Drug trail - Spur der Drogen

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Dagobert Duck

Innerhalb der Syndikate hatte sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Vicente war exekutiert worden, und niemand wagte es, Enrico als rechtmäßigen Nachfolger Vicentes infrage zu stellen.

Gerade einmal sechs Tage war es her, dass Enrico eigenhändig das Blut vermengt mit Gehirnmasse und Knochensplittern Vicentes vom Betonboden des Lagerhauses geschrubbt hatte. Das, was von Vicente übrig geblieben war, zu entsorgen, bereitete Enrico weniger Mühe. Als letzte Ruhestätte musste ein Toyota Corolla, Baujahr 74 herhalten, zusammengepresst auf die Größe eines Schuhkartons.

Inmitten seines Abendessens, Enrico angelte gerade geschickt mit Stäbchen die vor ihm aufgetischten Gunkanmaki- und Nigiri-Sushi, läutete sein Handy. Ungestört im hinteren Bereich seines Lieblingsrestaurants nahm er das Telefonat an.

„Enrico Portas.“ Enrico lauschte, vernahm aber zuerst nur ein röchelndes Atmen am anderen Ende der Leitung.

„Ciao, Enrico.“ Erneut schleimiges Einatmen. „Ich darf dich doch Enrico nennen, nachdem ich für deinen Gönner so viel Gutes getan habe?“

„Wer spricht da?“, fragte Enrico, obwohl er bereits vermutete, wer mit fast schon asthmatischem Schnaufen zu ihm röchelte.

„Enrico, mein Freund. Kennst du Dagobert Duck? Du kennst doch Dagobert Duck, oder?“ Enrico hatte keine Gelegenheit, zu antworten, denn abermals übermannte den Anrufer ein heftiger Hustenanfall. Dann fuhr dieser fort: „Nenn mich Dagobert. Nicht, dass ich wie diese Ente in Geld bade, doch für ein frisches Sushi reicht es allemal. Lang zu, mein Freund. Heute bist du mein Gast, auch wenn ich bedaure …“, von Neuem befiel den Fremden, der sich Dagobert nannte, ein Hustenreiz, während Enrico sich suchend im Lokal umblickte, „… bedaure, dass ich dir nicht Gesellschaft leisten kann. Vicente hat mich sehr geschätzt – und ich ihn, musst du wissen. Durch mich hat er viel – und wenn ich viel sage, dann meine ich auch viel, sehr viel – am Syndikat vorbei verdient. Das steht nun dir zu, mein Junge.“

So, wie Dagobert „mein Junge“ betonte, löste es bei Enrico ein Schaudern aus.

„Sicher fragst du dich jetzt, was du dafür tun musst. Ich verrate es dir. Nicht mehr, als es in deinem Lager entgegenzunehmen und auf die Straße zu bringen. Gut, pro Lieferung hatte Vicente ein mageres Salär für mich. Eine Million in kleinen Scheinen. Ich liebe diese ledernen Koffer, die er stets für mich bereitgestellt hat. Kannst du mir folgen, Enrico? Bist du noch dran? Du bist so schweigsam.“

„Was macht Sie so sicher, dass ich den Deal möchte?“, fragte Enrico leise.

„Enrico, Enrico, Enrico. Jetzt enttäuschst du mich. Ich liefere dir Ware im Wert von mehreren Millionen und du hinterfragst mich? Selbst Vicente hat mir vertraut. Und du weißt, Vicente war ein vorsichtiger Mann. Gott hab ihn selig.“

„Sie wissen, was mit Vicente geschehen ist?“

„Dumme Sache, Enrico. Einmal unvorsichtig kann tödlich sein in unserem Metier. Aber du bist wachsam, das spüre ich. Übermorgen, übermorgen 23:00 Uhr kommt die Lieferung in deinem Lager an. Vergiss den Lederkoffer nicht.“

Bevor Enrico antworten konnte, hatte Dagobert auch schon aufgelegt.

