Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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„Margoliouth hat richtig erkannt, daß Averroes (1, 2ff) die arabische Transcription des griechischen poíesis mißverständlich für das arabische Wort, welches ‚regulae, canones‘ bedeutet (al-kawanīn, Plural von kanūn), gehalten und so in seinen Text (vgl. Mantinus 354, 5 und 13) die ‚regulae‘ (canones) statt der ‚poesis‘ hineingebracht hat. Um diese Auffassung verständlich zu machen, hat sich Averroes auch bemüßigt gesehen, ‚quae dantur de iis‘ hinzuzufügen.“116

Tkač bezieht sich zwar auf die lateinische Übersetzung des Mantinus, dem die hebräische Übersetzung TodrosisTodros Todrosi des arabischen Textes vorlag, insofern müsste vor jeder weiteren Schlussfolgerung zuerst der hebräische mit dem arabischen Text verglichen werden. Doch bietet auch hier wieder Hermannus AlemannusHermannus Alemannus inhaltlich dieselbe Lesart: „oportet eum [Aristoteles], qui vult ut canones qui dantur in hac arte procedant processu debito, dicere primitus […] [Ü: Es gehört sich für ihn, der die in dieser Kunst gegebenen Regeln aus einer Entwicklung hervorgehen lassen will, zuerst zu sagen …]“117. Nach den Angaben Weinbergs bezieht sich diese Stelle auf Poetik 1447 a 12f., also auf den Anfang des Textes, wo AristotelesAristoteles von der Dichtkunst und der DichtungDichtung spricht.118 Doch bereits im Abschnitt zuvor, im „Inquit Ibinrosdin“ wird das canon-regula-Denken expliziert. Hermannus übersetzt: „Intentio nostra est in hac editione determinare quod in libro Poetrie Aristotilis de canonibus universalibus communibus omnibus nationibus aut pluribus […]“119. Weinberg gibt diese Textstelle mit den Worten wieder: „Our intention in this edition is to determine how much of AristotleAristoteles’s book On Poetry is concerned with universal rules common to all nations or to most“120. In der Translatio HermanniTranslatio Hermanni ist eine Spur gelegt, die sich in der weiteren europäischen RezeptionsgeschichteRezeptionsgeschichte der Poetik als eigenständiger DiskursDiskurs über das Regeldenken verfolgenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) ließe.121

Die syrisch-arabische Handschriftenüberlieferung der aristotelischen Poetik bis zur lateinischen Übersetzung des Hermannus AlemannusHermannus Alemannus der griechisch-lateinischen ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte voranzustellen, hat einen einfachen Grund. Die älteste uns erhaltene griechische Handschrift der Poetik, der sogenannte Codex Parisinus 1741 (= Codex A) datiert sich auf das 10./11. Jahrhundert.Überlieferungsgeschichte122 Ältere griechische Handschriften sind nicht erhalten, sodass die Forschung über weite Strecken im Dunkeln tappt, wenn es darum geht, die ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik jenseits von Plausibilitätshypothesen zu rekonstruieren. Die Überlieferung der aristotelischen Poetik nachzuzeichnen ist etwas anderes, als eine Geschichte des griechischen und lateinischen Aristotelismus einschließlich der HandschriftengeschichteHandschriftengeschichte von der AntikeAntike bis zur HochscholastikHochscholastik zu schreiben. In den Arbeiten zum antiken Aristotelismus wird die Poetik meist nur marginal berücksichtigt, wenn sie denn überhaupt Erwähnung findet. So kommt die Poetik beispielsweise in Moraux’ Monumentalwerk über den griechischen AristotelismusAristoteles gar nicht vor.123 Das gesamte ihm zur Verfügung stehende Material enthält keinen (erwähnenswerten?) RezeptionsbelegRezeption. Über die Zeit von 50 v. Chr. bis 350 n. Chr. schreibt Moraux, dass das Anliegen der meisten Aristoteles-Kommentatoren die