Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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Schließlich lässt sich aus Musils Essayfragment auch eine Zusatzthese zur Herkunft des Titels von seinem großen Roman Der Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften ableiten. Nach landläufiger Meinung trägt der Roman spätestens seit Anfang 1927 diesen Titel.28 Dies ist die bislang versuchte präziseste Datierung. Die Herkunft der Formel ohne Eigenschaften aus der Mystik konnte nachgewiesen werden.29 „Musils Verwendung des Wortes ‚Eigenschaft‘ im Titel seines großen Romans bezeichnet den vorläufigen Endpunkt und zugleich einen Höhepunkt dieser Begriffsgeschichte“30. Die Formulierung ohne Eigenschaften als Bestandteil eines Romantitels sei ein „Markstein moderner Säkularisierung“31. Neben die mystische Tradition des Eigenschaftsbegriffs bzw. der Eigenschaftslosigkeit tritt aber ein weiteres rezeptives Moment, das für Musils Geisteswelt im Allgemeinen und für die Titelfindung seines Romans im Besonderen konstitutiv ist. Die SchillerSchiller, Friedrich-Zitate in Musils Essayfragment belegen eine erneute intensive Schiller-Lektüre Musils etwa um 1927. Bereits für die ersten Nachkriegsjahre (um 1919/20) ist eine eingehende Beschäftigung Musils mit Schiller verbürgt,32 wie sich schon zu Beginn seiner intellektuellen Entwicklung der junge Musil mit den ästhetischen Schriften Schillers auseinandergesetzt hatte,33 wenngleich er in diesem Punkt nicht mit seiner Frau Martha MusilMusil, Martha, geb. Heimann, (1874–1949) konkurrieren konnte.34 Der Stellenwert jener Zitate lässt sich nun nicht nur im Hinblick auf die Schiller-Rezeption Musils im Gesamtfeld der Klassikerrezeption des Autors analysieren, sondern erlaubt darüber hinaus auch die Annahme, dass der Anteil der schillerschen Formel „Mann ohne seines Gleichen“35 aus der sogenannten unterdrückten Vorrede zu den RäubernDie Räuber(1781) an Musils Formel „Mann ohne Eigenschaften“ nicht unerheblich ist. MusilMusil, Robert schreibt in seinem Essayfragment:

„In der unterdrückten Vorrede zu den Räubern (ib. 9) nachdem er den schönen Satz geschrieben hat ‚Man stößt auf Menschen, die den Teufel umarmen würden, weil er der Mann ohne seinesgleichen ist‘ […]“36.

Im Roman wird dieses Zitat Arnheim in den Mund gelegt, der in einem Gespräch mit Ulrich sagt: „Aber ich glaube Ihnen nicht, denn Sie sind ein Mensch, der den Teufel umarmen würde, weil er der Mann ohnegleichen ist“37, dies just in jenem Teil des Romans, der mit „Seinesgleichen geschieht“38 überschrieben ist. Ulrich ist der „Mann ohne seinesgleichen“, der Prototyp einer Versuchsreihe, der Interesse erregt, weil er – legt man Musils „Theorem der Gestaltlosigkeit“39 zugrunde – zwar Träger von Eigenschaften (äußerlichen, akzidentellen) ist, selbst aber im Wesen eigenschaftslos, ein „Substrat“40, „etwas ganz Ungestaltetes“41 bleibt. Auch das 1911 in einem Briefkonzept an Franz BleiBlei, Franz (1871–1942) festgehaltene Aperçu: „Schiller wird nicht durch den Naturalismus widerlegt sondern durch seine ungenügende Persönlichkeit“42, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die geistige Welt von SchillersSchiller, Friedrich Werk für MusilMusil, Robert Wegbegleiter der eigenen Denkentwicklung ist und sich in vielfältigen Spiegelungen in seinem Werk sedimentiert. Musils Essayfragment verdeutlicht zudem, dass der Autor trotz aller zeitweisen positivistischen Annäherung und Verbrüderung der Auseinandersetzung mit metaphysischen Fragestellungen und Problemlösungsversuchen aufgrund eines eigenen, bestimmten philosophischen Standpunkts, der in seinen Ursprüngen auf AristotelesAristoteles zurückreicht, verpflichtet bleibt. Sein Essayfragment stellt in diesem Sinne zwar einen Beitrag zur Pflege der Kultur philosophischer Diskussion dar, doch wird zugleich auch deutlich, dass Musil, wie nur wenige, philosophische Fragestellungen an den Vorgaben der LiteraturLiteratur bemisst.

