dorf seit der Unterstützung durch das Ausland alles geändert hatte. Vom Bau des Brunnens, dem Schulsystem, der neu geregelten Landwirtschaft, die es ermöglichte, dass das Dorf zum Selbstversorger wurde. Und natürlich von seiner Krankenstation.

Thabo blickte zu Akono. »Kommst du alleine klar? Ich würde gerne mitfahren, um auf Oluchi aufzupassen. Morgen Abend bin ich zurück, wenn ich jemanden finde, der mich fährt.«

Akono nickte erleichtert, dass sich sein Vater entschlossen hatte, bei der Mutter zu bleiben. Die Dorfbewohner würden sich um ihn kümmern, so war es üblich. Eigentlich wurden die Kinder nicht nur von ihren Eltern erzogen, sondern von der gesamten Dorfgemeinschaft.

Tafari stand auf und warf einen letzten Blick auf Oluchi. Er selbst könnte ihr lediglich fiebersenkende Mittel geben, aber Oluchi schien sehr geschwächt. Und das nach so kurzer Zeit?

Auf der knapp zweistündigen Fahrt ins Hospital begegneten ihnen keine weiteren Autos. Ab und an kreuzte ein Eselskarren den Weg. Ansonsten weit und breit entlang der Strecke Buschland, unterbrochen von vereinzelt stehenden Lehmhütten und Kornspeichern. Oluchi lag fiebernd auf der Rücksitzbank des Wagens, während draußen eine flirrende Hitze von 45 Grad Celsius herrschte.

Kurz bevor sie in Burkina Faso ankamen, kontrollierte sie eine schwer bewaffnete Sondereinheit der Polizei. Tafari streckte eine in Plastik eingeschweißte Karte durchs Fenster, die ihn als Mediziner auswies, und wechselte einige Worte. Man winkte ihn durch und wenig später erreichten sie Léo, einen staubigen Marktflecken Burkina Fasos. Die sandige Straße war gesäumt von Müll sowie zerschlissenen schwarzen Plastiksäcken, deren Gestank nach verfaultem Obst und Tierkadavern ins Wageninnere drang.

Vor der Klinik, einem für diese Gegend beispiellosen Gebäudekomplex, machten sie halt. Das Gebäude, ein sandsteinfarbiger, zweiflügeliger Bau, zierten bunte Glasfenster und es verfügte neben Räumen für Ärzte und Klinikpersonal über zehn Betten und eine separate Isolierstation.

Thabo trug seine Frau durch die Flügeltüren in die Eingangshalle. Oluchi, außerstande sich zu bewegen, bekam nur schemenhaft mit, was um sie herum geschah. So schlecht war es ihr in ihrem ganzen Leben noch nie gegangen. Schmerzen peinigten sie, die sie trotz ihres einsetzenden Fieberwahns spürte.

Eine farbige Schwester mit rundem Gesicht und breiter Nase rollte ihnen eine Trage entgegen. Während Thabo an der Information die Personalien seiner Frau diktierte, folgte Tafari der Patientin, die von der Krankenpflegerin in einen Nebenraum geschoben wurde. Dort saß ein etwa fünfzigjähriger Arzt mit weißem Kittel, ein Stethoskop um den Hals.

»Seit wann hat sie hohes Fieber?«, fragte der Arzt mit besorgter Miene.

»Laut ihrem Mann seit heute Morgen.«

»Hast du ihr etwas dagegen gegeben?«

»Nein, wir sind direkt aus Tamiga hierhergefahren.«

Der Arzt nickte, während er die Entnahme von Blutproben vorbereitete. Dann wies er die Schwester an, der Infusion ein fiebersenkendes Mittel beizumischen. »Wir werden die Blutwerte testen und sie hierbehalten.«

Inzwischen war Thabo hinzugekommen; er verfolgte die Unterhaltung des Mediziners mit Tafari und beobachtete die Schwester beim Anlegen der Kanülen. Oluchi lag indes noch immer mit geschlossenen Augen auf der Krankenliege. Fein säuberlich verwahrte der Arzt die sechs mit Oluchis dunkelrotem Blut gefüllten Reagenzgläser und versah sie mit Aufklebern, die diese eindeutig identifizierten.