Kommentierung der rein philosophischen Lehrschriften, ohne die Tierschriften, die PolitikPolitik, die RhetorikRhetorik und die Poetik gewesen sei.124 Dies hatte aber auch institutionelle, wissenschaftsorganisatorische und wissenschaftsdistributive Gründe. Denn nach dem Tod von AristotelesAristoteles (322/321 v. Chr.) zerfiel seine Schule innerhalb weniger Jahrzehnte.125 Erst unter Andronikos von RhodosAndronikos von Rhodos, dem sechsten Schulleiter nach Aristoteles, wurde im ersten vorchristlichen Jahrhundert die Sammlung, Bearbeitung und Herausgabe der aristotelischen Schriften in Angriff genommen.Andronikos von Rhodos126 Zur selben Zeit entstanden auch die ersten Kommentare. Die Gestalt und Anordnung, die AndronikosAndronikos von Rhodos den Schriften gabPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles), das sogenannte Corpus Aristotelicum, blieb für die nachfolgenden Jahrhunderte verbindlich. Die Verbreitung und das Studium der aristotelischen Schriften erlebten eine Konjunktur, die in der Einrichtung eines Lehrstuhls für aristotelische Philosophie in Athen im zweiten nachchristlichen Jahrhundert ihren institutionellen Ausdruck fand.127 Während die Schule in Athen, der Peripatos, unter Justinian im Jahre 529 n. Chr. geschlossen werden musste, hatte sich in Alexandria eine Schule etabliert, die sich der Aristoteles-Exegese widmete. Schon der Nachfolger von AristotelesAristoteles im Amt des Scholarchen in Athen, TheophrastTheophrast, hatte testamentarisch seinem designierten Nachfolger NeleusNeleus die gesamte aristotelische Bibliothek einschließlich der Handschriften vermacht. Als aber StratonStraton und nicht Neleus zu Theophrasts Nachfolger gewählt wurde, verließ NeleusAthen und verkaufte einen Teil der Bibliothek an die 280 v. Chr. gegründete Bibliothek von Alexandria.128 Mit seiner neuplatonischen Schule, obgleich diese „frei von den religiösen und spekulativen Tendenzen des athenischen und syrischen Neuplatonismus“129 war, wurde Alexandria in den nachfolgenden Jahrhunderten zum Zentrum der Aristoteles-Exegese. Dies änderte sich erst im Jahre 610, als Stephanos von AlexandriaStephanos von Alexandria, wo es schon seit 400 keine öffentliche Bibliothek mehr gab, nach Konstantinopel als der letzte alexandrinische Lehrer berufen wurde.130 Mit der Gründung der Akademie von Konstantinopel 1045 war schließlich der institutionelle Rahmen für eine intensive Auseinandersetzung mit den aristotelischen und platonischen Schriften auch in Byzanz geschaffen.131 Die Schriften des Aristoteles wurden also spätestens mit der Auflösung seiner Bibliothek in alle Himmelsrichtungen verstreut. Hierbei die ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik herauslösen und rekonstruieren zu wollen, scheint aussichtslos, wenn man von der überlieferten Debatte um die Zuordnung der Poetik zum aristotelischen Organon einmal absieht. Das ändert sich erst an jener historischen Zäsur, wo ein Studium der Poetik in Konstantinopel nachweisbar ist. Am 13. April 1204 wird die Stadt zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres von Kreuzfahrern erobert und geplündert, doch noch 1457 befindet sich die älteste erhaltene griechische Handschrift der Poetik in einer byzantinischen Bibliothek.132 Vor dem Ende des Jahrhunderts erreicht diese Handschrift Florenz, von wo aus sie schließlich nach Paris gelangt. Unstrittig ist, dass das lateinische MittelalterMittelalter die aristotelischenAristoteles Schriften bereits vor der Übersetzung arabischer Kommentare kennengelernt hatte. Minio-Paluello widersprach der Meinung, dass Gelehrte in Italien, Frankreich, England und Deutschland im Mittelalter mit den nichtlogischen SchriftenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) des Aristoteles zuerst durch die arabische und später durch die griechische Überlieferung bekannt geworden seien. Vielmehr wäre das Gegenteil richtig, denn schon im Jahre 1136 sei Jacobus von VenedigJacobus von Venedig in Konstantinopel gewesen und habe nach seiner Rückkehr die aristotelischenAristoteles Schriften und die dazugehörigen Kommentare bekannt gemacht. Die Latinisierung sei insofern die zumindest teilweise kontinuierliche Fortsetzung der griechischen Schulen, „und dies geschah, bevor auch nur ein Werk des Aristoteles vom Arabischen ins Lateinische übersetzt worden war“133. Allerdings ist auch dies nicht mehr als eine wissenschaftliche Hypothese. Im Hinblick auf die syrisch-arabische und die griechisch-lateinische ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik bietet es sich daher an, von einer doppelten, möglicherweise zeitgleichen Berührung zu sprechen. Fragt man nach dem Verbleib der Poetik bei der westeuropäischen RezeptionRezeption aristotelischer Schriften, so ist man wiederum auf Vermutungen angewiesen, denn man kann nicht behaupten, es sei „der unwiderlegbare Beweis erbracht, daß Jahrhunderte vor der Ankunft des aus Konstantinopel stammenden cod. A es bereits auch in Italien Hss. der Poetik gegeben haben muß, die von diesem völlig unabhängig waren“134. Für diese apodiktisch formulierte Vermutung gibt es keinen Beleg, zumal sich ihr Autor auf zwei mittelalterliche Handschriften beruft, den Codex lat. Etonensis (ca. 1300) und den Codex lat. Toletanus (ca. 1280)135, die aber Abschriften der lateinischen Übersetzung von Wilhelm von Moerbeke sind, die am 1. März 1278 abgeschlossen worden war.136 Diese Übersetzung beruht auf der heute nicht mehr erhaltenen griechischen Handschrift, die wiederum die Schwester von Codex A ist.137 Lediglich drei weitere lateinische Handschriften der Poetik sind nachweislich früher geschrieben worden. Zum einen die arabisch-lateinische Translatio HermanniTranslatio Hermanni von 1256, zum anderen zwei Handschriften einer griechisch-lateinischen Poetik-Übersetzung von 1248, die aber ohne Einfluss geblieben sind.

Bei der Frage nach einer früheren lateinischen Poetik-RezeptionRezeption bleibt man auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen. Plausibilität kann die eine oder andere These oder Hypothese gewinnen, wenn man die fehlenden Spuren der Poetik-Überlieferung mit Hilfe der gesicherten Spuren der Rezeption des Corpus Aristotelicum zu erschließen versucht. Dieses Corpus wurde von Andronikos von RhodosAndronikos von Rhodos im ersten vorchristlichen Jahrhundert zusammengestellt.138 Die Ausgabe gliedert sich in vier Gruppen, wobei die Poetik der zweiten Gruppe mit den ethischen, politischen und rhetorischen Schriften zugeordnet wird. Die logischen Schriften (das Organon) machen die erste Gruppe aus. Diese Feststellung lässt diePoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) Vermutung fraglich erscheinen, die Geschichte der Textüberlieferung scheine sich „entsprechend den vier Gruppen […] in vier verschiedenen Überlieferungszweigen (mit Untergruppen) getrennt vollzogen zu haben“139. Ein Blick auf die spätalexandrinische Diskussion um die Zusammensetzung des Organons und vollends die syrisch-arabische Übernahme eines nahezu einheitlichen Organon-Kanons verdeutlichen, dass die Poetik bereits innerhalb des Corpus Aristotelicum einer wechselnden Zuordnung von der zweiten zur ersten Hauptgruppe unterworfen gewesen sein muss. Die Vermutung, dass die philosophisch-philologischen Debatten über die Zuordnung der Poetik im Gesamt der aristotelischenAristoteles Schriften