Franz WerfelWerfel, Franz Der WeltfreundDer Weltfreund (1911)

Zu den Gemeinplätzen über die expressionistischeExpressionismus Literatur, insbesondere über die expressionistische Lyrik, gehört, dass die Autorinnen und Autoren eine neue Formensprache und eine neue Ausdrucksweise gesucht hätten. Kein Geringerer als Gottfried BennBenn, Gottfried hat diese Suche nach einer ‚neuen Sprache‘ in einem Interview von 1956 so beschrieben: „Meine Generation war eben dazu bestimmt, die alten Formen, die seit GoetheGoethe, Johann Wolfgang galten, noch bei GeorgeGeorge, Stefan und RilkeRilke, Rainer Maria waren, zu zerbrechen und eine neue Sprache zu schaffen“1. Es ist also weniger der ‚neue Mensch‘, der zunächst gesucht wird, als vielmehr die ‚neue Sprache‘, die gefunden wird.

Das betrifft auch den Gebrauch des Vokals ‚o‘, der seine symbolische Bedeutung natürlich aus dem Bekenntnis des jüdisch-christlichen Gottes nach der Offenbarung des Johannes bezieht: ‚Ich bin das A und das O‘ (vgl. Offb 22, 13), was bedeutet: der Anfang und das Ende, denn hier ist das ‚O‘ als langes ‚O‘, also als Omega zu lesen, und das ist der letzte Buchstabe im griechischen Alphabet. Umgangssprachlich ist diese Wendung ‚das A und O‘ längst angekommen, um die Bedeutung einer Aussage oder eines Sachverhalts zu unterstreichen.

Franz WerfelWerfel, Franz gilt mit seinem ersten Gedichtband Der WeltfreundDer Weltfreund von 1911 als einer der Initiatoren dieser neuen Sprache. Seine Gedichtsprache steht bis heute im Verdacht einer ‚ungeordneten‘, rhetorisch aufgeladenen Sprechweise. Das hat schon Oskar LoerkeLoerke, Oskar bemängelt, er spricht in seinem Tagebuch in einer Eintragung vom 5. Juli 1925 von dem „rhetorischen Werfel“2. Letztlich ist auch dies eine Geschmacksentscheidung, denn welche Gedichtsprache bedient sich nicht in der einen oder anderen Form des rhetorischen Wissens? Doch bei Franz Werfel tritt hinzu, dass er sich dieser rhetorischen Sprechweise durchaus bewusst ist. So schreibt er etwa in dem Weltfreund-Gedicht An mein Pathos:

„Darum lobe ich selbstgefällige Würde

Meine erhabene, abendsgeübte Rhetorik.

[…]

Und mich feit vor Selbstmord und üblen Gedanken

Faltenwurf und Kothurn und tragisches Sprechen!“ (E, S. 97)3

Der einzelne Vokal hat kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich natürlich eine immense Bedeutung, dies erkannte schon Walter BenjaminBenjamin, Walter. Er schrieb in seinem Aufsatz ABC-Bücher vor hundert JahrenABC-Bücher vor hundert Jahren, der am 12. Dezember 1928 in der Beilage für die Frankfurter Zeitung mit dem Adressatinnentitel Für die Frau erschien, Folgendes über die Bedeutung von Buchstaben:

„Kein Königspalast und kein Cottage eines Milliardärs hat ein Tausendstel der schmückenden Liebe erfahren, die im Laufe der Kulturgeschichte den Buchstaben zugewandt worden ist. Einmal aus Freude am Schönen und um sie zu ehren. Aber auch in listiger Absicht. Die Buchstaben sind ja die Säulen des Tores, über dem ganz gut geschrieben stehen könnte, was Dante über den Pforten der Hölle las, und da sollte ihre rauhe Urgestalt die vielen Kleinen, die alljährlich durch dieses Tor müssen, nicht abschrecken. Jeden einzelnen dieser Pilaster behing man also mit Girlanden und Arabesken.“4

Erst die „europäische Aufklärung“5 entdeckte die BuchstabenBuchstaben als Kulturobjekt und entwickelte das Bewusstsein einer KulturgeschichteKulturgeschichte der Buchstaben. Benjamin weiter:

„[…] Abordnungen aller A’s, B’s, C’s usw. erschienen, […]. Wenn Rousseau sagt, daß alle Souveränität vom Volk stammt, so bekunden diese Tafeln es laut und entschieden: ‚Der Geist der Buchstaben stammt aus den Sachen. Uns, unser So-und-Nicht-anders-Sein, haben wir in diesen Buchstaben ausgeprägt. Nicht wir sind ihre Vasallen, sondern sie sind nur unser lautgewordener gemeinsamer Wille‘.“6

Das wohl bekannteste Gedicht über den o-Vokal in der deutschen Lyrikgeschichte ist Ernst JandlsJandl, Ernst ottos mopsottos mops (1970). Die Dichterin Friederike MayröckerMayröcker, Friederike schrieb 1976 über diesen Text:

„Je öfter wir diesem Gedicht begegnen desto sicherer sind wir darüber daß hier immer von neuem eine Verwandlung sich vollzieht, die so wunderbar immer von neuem glückt wie kaum anderes das je in dieser Sprache geschrieben wurde. Nämlich: von der Liebe zum Vokal zur Wirklichkeit des Bilds; vom Glauben an das O zur Offenbarung Poesie.“7

JandlsJandl, Ernst ottos mopsottos mops ist längst zu einem Klassiker der durchaus auch humorvollen experimentellen Lyrik geworden, der „eben aus dem Vokal o gebaut [ist]“8, es lautet folgendermaßen:

„ottos mops trotzt

otto: fort mops fort

ottos mops hopst fort

otto: soso

otto holt koks

otto holt obst

otto horcht

otto: mops mops

otto hofft

ottos mops klopft

otto: komm mops komm

ottos mops kommt

ottos mops kotzt

otto: ogottogott.“9

1982 veröffentlichte MayröckerMayröcker, Friederike in ihrem Gedichtband Gute Nacht, guten MorgenGute Nacht, guten Morgen das Ende der 1970er-Jahre geschriebene Gedicht dieses trockene Gefühl von Schlaflosigkeitdieses trockene Gefühl von Schlaflosigkeit.10 Darin fädelt die Dichterin die disparaten Gedichtteile an einer ‚o‘-Vokalkette regelrecht auf. Begriffe wie Trockene, Schlaflosigkeit, violenfarben, Wohlbefinden, Kamelwolle, dorfmäszig, Poesie, pyromanisch, Gladiolen schaffen eine Lautkontinuität, die durch beziehungsreiche Vokal- und Diphthongassoziationen über kleinere Zeileneinheiten hinweg zusätzlich verstärkt wird. Mayröckers ‚violenfarbene Nächte‘ eröffnen den Blick auf ‚Nachtviolen‘, die sich wiederum als ein musik- und literaturgeschichtlicher Hinweis lesen lassen.11 Der Österreicher Johann MayrhoferMayrhofer, Johann (1787–1836), der als Zensor im Wiener k.u.k. (oder mit MusilsMusil, Robert Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften gelesen: im kakanischen) Bücherrevisionsamt tätig war, veröffentlichte 1824 einen kleinen Lyrikband. Darin findet sich ein Gedicht mit dem Titel NachtviolenliedNachtviolenlied, dessen erste Strophe lautet:

 

„Nachtviolen, Nachtviolen!