Im Fahrstuhl

Als ein Sheriff des MPDC, gefolgt von zwei grimmig dreinblickenden Beamten in schwarzen Wintermänteln, ihn aus der Zelle holte, war Rodrigo Ramirez bereits hellwach. Man hatte ihm ein dunkelgraues Hemd aus kratziger Wolle sowie ein Paar alter Winterstiefel überlassen. Über die Nacht hinweg hatte das ihm verabreichte Beruhigungsmittel in seiner Wirkung allmählich nachgelassen. Übrig geblieben waren einzig stechende Kopfschmerzen.

Gerade mal eine Stunde, bevor die Beamten seine Zelle betraten, kam langsam, ganz zaghaft die Erinnerung an den Vorabend in sein Gedächtnis zurück. Wie eine Blume, die man im Zeitraffer wachsen sieht, erblühten in ihm die grauenhaften Erkenntnisse der Ereignisse des vorangegangenen Tages.

Abermals brannten Tränen, als Bilder von Catalinas reglosem Körper vor seinen rot geränderten Augen erschienen. Sie hatte vor ihm gelegen, hatte sich ein letztes Mal gekrümmt, als ihre Muskeln plötzlich erschlafften. War sie bewusstlos oder …?

Was dann geschah, hatte ohne greifbare Kontrolle stattgefunden. Eine Scheißangst hatte sich seiner bemächtigt, eine Angst, die ihm das Atmen beinahe unmöglich machte. Hektisch war er in seine Jeans geschlüpft und hatte mit zittrigen Händen damit gekämpft, die Knöpfe der Hose zu schließen. Sein Blick war auf das große Badetuch an der Wandhalterung gefallen, das er in Panik heruntergerissen und um den schlaffen, nassen Körper Catalinas gelegt hatte. Stöhnend hatte er sie hochgehoben, als ihm in diesem Moment, warum auch immer, ihre geschlossene Faust aufgefallen war. Hielt sie etwas in der Hand? Doch er hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Catalina musste hier raus, in ein Krankenhaus. Und zwar schnell!

Seine blau angelaufenen Lippen bibberten, als er mit nacktem Oberkörper, Catalina auf den Armen, im eiskalten Aufzug lehnte. Ruckartig setzten sich die Seilwinden des Fahrstuhls in Bewegung und ratterten dem Erdgeschoss entgegen. War es das Rumpeln der Kabine, der Schock, der ihn bis ins Mark gefesselt hielt, oder die Eiseskälte, die ihn am ganzen Leib zittern ließ? Erneut war sein Blick auf die Faust ihrer linken Hand gewandert. Rodrigo winkelte sein rechtes Bein an, um Catalina damit zu stützen, stand anschließend auf seinem linken Fuß und bekam so eine Hand frei. Während das Neonlicht in unrhythmischem Takt flackerte, öffnete er vorsichtig ihre Finger. Zum Vorschein kam der kleine Beutel, das Plastiktütchen mit dem weißen Pulver, das ihm den Fick seines Lebens bescheren sollte.

„Oh shit, shit“, zischte Rodrigo. Er zog an der Tüte, als staubige Flocken zu Boden rieselten. Das Scheißding ist offen, durchfuhr es ihn. Sein Blick wanderte wie der eines Geisteskranken durch den Aufzug. Wohin mit dem Päckchen? Unmöglich, mit Drogen im Krankenhaus aufzutauchen. Die Kabine setzte ruckend auf – sie waren im Erdgeschoss angekommen. Jeden Augenblick würde sich die Fahrstuhltür öffnen. Dann wusste er, was zu tun war. Zwischen den Seitenwänden des Aufzugs und dessen Decke befand sich eine schmale Schattenfuge. Genau in dem Augenblick, da sich geräuschvoll die Tür zur Seite schob, hatte er das Plastiktütchen in die schmale Ritze gepresst.