 

»Morgen wissen wir mehr. Bleibst du in der Stadt?«, fragte der Doktor.

»Ich fliege morgen und werde die Nacht wohl am Flughafen in Ouagadougou verbringen.« Tafari platzte fast vor Stolz.

»Könnte ich bei ihr bleiben?«, fragte Thabo sorgenvoll dazwischen.

»Sie können gerne die Nacht hier verbringen. Die Schwester wird Ihnen zeigen, wo Sie schlafen können und etwas zu trinken bekommen. Morgen wissen wir mehr.«

Es war kurz vor 06:00 Uhr, als sich die Sonne über das Flughafengelände erhob. Trotz der Aufregung gelang es Tafari, in der Wartehalle ein wenig zu schlafen. Sein Gepäck, ein hellbrauner, in Kunstleder gefasster Koffer, hatte er bereits am Abend eingecheckt. So musste er nur noch zu Gate 9, um die Maschine zu erreichen.

Punkt 07:15 Uhr spürte er, wie sein Körper in den Sitz der United Airline gepresst wurde. Über 10.000 Kilometer Flugstrecke lagen vor ihm. Im Direktflug wären es knapp 9.500 gewesen, doch für seinen Flug war eine Zwischenlandung in Brüssel (Ankunftszeit 14:17 Uhr Ortszeit) eingeplant. Dummerweise hatte er dort fünf Stunden Aufenthalt, sodass die Ankunft in New York für 22:25 Uhr angekündigt war. Danach flog die Maschine mit den restlichen Fluggästen weiter zum endgültigen Ziel: Miami.

Die Boeing 767-300 fasste knapp 200 Sitzplätze, wovon einige im hinteren Bereich unbesetzt blieben. Neben Tafari saß eine ältere Dame mit hellem, violett gefärbtem Haar, welches trotz Dauerwelle einen dünnen, eingefallenen Eindruck machte. Eigentlich müsste sie bereits ergraut sein, dachte Tafari, als er sie unbemerkt von der Seite anblinzelte. Sie trug eine braune Safarihose, weiße Bluse, Sportschuhe. Ihr Gesicht war stark geschminkt, wie Tafari befand, was vorrangig an dem dick aufgetragenen roten Lippenstift sowie den mit grüner Farbe bemalten Augenlidern lag. Sowohl ihre Hände als auch das Gesicht waren faltig; braune Altersflecke zierten die Handrücken. Es störte Tafari nicht, dass die Dame geringes Interesse an ihrem Sitznachbarn zeigte. Außer einem kurzen Lächeln, als sie ihren Platz gefunden hatte, nahm sie weiter keine Notiz von ihm. Dies änderte sich, nachdem sie den dritten Whisky bei der Stewardess bestellt und den Plastikbecher, wie die beiden anderen zuvor, in einem Zug geleert hatte.

»Sprechen Sie Englisch?«, fragte die Alte, als sie bereits über zwei Stunden in der Luft waren.

»Ja, ein wenig«, erwiderte Tafari und wandte den Blick vom runden Bullauge weg der Lilahaarigen zu.

»Sie müssen nicht denken, dass ich immer so viel trinke, aber ich leide unter schrecklicher Flugangst. Ungewöhnlich für eine New Yorkerin, meinen Sie nicht auch?«

»Gewiss.«

»Ich bin froh, dass Sie so schlank sind. Auf dem Hinflug vor einer Woche saß eine fürchterlich dicke Frau neben mir. Sie hat gar nicht gut gerochen.«

Tafari lächelte in der Hoffnung, nicht selbst einen üblen Geruch an sich zu haben. Immerhin trug er seine Kleidung schon seit zwei Tagen, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, im Flughafengebäude zu duschen.

»Wissen Sie, welcher Film gezeigt wird?«, fragte die Lilahaarige weiter.