Dunkle Augen, Seelenvolle,-

Selig ist es sich vertiefen

In das sammtne Blau.“12

Entlang dieser nur selektiven Beobachtungen ließe sich durchaus eine kratylische Geschichte des ‚o‘-Vokals schreiben. Zu literarischen Ehren gelangte das große ‚O‘ in Paulin Reage’sReage, Paulin (das ist Anne DesclosDesclos, Anne) erotischem Bestsellerroman Die Geschichte der ODie Geschichte der O (fr. 1954). Hier ist „die O.“ eine anonymisierte Frau, die in sadomasochistischer Partnerschaft die diversen Stufen einer solchen Verdinglichung des weiblichen Körpers durchläuft. Zugleich ist der Vokal ‚o‘ aber auch Symbol des ewigen Kreislaufs des BegehrensBegehren. Die Verfilmung in der Regie von Just Jaeckin (1975) verhalf dem Roman zu großer Bekanntheit.

Statt einen einzigen Vokal wie das ‚o‘ freizustellen, hervorzuheben und mit symbolischer Bedeutungsymbolische Bedeutung aufzuladen, gibt es in der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte vereinzelte gegenteilige Versuche, wonach Vokale oder bestimmte BuchstabenBuchstaben konsequent aus einem fiktionalen Text getilgt werden, sie also in ernst gemeinter programmatischer, satirischer oder in aleatorisch-spielerischer Absicht weggelassen werden. Zu erinnern ist etwa an die 1788 erschienenen Gedichte ohne den Buchstaben RGedichte ohne den Buchstaben R von Gottlob Wilhelm BurmannBurmann, Gottlob Wilhelm (1737–1805). Doch erst der in der deutschsprachigen Literatur heute völlig vergessene Autor eines satirisch-aleatorischen Textes Friedrich Heinrich BotheBothe, Friedrich Heinrich (1771–1855) versucht erstmals konsequent in der Romanprosa dieses Elisionsverfahren durchzuführen. Bothe steht an der Schwelle zwischen AufklärungAufklärung und RomantikRomantik. In der Vorrede zu seinen Vermischten satirischen SchriftenVermischte satirische Schriften (Bothe) (1803) weist er zwar die Autorschaft des nachfolgend zitierten Textes zurück, doch ist diese Angabe mehr als zweifelhaft.13 Sein Kurzroman mit dem Titel Dadel didel dudel variiert in sechs Kapiteln nur diese drei Worte in ihrer Reihenfolge, jedes Kapitel enthält also lediglich diese drei Worte, so dass der Wortlaut der Varianzen insgesamt 18 Mal wiederkehrt.14 An den Roman schließt Bothe eine Selbstrezension an:

„Obenstehender Roman des Herrn Dadel ist einer der besten, den wir in der sentimentalen Gattung haben. Welche höchst süße Variazionen des holden Ich! Aus jeder Zeile spricht der liebenswürdige Herr Dadel heraus! In jeder Zeile lebt ein Wohlklang, den nur die Hand eines solchen Meisters verleihen konnte. Die bewundernswerthe Ichheit (wenn wir so sagen dürfen) giebt dem Roman eine Einheit und Selbstständigkeit, die sich gewaschen haben. Was ihm dagegen an Mannichfaltigkeit fehlt, das ersetzt er durch Nachdruck.“15

Darauf folgt ein Kapitel über die Nachahmer des Dadel-didel-dudel-Romans und über seine Rezension:

„Der Nachahmer.

D-d-l d-d-l d-d-l.

Roman in Briefen.

Erster Brief.

Hans an Peter.

Dadl didl dudl.

Zweyter Brief.

Peter an Hans.

Didl dadl dudl.