„Rodrigo Ramirez, mitkommen“, forderte ihn der Sheriff in rohem, ungehaltenem Ton auf. Eine kräftige Hand zog ihn ruppig am Unterarm von der Zellenpritsche. Ihm wurden abermals Handschellen angelegt, bevor er stolpernd den drei Beamten folgte. Sein Kopf pochte, als ballerten gleich mehrere Presslufthämmer von innen gegen die Schädeldecke. Vor der Polizeiwache angekommen, blendete ihn das grelle Tageslicht – doch das war nur von kurzer Dauer, denn er wurde unsanft in einen schwarzen, direkt vor dem Eingang parkenden Van gestoßen.

Die Lieferung

Kurz nach 23:00 Uhr kam der Kleintransporter in einer Lagerhalle zum Stehen. Ein Rolltor hinter dem Wagen ratterte nach unten, bis es mit metallischem Laut den Boden kratzte. Zwei unrasierte Latinos stiegen aus. Sowohl dem Aussehen als auch der beinahe identischen Kleidung nach – Jeans, Sweatshirt, dicke braune Lederjacke – sahen sie aus wie ihr reziprokes Spiegelbild. Wie einstudiert gingen sie zur Rückseite des Wagens, öffneten die Hecktüren und begannen damit, mehrere Kartons auszuladen.

Mit steinerner Miene, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, beobachtete Enrico, neben drei seiner schwer bewaffneten Jungs, die Szenerie. Insgesamt fasste die Lieferung zwölf gleich aussehende Pappbehälter. Auf eine kurze Anweisung Enricos hin ging einer der Wachleute zu den Kartons, öffnete den erstbesten und bestätigte mit knappem Nicken den ordnungsgemäßen Inhalt.

„Kommt mit.“ Enrico forderte die Lederjacken auf, ihm in das rückwärtig angrenzende Büro zu folgen.

Dort wartete bereits auf einem schlichten Küchentisch mit Plastikauflage ein schwarzer Koffer. Mit leisem Knacken entriegelte Enrico die Schlösser, klappte den Deckel des Koffers nach oben und drehte diesen in Richtung der Latinos.

„Wollt ihr nachzählen?“

„No“, antwortete einer der beiden knapp.

Während die Drogenlieferanten das Gepäckstück entgegennahmen, trat aus einer Ecke der Halle eine dunkle Gestalt hervor. Sie war groß gewachsen, muskulös und besaß kein einziges Haar am Kopf. Einzig eine Narbe, die sich von der linken Braue bis hoch in die Stirn zog, stach heraus. Ulrich.

Er kniete kurz hinter dem Transporter nieder. Dann, so wie er erschienen war, verschwand Ulrich auch wieder.

Im Van

Unsanft landete Rodrigo auf der Rücksitzbank des Vans. Noch ehe er sich versah, wurde ihm eine dunkle Kapuze über den Kopf gezogen.

„Hey, ihr Pe…“ Er wollte schon „Penner“ schreien, doch eine innere Stimme der Vernunft, gepaart mit ungezügelter Angst, hielt ihn davon ab, diese Männer, die anscheinend mehr Macht innehatten als die Sheriffs der MPDC, unnötig zu verärgern.

Der Van setzte sich in Bewegung, wobei Rodrigo nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, wie viele der Anzugträger noch mit ihm im Wagen saßen.

Denk nach, Rodrigo. Denk nach. Was wollen die von dir? Sie kidnappen dich mitten am Tag, lotsen dich aus dem Gewahrsam der MPDC, stecken dich in einen Scheißvan und stülpen dir eine verschissene Kapuze über den Kopf. Das ist – das ist wie im Film, sann Rodrigo. Verdammt, warum das Ganze? Catalina ist tot, aber ich habe nichts damit zu tun. Shit, ich weiß ja noch nicht einmal, warum sie sterben musste.

 

Im Dunkel der nach Chemikalien riechenden Maske zwang er sich, ruhig zu atmen und aufkeimende Tränen zu unterdrücken.