unmittelbare Auswirkungen auf deren Überlieferung und RezeptionRezeption gehabt haben könnten, scheint plausibel. Als Textgrundlage für seine Ausgabe dienten AndronikosAndronikos von Rhodos vor allem aristotelische Handschriften in Rom, die der römische Konsul SullaSulla bei der Eroberung Athens 86 v. Chr. hatte rauben und mit nach Italien bringen lassen.140 Aber nur wenige Schriften wurden in der frühen Kaiserzeit ins Lateinische übersetzt.141 Darin mag auch ein Grund für die ausbleibende Poetik-Rezeption in der klassischen lateinischen Literatur zu sehen sein. Selbst die zweite bedeutende Quelle der abendländischen Poetikgeschichte – neben der aristotelischen Poetik –, die Ars poeticaArs poetica (14 v. Chr.) von HorazHoraz (65–8 v. Chr.), ist in Unkenntnis der Poetik geschrieben.142 Außerdem ist festzuhalten, dass „die Fähigkeit, griechisch zu verstehen, niemals sehr verbreitet war und um 400 fast ganz erlosch“143. Bis dahin standen nahezu ausschließlich die logischen Schriften, die PhysikPhysik und die MetaphysikMetaphysik des AristotelesAristoteles im Mittelpunkt des Interesses der Kommentatoren. „Alle übrigen Schriften wurden nur ausnahmsweise kommentiert: die Politik gar nicht, die psychologischen Schriften sehr sparsam, die Rhetorik nicht vor dem VI. Jahrhundert (in Syrien)“144. Nur der arabische Aristotelismus brachte selbstständige Kommentare zur Poetik hervor. Die Ursache dafür, dass kein griechischer oder lateinischer Poetik-Kommentar erhalten ist, kann also durchaus darin liegen, dass es einen solchen Kommentar nie gegeben hat.145 „In der römischen Kaiserzeit bis zum Ende des späten Altertums ist es […] ein sehr zusammengeschrumpfter Aristoteles, für den man sich interessiert“146. Die Poetik gehörte offensichtlich nicht zu diesem Schrumpfkorpus. BoëthiusBoëthius (†524 n. Chr.) ist der letzte lateinische AristotelesAristoteles-Kommentator und Aristoteles-Übersetzer, dessen Interesse noch dem Gesamtkorpus giltPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles). „Ich will sämtliche Schriften des Aristoteles ins Lateinische übersetzen und kommentieren, soweit sie mir zugänglich sind“147. Sein früher Tod ließ diesen Plan unausgeführt, lediglich ein kleiner Kanon von sieben Traktaten, die Übersetzungen und eigene logische Arbeiten und keine Spur von der Poetik enthalten, „war bis zur Mitte des XII. Jahrhunderts so ziemlich alles, was dem Abendlande von der Erbschaft des Aristoteles allgemein zugänglich war“148. Im 12. Jahrhundert setzte eine Wiederentdeckung des Aristoteles ein. Seine Schriften wurden zur begehrten Lektüre, Handschriften wurden zahllos kopiert. Heute sind für diese Zeit bis zum 14. Jahrhundert noch mindestens 2283 Handschriften, Texte, Übersetzungen und Kommentare in über 160 Bibliotheken nachweisbar, ein Zeichen „der außergewöhnlichen Vitalität des Werks des Stagiriten, der wohl wie kein anderer profaner griechischer Autor eine solch große Zahl von Handschriften […] aufzuweisen vermag“149. Neben dem Codex Parisinus 1741 (Handschrift A) ist noch der Repräsentant eines von diesem unabhängigen Überlieferungszweigs der Poetik, der Codex Riccardianus 46, erhalten. Das ist eine Handschrift aus der Florentiner Bibliotheca Riccardiana. Diese Handschrift stammt aus dem 14. Jahrhundert und wurde erst 1878 wiederentdeckt.Aristoteles150 Lobel beschreibt insgesamt 31 erhaltene PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles)-Handschriften, doch ist diese Liste, worauf er selbst hinweist, längst nicht vollständig. Eine annähernd exakte Zahl und präzise Beschreibung aufgrund von Handschriftenautopsien wird man von dem Werk Aristoteles GraecusAristoteles Graecus erwarten können.