Dritter Brief.

Hans an Greten.

Dudl dadl didl.

Vierter Brief.

Grete an Hans.

Dadl dudl didl.

Fünfter Brief.

Vetter Michel an Hans.

Didl dudl dadl.

Sechster Brief.

Hans an Vetter Michel.

Dudl didl dadl.

Ende.“16

Und auch dieses Nachahmungsgedicht rezensiert BotheBothe, Friedrich Heinrich selbst, wiederum satirisch:

„Obiger Roman des Herrn Dadl gehört gleichfalls zu der sentimentalen Gattung. Beym ersten Anblick glaubt man einige Aehnlichkeit mit dem vorhin rezensirten Roman des Herrn Dadel zu sehn. Aber es ist bloßer Schein. Leute, wie Herr Dadl und Herr Dadel ahmen nicht nach. Will ja ein Starrkopf sich von der Idee nicht abbringen lassen, so wird er wenigstens zugeben, daß Herr Dadl Herrn Dadel bey weiten [!] an Präzision und nachdrücklicher Kürze übertrifft. Dadl didl dudl! Wie viel nachdrücklicher als Herrn Dadels Dadel didel dudel! Und dann die Familiengleichheit, die Wirheit, daß ich mich so ausdrücke, der schreibenden Personen! Wahrlich hier trifft das Sprichwort ein. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus. Oder: Wie du mir, so ich dir. Doch wir müssen uns mit Gewalt zurückhalten mehr über ein Werk zu sagen, über das man nie genug sagen kann.“17

Einen umfänglicheren Versuch wagte im Jahr 1813 Franz RittlerRittler, Franz (1782–1837). Doch auch sein Roman ohne ‚r‘ mit dem Titel Die Zwillinge. Ein Versuch aus sechszig [!] aufgegebenen Worten einen Roman ohne R zu schreibenDie Zwillinge ist völlig in Vergessenheit geraten, immerhin galt das R, wie es in ShakespeareShakespeare, Williams Romeo and JulietRomeo and Juliet heißt, als „dog’s name“18, da es in der elisabethanischen Aussprache dem Knurren eines Hundes geähnelt haben soll. In der Nachschrift zum Roman bietet RittlerRittler, Franz an, einen „noch weit schwierigeren Versuch zu wagen, nähmlich in einem kleinen Romane ohne ABC, einen abermahligen Beweis der Biegsamkeit und Reichhaltigkeit unserer Muttersprache aufzustellen“19. Zu diesem leipogrammatischen Selbstversuch kam es allerdings nicht mehr. In jüngerer Zeit hat Judith W. TaschlerTaschler, Judith W. in ihrem Roman ohne URoman ohne U (Wien 2014) ganz auf den Vokal ‚u‘ verzichtet – zumindest als Titelmotiv. In der französischen Literatur finden diese Versuche in Georges PerecPerec, Georges einen krönenden und zugleich populären, vorläufigen Abschluss. Er veröffentlichte 1969 einen ‚Roman ohne e‘, La disparitionLa disparition.20 Das ‚e‘ gehört in der deutschen und der französischen Sprache zu den am häufigsten verwendeten Buchstaben.

Anders sieht es bei der Verwendung von ‚o‘ und ‚oh‘ als Interjektionen aus. Wenn man heute Franz WerfelsWerfel, Franz frühe Gedichte liest, dann geschieht dies meist unter dem Aspekt expressionistischerExpressionismus Ausdruckskraft und Gestaltungsmöglichkeiten. Und in der Tat, den markanten Differenzpunkt in Werfels Lyrik zu finden zwischen expressionistischen Texten und der späteren Lyrik, ist durchaus problematisch. Welche Bedeutung hat es also, wenn Werfel in der Erstausgabe des WeltfreundsDer Weltfreund vorwiegend ‚o‘ gebraucht und diese Interjektion dann aber in der Ausgabe letzter Hand in ‚oh‘ umwandelt?