Der Stoff. Bestimmt geht es um den Scheißstoff. Klar, er hatte das Koks geklaut, dem Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten hatte er, Rodrigo Ramirez, Koks geklaut. Natürlich, Rodrigo, du beschissenes, blödes Arschloch. Wie dämlich muss man sein, Koks im Wert von mehreren Hundert Dollar zu klauen, aus dem Jackett des Vizepräsidenten. Natürlich, das musste es sein. Nicht Catalina. Wenn sie ihm hier was anhängen wollten, dann doch nicht so. Nein, der Stoff war es. Das erklärt auch diese Anzugträger – Agenten – klar, das sind Agenten. Und zwar welche von ganz oben. Oberagenten sozusagen, direkt aus dem Weißen Haus. Und die haben dich jetzt am Sack, Rodrigo. Weil du ein so dermaßen großes Arschloch bist.

Der Van vollführte eine spitze Linkskurve, die Rodrigo von einer Seite zur anderen schaukeln ließ. Dabei bemerkte er, dass links von ihm die Tür war und rechts von ihm einer der „Oberagenten“.

Okay, Rodrigo. Aus der Sache kommst du nur wieder raus, wenn du alles zugibst. Ja, du hattest Koks zu Hause. Ja, aus der Jacke des … Halt, das darfst du auf keinen Fall zugeben. Niemals. Rodrigo, reiß dich zusammen, verdammt. Das Koks hast du gekauft, irgendwo. Nur nicht aus der Jacke dieses verfickten Jacketts. Mit Catalinas Tod hast du nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Du hast sie in die Klinik gebracht. Und woher willst du eigentlich wissen, dass sie dich nach dem Koks fragen? Aber warum sonst wäre ich hier, wenn nicht wegen des Stoffs? Egal, wenn sie dich fragen, Rodrigo, ermahnte er sich selbst, wenn sie dich fragen, dann hattest du Koks in der Wohnung. Scheiße, ja, das Päckchen war offen, sicher finden sie Reste dieser verfickten Droge auf dem Teppich oder dem Tisch. Also Koks, ja, aus der Jacke dieses Logan Winston – niemals, nein, nein, nicht aus dem Jackett. Wenn du das zugibst, Rodrigo, bist du echt am Arsch. Irgendwoher von der Straße hast du es. Ein Junkie bist du, nichts weiter als ein Junkie, der Stoff auf der Straße gekauft hat. Auf der Straße, auf der Straße.

Immer wieder murmelte er in seinen Gedanken diesen Satz. Bis der Van zum Stehen kam und sie ihn aus dem Wagen zogen.

Die Hinrichtung

Durch den von Ulrich am Lieferwagen angebrachten Peilsender erlangte das Syndikat die erforderliche Gewissheit.

Paolo Fucari hatte bereits den Verdacht gehegt, doch nun lagen handfeste Beweise vor. Er musste handeln. Durch Geschick, Härte sowie einen messerscharfen Verstand hatte er es innerhalb der Hierarchie der Organisation weit gebracht. Doch wer letztendlich die Fäden des Syndikats in Händen hielt, war auch ihm unbekannt.

Das Einzige, was ihn daher interessierte, war sein Anteil am Kuchen des Geschäfts, der direkt am Marktanteil und Umsatz des Syndikats gemessen wurde. Über siebzig Prozent der über die Grenze von Mexiko ins Land eingeschleusten Drogen gingen durch die Hände seines Syndikats und verhalfen der Mafia zu satten Gewinnen – jener Organisation, die zu Beginn der siebziger Jahre von Sizilien aus amerikanisches Gebiet erobert hatte: der Cosa Nostra. Er selbst schätzte das Volumen für dieses Jahr auf umgerechnet 120 Milliarden Dollar. Und das nur mit Drogen. Fast genauso viel Umsatz erzielte das Syndikat mit Spielcasinos, Prostitution, Menschenhandel – um nur einige der Geschäftsfelder zu benennen. Nicht zu vergessen der Waffenschmuggel. So belieferte seine Organisation ein halbes Dutzend der mexikanischen Drogenkartelle mit jeglicher Art von Handfeuerwaffen, Maschinenpistolen bis hin zu Panzerfäusten.

Die Kartelle Mexikos, die das Syndikat mit ausreichend Drogen versorgten, hatten alle Hände voll zu tun, den Binnenmarkt und die sich laufend ändernden Routen für Schmuggelware in die USA aufrechtzuerhalten und zu verteidigen.