 

Die nachweisbare griechisch-lateinische ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte der Poetik lässt sich also erst ab dem 10. Jahrhundert mit der aus Konstantinopel stammenden Handschrift A verfolgen. Dieser Überlieferungszweig ist von dem syrisch-arabischen völlig unabhängig. In den vier Jahrhunderten zwischen 1100 und 1500 kursiert eine Fülle von griechischen und mehr noch von lateinischen Abschriften, Übersetzungen und Kommentaren der Poetik. Ihre RezeptionRezeption beschränkt sich aber auf einen kleinen philosophisch-philologisch interessierten Kreis des Klerus. Erst als die Kirche ihren Widerstand gegen den Aristotelismus aufgibt – Albertus MagnusAlbertus Magnus (†1280) und dessen Schüler Thomas von AquinAquin, Thomas von (†1274) seien hier nur als die exponiertesten Vertreter dieses neuen Denkens genannt – und sich ein christlicher Aristotelismus herauszubilden beginnt, scheint eine über den Klerus hinausgehende Aristoteles-Rezeption einzusetzen. Zu denken ist vor allem an die Aristoteles-Rezeption in der bildenden Kunst, die von der Aristoteles-Legende (Aristoteles und die Hetäre oder Aristoteles und Phyllis) bis zum Philosophenstreit (AristotelesAristoteles versus PlatonPlaton) reicht. Von der Poetik gibt es allerdings auch hier keine Zeugnisse. Versucht man, die Geschichte der griechisch-lateinischen Handschriftenüberlieferung zu rekonstruieren, so stößt man bei der griechischen Filiation in der Forschung auf eine Hypothese, die über Jahrzehnte hinweg Anlass zu heftigem Streit gegeben hat, die sogenannte Apografathese.151 Am 4. November 1865 hatte der Aristoteles-Forscher Leonhard Spengel die These vorgetragen, dass die Handschrift A „für unsere Poetik die Quelle ist, aus der alle anderen stammen“152, alle anderen Handschriften der Poetik seien direkt oder indirekt „Apographa der Pariser A […], diese demnach allein als eigentliche Quelle Bedeutung hat, die übrigen, insofern sie davon abweichen, nur Änderungen von Lesern und Abschreibern bieten, denen man keinen größeren Wert als den Konjekturen der Neueren zuschreiben darf“153. Mit der Entdeckung, dass der Codex Riccardianus 46 (Handschrift B) ein vom Parisinus 1741 unabhängiger Textzeuge ist, und schließlich mit der durch die Forschungen Margoliouths eingeleiteten Beschäftigung mit der arabischen Poetik-Übersetzung und dem Fragmentum SyriacumFragmentum Syriacum und deren Publikation durch Tkatsch, verstanden als die Grundlage des griechischen Textes, schien die Apografathese widerlegt zu sein, zumindest für deren Kritiker.154 Die Apografathese habe sich als ein „Hirngespinst“155 entpuppt, sie sei ein „luftiges Phantasiegebilde“156 gewesen. Heutzutage lässt sich der „Mißbrauch“ erkennen, der mit „der PoetikübersetzungPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) [von Tkatsch] getrieben worden ist“.157 So bedeutend die Wiederentdeckung des arabischen Poetik-Textes und die Wiederentdeckung der Handschrift B auch gewesen ist, so wenig lässt sich daraus eine zuverlässige Überlieferungsgeschichte der Poetik konstruieren, geschweige denn eine aristotelischeAristoteles Mutterhandschrift rekonstruieren.158 Jede ÜberlieferungsgeschichteÜberlieferungsgeschichte von Handschriften trägt, was die nicht mehr nachweisbaren Codices betrifft, auch Züge des Idealtypischen, die lediglich eine heuristische Funktion erfüllen. Wichtig dabei ist allein das kulturgeschichtlichekulturgeschichtlich Moment, dass dadurch die Geschichtlichkeit des Textes der Poetik im Prozess ihrer Überlieferung deutlich wird.