Grammatisch gesehen handelt es sich bei dem ‚o‘ lediglich um eine sekundäre Interjektion oder um einen Vokativ. Auch das Deutsche WörterbuchDeutsches Wörterbuch der Brüder GrimmGrimm, WilhelmGrimm, Jacob hilft hier nicht weiter. Es verzeichnet jenseits der grammatischen Stellung und der sprachhistorischen Entwicklung unter „O!“ die Bemerkung, es sei eine „interjection des ausrufs der verschiedenartigsten affecte“, oder eine „interjection an ausrufe angehängt“.21 Außerdem sei „O! oh! oha!“ eine „interjection, zuruf an pferde und andere zugthiere stillzustehn“22. Im Allgemeinen gilt von Interjektionen Folgendes: Interjektionen dienen zum Ausdruck von inneren Befindlichkeiten, Gefühlen, Affekten. In der Grammatikografie wird ‚o‘ als Ausdruck der Verwunderung und ‚oh‘ als Ausdruck der Klage oder des Kummers beschrieben.23 Folgt man dem herkömmlichen sprachwissenschaftlichen Verständnis von Interjektion nach dem Handbuch der Lexikologie, so wird Interjektion folgendermaßen definiert: „Aufgrund ihrer semantischen Eigenschaften können Interjektionen in pragmatischer Hinsicht expressive (Ausdruck von Emotionen und Körperempfindungen des Sprechers), reaktive (Reaktionen auf Hörerhandlungen), appellative und darstellende Funktionen besitzen“24.

In rhetorikgeschichtlicher Hinsicht ist für die Interjektion dies bedeutsam: „Erst von den lateinischen Grammatikern und Rhetorikern wird der Begriff I[nterjektion] als Bezeichnung einer lexikalischen Restkategorie eingeführt“25. Einen geschichtlichen Überblick über die Bedeutung der Interjektion als einem rhetorischen Stilmittel bietet das Historische Wörterbuch der Rhetorik.26 „‚Interiectio est pars orationis affectum animi significans‘. Die Interjektion ist ein Redeteil, der den Zustand der Seele, die Gemütsstimmung, das Gefühl – eben den Affekt bezeichnet“27. Interjektionen sind demnach das „Residuum der Emotionalität der Sprache“28.

Demgegenüber macht die Linguistik die sprachliche Seite von Interjektionen geltend. Sie werden, wie andere Wortarten auch, erlernt und sind Ausdruck eines illokutiven Akts. Allerdings wird demgegenüber kritisch festgehalten, die Interjektion friste „in den Grammatiken des 20. Jhs. weiterhin nur ein Schattendasein, in dessen Halbdunkel sich kaum mehr als der Erkenntnisstand der Vor-Aufklärung präsentiert“29. Die Einsicht in den „dialogischen Charakter“30 der Interjektion sei über zwei Jahrtausende verstellt geblieben. Beim ‚o‘ unterscheidet man eine Kurzform und eine Langform, die Ausdruck von positiver Betroffenheit und diese wiederum Ausdruck von Bewunderung ist.31 Die Verwandtschaft mit dem grammatischen Vokativ ist allerdings noch zu erkennen.

„Das o in der Anrede findet sich heute kaum noch. Sein Gebrauch ist auf feste Formeln beschränkt, die als stereotypisierte Wendungen insgesamt unter besonderer Bindung an feste Vorkommenskonstellationen eingesetzt werden, wie ‚Oh mein Gott!‘ u.ä. Es sind z.T. der religiösen Sprache entnommene, ihr aber vollständig entfremdete Ausdrucksverbindungen. Der vokativische Charakter der ganzen Formel ist mit der Lösung aus ihrem Ursprungszusammenhang verloren gegangen. Entsprechend kann der Gebrauch des oh als Teileinheit des Komplexausdrucks schwerlich als Beleg für vokativisches oh angesehen werden.