Das Sinaloa-Kartell war zur mächtigsten Organisation in Mexico aufgestiegen. Weitere Kartelle wie das Golf-Kartell, das Juárez-Kartell, das Tijuana-Kartell sowie das Beltrán-Leyva-Kartell, La Familia Michoacana und Los Zetas kämpften bis aufs Blut um ihre Machterhaltung im Drogenhandel. Folglich bekriegten sich die Kartelle untereinander, während sie sich gleichzeitig Anfeindungen weiterer Konfliktparteien wie der mexikanischen Polizei, dem Militär und auch den Bürgermilizen des Landes ausgesetzt sahen. Ein blutiger Krieg, der Unmengen an Waffen und Munition verschlang und jährlich Tausende, vielfach auch Unbeteiligte, das Leben kostete.

Paolo Fucari hatte gehofft, dass sein rigoroses Vorgehen – die Exekution seiner eigenen Führungskraft Vicente – den Widersachern Zeichen genug gewesen sei. Doch der erneute Versuch, am Syndikat vorbei Vicentes Nachfolger Enrico zu beliefern, zeigte, wie effektlos seine Message gewesen war.

Der weißhaarige Mann atmete schwerfällig, während er auf dem schmuckvollen Orientteppich seines Arbeitszimmers kniete. Zwei dünne Schläuche klemmten in seinen Nasenlöchern und versorgten die mit COPD diagnostizierte, chronisch erkrankte Lunge mit Sauerstoff.

Zwölf Söldner des Syndikats hatten zuvor das Villenanwesen regelrecht überrannt und diejenigen Wachposten des Weißhaarigen eliminiert, die nicht freiwillig ihre Waffen niedergelegt hatten.

Mit der stoischen Ruhe, die Ulrich auszeichnete, klappte er ein Stativ gegenüber dem Weißhaarigen auf, fixierte das Objektiv der Kamera auf den Alten und drückte den Knopf mit dem roten Symbol für die Aufnahme.

Abermals wurde der Weißhaarige von einem Hustenanfall geschüttelt, wäre fast vornübergekippt, hätte Ulrich ihn nicht nach hinten gezerrt. Die Hände am Rücken gefesselt, den Kopf auf die Brust gesackt, harrte der Alte, ohne zu jammern, auf sein Ende.

Ulrich stellte sich hinter sein Opfer, ergriff einen Baseballschläger, holte aus und schlug mit aller Kraft auf den Kopf des Alten. Die Wucht des Aufpralls ließ die Schädeldecke wie die Schale einer Walnuss auseinanderplatzen. Erstaunlicherweise fiel der Alte nicht zur Seite. Nach wie vor kniete er, während sich sein weißes Haar durch eine dunkelrote Masse verklebte.

Der zweite kraftvolle Hieb besiegelte das Ende des Alten. Dagobert, wie er sich gern genannt hatte, war hingerichtet.

Der Schwur

Es stank nach fauligem Obst und Urin. Seinem Urin. Vorsichtig versuchte er sich aufzurichten, sackte allerdings des stechenden Schmerzes in seiner rechten Hand wegen in sich zusammen. Erneut stützte Rodrigo Ramirez sich ab, dieses Mal mit der linken Hand, an der, im Gegensatz zur rechten, noch alle fünf Finger vorhanden waren.

Kaum auf den Beinen, versank sein Fuß inmitten der schwarzen, nassen Müllbeutel, was ihn umknicken und auf die Knie fallen ließ. Schweißverklebtes Haar verfing sich in seinen Wimpern, hinderte ihn, die verschwollenen Augen ganz zu öffnen. Blinzelnd nahm Rodrigo nur schemenhaft die Umgebung wahr.

Abermals rappelte er sich zittrig auf, stolperte ein paar Schritte, bis er seitlich Halt an der kalten Steinmauer fand. Nachdem er seine schweißnassen Haarsträhnen mit dem Unterarm aus dem Gesicht gewischt hatte, erkannte er im Mondlicht Reifenspuren im Schnee, die der Van auf der schmalen Zufahrt zum Hinterhof hinterlassen hatte.