Die Poetik-Überlieferung im MittelalterMittelalter und im HumanismusHumanismus lässt sich nicht mehr von der allgemeinen Aristoteles-Rezeption trennen.159 Dies aus folgenden Gründen: Erstens spielt die Poetik vor dem Hintergrund des Machtkampfes zwischen den Vertretern eines Aristotelismus und den Vertretern eines Platonismus nur eine untergeordnete Rolle.160 Die bloße Verfügbarkeit von Texten aus dem Corpus Aristotelicum vermag nicht deren Einfluss zu erklären, es muss ein „deutliches Interesse auf Seiten des Rezipienten“161 hinzukommen. In der Ausbildung der Theologie als wissenschaftliche Disziplin, die in ihrem universalen Deutungsanspruch traditionale und rationale Momente vereinigt, kann man einen Grund für den Paradigmenwechsel von PlatonPlaton zu AristotelesAristoteles sehen.162 Die Aristoteles-RezeptionRezeption ließe sich damit „als Ergebnis einer fundamentalen Neuorientierung des geistigen Lebens im 12. Jahrhundert“163 erklären. Zweitens ist eine eigenständige literarische Rezeption der Poetik als Kritik oder Akzeptanz zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachweisbar. Erst am Ende des 15. Jahrhunderts beginnt sich ein explizit poetologischer Aristotelismus mit tragödientheoretischer Präferenz als eigenständiger Diskurs zu entwickeln. Über den theologisch-philosophischen Bereich hinaus werden aristotelische Schriften nur von Medizinern und Juristen rezipiert, in großer Zahl auch pseudo-aristotelische Schriften. Die Untersuchung der Aristoteles-Rezeption unter medizin- und rechtshistorischen Aspekten wäre eine wichtige Ergänzung zu einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur. Drittens kann die Handschriftengeschichte der Poetik aus literaturgeschichtlicherLiteraturgeschichte Perspektive mit dem Auftauchen des Codex Parisinus 1741 als abgeschlossen betrachtet werden. Alle jetzt noch angefertigten Codices, mit Ausnahme der Handschrift B und der Translatio HermanniTranslatio Hermanni, sind mittelbar oder unmittelbar abhängig von der Handschrift A. Mit der Editio princeps ist schließlich eine Textgestalt vorgegeben, die bis zu der großen AristotelesAristoteles-Ausgabe von Immanuel Bekker Mitte des 19. Jahrhunderts verbindlich bleibt. Textkritische Fragen verlieren für eine Kulturgeschichte der Literatur damit an Dringlichkeit. Und viertens beginnt sich die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) erst im frühen 18. Jahrhundert von der RhetorikRhetorik zu emanzipieren. Dieser Emanzipationsprozess ist nachhaltig von der Rezeption der aristotelischen Poetik initiiert worden. Die Filiationen zwischen der aristotelischen Poetik und der aristotelischen Rhetorik müssten bis in die HochscholastikHochscholastik hinein entsprechend berücksichtigt werden.

Die Poetik zeichnet sich als einzige aristotelische Schrift dadurch aus, dass sie weder eine ausschließlich philosophische noch eine ausschließlich literarische Schrift ist, und doch für die westliche Zivilisation zum ältesten und wirkungsmächtigsten Zeugnis theoretischer Auseinandersetzung mit LiteraturLiteratur avancierte. Dass diese Schrift von der über viele Jahrhunderte hinweg unantastbaren Autorität des AristotelesAristoteles verfasst worden war, ist für den Erhalt der Poetik und für ihre Überlieferungsgeschichte von elementarer Bedeutung. Der erste einschneidende Bruch in diesem Prozess traditionaler Macht der Überlieferung vollzieht sich in dem Augenblick, wo sich der erste Widerstand gegen die Herrschaft der Poetik in der RenaissanceRenaissance zu regen beginnt. In der Gegenreaktion hierauf wird versucht, die (aristotelische) Herrschaft durch die Vulgarisierung der Poetik auszuweiten. Dies geschieht durch die ersten gedruckten landessprachlichen Übersetzungen und Kommentare, durch Auflösung der Prosaform in Versform, durch Reduktion des Textes auf eine reine Regelsammlung nach poetologischen Verwertbarkeitskriterien. Zugleich wird der Bruch mit der PhilosophiePhilosophie und TheologieTheologie vollzogen, die LiteraturLiteratur entwickelt ihr eigenes Reflexionsmodell in der Absicht, sich dadurch Freiheit und Unabhängigkeit zu sichern. Der gegen die Literatur gerichtete neuplatonisch-christliche Vorwurf, Literatur sei Lüge und sie verkünde die Unwahrheit, verliert