»Nein, doch vor Ihnen liegt ein Programmheft. Da steht es, glaube ich, drin.«

»Ach Gott, natürlich. Daran hab ich alte Dame mal wieder nicht gedacht.« Sie kramte in dem Netz, das an der Rückenlehne des Vordersitzes angebracht war, und studierte die Bordzeitung.

Tafari blickte wieder in den strahlenden Himmel, der hellblau leuchtend über, neben und unter ihm zu sehen war. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er ein erhebendes Gefühl von Freiheit. Mit geschlossenen Augen malte er sich aus, wie es in New York sein würde. Die hohen Häuser. Er hatte bereits Bilder davon gesehen, doch schien es ihm unmöglich, in einem dieser Wolkenkratzer im hundertsten Stockwerk zu wohnen. Wie lange man da wohl braucht, um nach unten auf die Straße zu kommen? Die Straßen! Es müssen geteerte Wunderwerke sein. Nicht wie in Afrika, wo sie aus kilometerlang platt gewalztem Wüstensand bestehen. Über diesem Gedanken schlief er ein.

Sein Schlaf sollte nicht lange währen, denn die Sitznachbarin hantierte mit ihren knöchrigen Fingern eine halbe Stunde später neben ihm an der Armlehne, um den Stecker ihres Kopfhörers unterzubringen. Freundlich bot er Hilfe an, nahm selbst seinen Ohrhörer und sah sich gemeinsam mit vielen anderen Fluggästen den Spielfilm an.

Gegen Mittag verspürte er den Drang, die Toilette aufzusuchen; auch fröstelte er wegen der niedrigen Temperaturen der Klimaanlage. So drängelte er an den kurzen Beinen der Alten vorbei, nahm seine Jacke aus dem über den Sitzen angebrachten Staufach und lief geradewegs den Gang Richtung Cockpit. Die Kühle des Fliegers kratzte in seinem Hals, obendrein begann die Nase zu triefen. Hätte ich mir doch die Jacke schon vorher angezogen, schimpfte Tafari mit sich. Er war andere Temperaturen gewöhnt – nicht die der klimatisierten Räume.

Als die Toilette frei wurde, quetschte er sich durch die enge Tür. Beim Waschen der Hände hatte er anfänglich Schwierigkeiten. Dem Wasserhahn fehlte der Regler zum Drehen! Doch wie von Zauberhand lief das Wasser, sobald seine Hände in die Nähe des Hahns kamen – zog er sie zurück, hörte auch der Wasserhahn mit der Arbeit auf. Erstaunt über diese Technik, putzte er sich anschließend mit einem Papiertuch aus der Spenderbox die Nase. Dann schlenderte er zurück zu seinem Platz. Dabei drückte er sich an einer netten Stewardess vorbei, die ihn freundlichst anlächelte.

Kaum hatte er seine Sitzposition, über die Alte hinweg, eingenommen, musste er niesen. »So ein Mist«, fluchte er leise und hoffte, wegen dieser Temperaturen nicht krank zu werden. »Das würde mir noch fehlen!« Er wühlte in den Taschen seiner Jacke und der Hose, doch es fand sich kein Taschentuch.

Die niedliche Dame neben ihm bemerkte das Malheur und wedelte freundlich mit einer Packung Papiertaschentücher. »Ich kenne das, junger Mann. Regelmäßig habe ich Halsschmerzen, wenn ich aus diesen arktischen Temperaturen der Flieger aussteige. Ein Grund mehr, der für meine Flugangst spricht. Finden Sie nicht auch?«

Tafari nickte zustimmend und lächelte dankbar. Die Jacke spendete zwar wohlige Wärme, seine Nasenspitze jedoch blieb eiskalt. Gleich darauf hörte er ein »Ping«, als rote Signallampen über den Sitzreihen Anweisungen erteilten, die Sicherheitsgurte anzulegen.

»Ladys und Gentlemen, wir befinden uns im Anflug auf Brüssel. Aufgrund der guten Wetterlage und des Rückenwindes werden wir circa zehn Minuten vor der geplanten Ankunftszeit landen. Die Temperaturen in Brüssel betragen …«