Humpelnd tastete er sich an der Mauer den Zufahrtsweg entlang, während sein hektischer Atem kleine Nebelschwaden ausstieß. Als er aus dem Hinterhof hinaustrat, fand er sich an einer kleinen, nur spärlich beleuchteten Seitenstraße wieder. Da stand er nun und obgleich die Wunde des fehlenden Mittelfingers höllisch schmerzte, erfüllte ihn ein bis dahin nicht gekanntes Glücksgefühl. Er hatte überlebt. Tatsächlich hatten sie ihn am Leben gelassen, trotz der Drohungen, trotz der Misshandlungen und der Verstümmelung. Er lebte, sog die kalte Winterluft tief in seine Lungen und stolperte durch den vom Mond hellblau schimmernden Schnee. Nichts hatte er, Rodrigo, verraten, immer nur heulend wiederholt, was für ein Abschaum er selbst doch sei, ein Junkie, der jeden verdienten Cent in Scheißdrogen investierte.

Vornübergebeugt, beide Hände auf die Oberschenkel gestützt, verharrte er einige Minuten – während die Bilder der vergangenen Tage wie ein Stummfilm auf seiner Netzhaut flimmerten: Sie hatten ihn verhört, tagelang, geschlagen, verstümmelt, als plötzlich einer seiner Peiniger telefonierte. Nachdem das Gespräch geendet hatte, gab dieser den beiden anderen Anzugträgern ein knappes Zeichen. Abermals stülpten sie ihm die nach Chemikalien stinkende Kapuze über den Kopf und erneut wurde er in einen Van geladen, jenen, in dem er – vor wie vielen Tagen eigentlich? – verschleppt worden war. Wo brachten sie ihn jetzt hin? Würde er am Leben bleiben? Jeden Moment rechnete Rodrigo damit, dass man ihn aus dem Wagen warf, um ihn dann mit einem kurzen Schuss in den Hinterkopf zu exekutieren. Als der Van nach etwa zwanzig Minuten tatsächlich hielt, pisste er sich ein. Wortlos beförderte ihn ein heftiger Tritt aus dem Gefährt. Er schlug weicher auf als erwartet, gleich darauf wurde ihm die Kapuze vom Gesicht gezogen. Mit zugekniffenen Augen, die Lippen aufeinandergepresst, inmitten stinkender Müllsäcke liegend, hörte er den Van rückwärts aus der Einfahrt rollen.

Rodrigo schüttelte verzweifelt den Kopf, als wolle er alle Gedanken an das Geschehene von sich wischen, und richtete sich auf. Schritt für Schritt humpelte er am Seitenstreifen der Straße entlang, ohne zu wissen, wohin diese ihn führen würde.

„Du bist ein Junkie, nichts weiter als ein Junkie, der Stoff auf der Straße gekauft hat“, murmelte er gebetsmühlenartig vor sich hin. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass er den Keim der Wahrheit nicht für sich behalten konnte. Mit jedem weiteren Abdruck seiner Schuhsohlen, den er im Schnee hinterließ, erblühte in ihm mehr und mehr ein zartes Pflänzchen und irgendwann, so schwor er sich, würde aus diesem Pflänzchen ein Baum erwachsen. Und dieser Baum besaß einen Namen: Rache!

Presseschlagzeile

Anfang Februar – 269 Tage vor der Präsidentschaftswahl

Verunreinigte Drogen fordern weitere Todesopfer

Erst vor einem Monat wurde der erste Todesfall durch vergiftete Drogen registriert. Seither ist die Zahl der Drogentoten auf über 14.000 gestiegen. Offensichtlich ist die Sucht der Drogenabhängigen größer als ihre Angst zu sterben. Auch Hilfsangebote sozialer Organisationen werden kaum wahrgenommen, da viele Abhängige Angst vor strafrechtlicher Verfolgung haben und lieber anonym bleiben wollen.