an Bedeutung.164 Die RezeptionRezeption der aristotelischen Poetik war im Mittelalter zwar eng mit der Rezeption der christlichen ÄsthetikÄsthetik augustinischerAugustinus Prägung, der neuplatonischen Kunstauffassung und der Tradition der antiken Rhetorik verflochten. Doch ist der Anteil der aristotelischenAristoteles Poetik an den Debatten um FiktionFiktion, Historie, Poesie, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Lüge im Kontext der mittelalterlichenMittelalter Fiktionsdebatte im Prozess der Emanzipierung der PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) von der RhetorikRhetorik nicht unerheblich.165 Vor dem Hintergrund der lateinischen Tradition im Mittelalter müsste zudem auch die Rolle der Ars poetica von HorazHoraz berücksichtigt werden.166 Im 14. Jahrhundert gelangt die HandschriftenHandschriftengeschichte- und Textgeschichte der Poetik, endgültig mit der Editio princeps graeca von 1508, zu ihrem Abschluss. Man kann eine verhaltene Virulenz der aristotelischen Poetik im 13., 14. und 15. Jahrhundert annehmen. Keineswegs erlebt die Poetik „phönixartig“ eine „späte Auferstehung“ um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert.167 Die PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) hat innerhalb der RezeptionRezeption anderer aristotelischerAristoteles Schriften die zwei Jahrhunderte zwischen 1256 als dem Jahr der Niederschrift der Translatio HermanniTranslatio Hermanni und 1481 als dem Jahr, in dem die Translatio Hermanni gedruckt wurde, gleichsam überwintert. Auch die Auswertung der LiteraturtheorieLiteraturtheorie in der italienischen RenaissanceRenaissance legt dies nahe.168

 

„While Aristotle was the institutionalized philosophical writer par excellence for the Middle Ages and Renaissance, his position in more informal contexts should not be minimized. Works such as the Oeconomics, Ethics, Politics, Poetics, and Problemata were much read by an intellectual milieu different from the academic one. In the Renaissance general interest in Aristotle – leaving aside schools and universities – was as great as it was in Plato. Detailed research on this point is lacking.“169

Mit der Editio princeps graeca der aristotelischenAristoteles Poetik, die 1508 in Venedig bei Aldus ManutiusAldus Manutius (1449–1515) erschien und von Demetrius DucasDemetrius Ducas herausgegeben wurde, änderten sich die Rezeptionsbedingungen für die Poetik revolutionär, da nun das neue Medium des BuchdrucksBuchdruck zur Verfügung stand. Mit dieser Ausgabe beginnt die Druck- und BuchgeschichteBuchgeschichte der Poetik in Europa.170 Vor dem Druck des ersten griechischen Poetik-Textes, über dessen handschriftliche Vorlagen sich nichts mehr ausmachen lässt171, waren aber bereits drei lateinische Poetik-Ausgaben erschienen: Im Jahr 1481 die lateinische Übersetzung des averroesschenAverroes Kommentars von Hermannus AlemannusHermannus Alemannus, die mehrere Auflagen erlebte, 1498 die lateinische Übersetzung von Giorgio VallaValla, Giorgio, und 1504 die neue Übersetzung von (vermutlich) B. de VitalibusVitalibus, de B.. Danach folgten griechisch-lateinische Doppelausgaben, etwa 1536 die Ausgabe von Alessandro de PazziPazzi, Alessandro de, und 1548 von Francesco RobortelliRobortelli, Francesco eine griechisch-lateinische Ausgabe mit Kommentar. Die erste italienische Übersetzung folgte 1549 von Bernardo SegniSegni, Bernardo, eine griechisch-italienische Doppelausgabe mit Kommentar von Ludovico CastelvetroCastelvetro, Ludovico erschien 1570.172 Man kann von einem explosionsartig gesteigerten Interesse an der aristotelischenAristoteles Poetik im 16., 17. und 18. Jahrhundert sprechen, wenn man sich die absoluten Zahlen der einzelnen Drucke vergegenwärtigt.173 Bis 1600 sind einschließlich der Nachdrucke und der Poetik-Neuauflagen 32 griechische, 43 lateinische und zehn italienische Poetik-Ausgaben erschienen, von denen 14 Kommentare mit oder ohne den Poetik-Text sind. Bis 1700 waren es zwölf griechische, 23 lateinische und zwei italienische Poetik-Ausgaben, von denen neun Kommentare mit oder ohne den Poetik-Text sind. Und bis 1800 wurden weitere Poetik-Ausgaben veröffentlicht, 16 griechische, acht lateinische und eine einzige italienische, von denen 16 Kommentare mit oder ohne den Poetik-Text sind. Die Gesamtzahl griechischer, lateinischer und griechisch-lateinischer Textausgaben mit und ohne Kommentar von 1481 bis 1800 beträgt 134, der erste Kommentar zur PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) stammt von Robortelli aus dem Jahr 1548. Bis zum Jahr 1800 erschienen weitere nationalsprachliche Übersetzungen: Die erste spanische Übersetzung folgte 1623, die erste französische 1654174, die erste englische Übersetzung 1705, die erste deutsche Übersetzung 1753, die erste portugiesische Übersetzung 1779, die erste niederländische Übersetzung 1780 und die erste dänische Übersetzung 1785. Im 19. und 20. Jahrhundert folgten Übersetzungen und Kommentare in weitere europäische und außereuropäische Sprachen. Dem interessierten deutschsprachigen, nichtgelehrten Lesepublikum, das also die Poetik nicht in einer griechisch-, lateinisch-, italienisch-, spanisch-, französisch- oder englischsprachigen Ausgabe lesen konnte, war es erst mit der von Michael Conrad CurtiusCurtius, Michael Conrad 1753 besorgten deutschen Übersetzung175 möglich, die Poetik kennenzulernen.Aristoteles176 Zwar stammt eine Teilübersetzung des St. Annaberger Schulrektors Adam Daniel RichterRichter, Adam Daniel aus dem Jahr 1751, sie wurde aber an entlegener Stelle in einer Schuleinladungsschrift publiziert,177 was die ausgebliebene Wirkung erklärt, und Richter hat lediglich die ersten fünf Kapitel der Poetik wiedergegeben. Das für die Tragödiendiskussion im 18. Jahrhundert besonders wichtige sechste Kapitel der Poetik mit einer Übersetzung der Textstelle 1449 b 27f. fehlt. Richter begründet dies so:

„Diese fünf ersten Capitel aus des Aristotels Dichtkunst, weil auch die kleine Zahl dieser Blätter nicht mehrere fasset, habe dismal, als eine Probe, ins Deutsche übersetzet liefern, und, weil ich glaube, daß die Übersetzung dieses Buches nicht eben unter die leichtesten gehöret, gelehrte Kenner der critischen Dichtkunst und griechischen Sprache, mit aller Ergebenheit, zugleich ersuchen wollen, diese meine angefangene Übersetzung zu beurtheilen, mir die Fehler zu zeigen, und mich, wie es zu verbessern, gütigst zu belehren. […] Ihro Magnificenz der Herr Professor Gottsched, als der vortreflichste Kenner dieser Gelehrsamkeit, ist derjenige, den ich diese meine angefangene Übersetzung […] der aristotelischen Dichtkunst zu beurtheilen, und mich, wo ich gefehlet, zu belehren, mit vieler Ergebenheit mir erwählen wollte. Denn nachdem es mir gelungen, werde ich in solcher Übersetzung fortfahren, oder aufhören.“178

Eine Untersuchung zur PoetikPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles)-Rezeption in Deutschland, wie sie vergleichbar etwa Marvin Theodore Herrick für die Poetik-Rezeption in England bereits 1930 vorgelegt hat179, ist Desiderat. Denn zum Kreis der Rezipierenden in Deutschland sind ab dem 18. Jahrhundert in erster Linie alle an LiteraturLiteratur Interessierten zu rechnen, Schriftsteller, Kritiker und Philologen gleichermaßen. LessingsLessing, Gotthold Ephraim Verteidigung der aristotelischenAristoteles Poetik in der Hamburgischen DramaturgieHamburgische Dramaturgie (1767/69) gab den entscheidenden Impuls, um die Literaten der 1770er- und 1780er-Jahre für die Poetik zu interessieren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen noch drei weitere Übersetzungen oder Teilübersetzungen der Poetik, 1797 die Kompilation aus Zitaten, Übersetzungen und Kommentaren der Poetik und der horazischenHoraz Ars poeticaArs poetica von J. Christoph RegelsbergerRegelsberger, J. Christoph180, 1798 die Übersetzung von Johann Gottlieb BuhleBuhle, Johann Gottlieb181, der sich zugleich auch als Editor und Kommentator einen Namen machte, und 1799 der Auszug einer Übersetzung von Johann Jakob Meno ValettValett, Johann Jakob Meno182, der die gesamte Übersetzung 1803 veröffentlichte183. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts brach nach HermannsHermann, Godofred Poetik-Ausgabe184 von 1802 ein wahrer altphilologischer Boom an Editionen, Übersetzungen und Interpretationen aus. Die Poetik des AristotelesAristoteles hatte sich endgültig als ein kulturgeschichtlicherkulturgeschichtlich PermatextPermatext etabliert.