Ansonsten gilt das vokativische oh als eine Form, die antiquiert ist. […]

Dieses Schwinden des vokativischen oh erweist sich – beim Blick auf seine Geschichte – als Umkehrung der Einführung dieses Ausdrucks ins Deutsche in gotischer und mittelhochdeutscher Zeit.“32

Im Gotischen taucht dieses vokativische ‚oh‘ als Pendant zum griechischen Omega drei Mal in der gotischen Bibelübersetzung, der sogenannten Wulfilabibel aus dem vierten Jahrhundert, deren Vorlage der griechische Text war, auf. Im Althochdeutschen kommt es gar nicht vor. Erst ab 1125 ist es wieder im Mittelhochdeutschen belegt. Ab dem 14. Jahrhundert wird es vermehrt auch in weltlichen Texten gebraucht. Diese interiectio admiratio liegt wohl, wenn man dies etwas verallgemeinert, in den meisten Fällen eines ‚o‘-Gebrauchs vor.33

WerfelsWerfel, Franz Lyrik ist vor allem vor dem Hintergrund bekannt, dass er ein wichtiger Beiträger für Kurt PinthusPinthus, Kurt’ expressionistischeExpressionismus Lyrikanthologie MenschheitsdämmerungMenschheitsdämmerung (1920) gewesen ist. Immerhin ist der Autor darin mit insgesamt 27 einzelnen Gedichten vertreten, vier davon stammen aus dem WeltfreundDer Weltfreund. Im Einzelnen sind dies Der dicke Mann im Spiegel (vgl. E, S. 21), Der schöne strahlende Mensch (vgl. E, S. 87), Ich habe eine gute Tat getan (vgl. E, S. 105) und An den Leser (vgl. E, S. 110). Die Auswahl traf der Herausgeber Pinthus. In den biografisch-bibliografischen Angaben zum Autor Werfel, die ebenfalls der Herausgeber Pinthus zusammengestellt hat, schreibt er, er habe im Lektorat des Kurt Wolff-Verlags 1912 in Leipzig zusammen mit Werfel und Walter HasencleverHasenclever, Walter „ein Sammelzentrum“ gebildet, „wo viele junge Autoren der expressionistischen Generation und ihr nahestehende ältere Dichter freundschaftliche Aufnahme und Förderung fanden“34. In seiner Einleitung verleiht Pinthus seiner Freude darüber Ausdruck, dass Werfel und DäublerDäubler, Theodor, Lasker-SchülerLasker-Schüler, Else, HeymHeym, Georg, TraklTrakl, Georg, StadlerStadler, Ernst, BennBenn, Gottfried und GollGoll, Ivan „sozusagen zu expressionistischen Klassikern aufgerückt sind, die man verehrt und studiert“35.

Die Bedeutung Werfels für den Prager Kreis ist bei weitem noch nicht genügend erhellt. Franz KafkaKafka, Franz beispielsweise ist von Werfels ersten Gedichten mehr als beeindruckt. Er notiert am 23. Dezember 1911 anerkennend in sein Tagebuch: „Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt. Einen Augenblick fürchtete ich, die Begeisterung werde mich ohne Aufenthalt bis in den Unsinn mit fortreißen“36. Kafka spürte, welch epochale Wirkung dieses neue lyrische Sprechen hatte. Ähnlich schreibt er auch in einem Brief an Felice BauerBauer, Felice vom 12. Dezember 1912: „Weißt du, Felice, Werfel ist tatsächlich ein Wunder; als ich sein Buch Der WeltfreundDer Weltfreund zum ersten Mal las (ich hatte ihn schon früher Gedichte vortragen hören), dachte ich, die Begeisterung für ihn werde mich bis zum Unsinn fortreißen. Der Mensch kann Ungeheueres“.37 Und wenige Wochen später, am 1./2. Februar 1913, liest man:

 

„Werfel hat mir neue Gedichte vorgelesen, die wieder zweifellos aus einer ungeheueren Natur herkommen. Wie ein solches Gedicht, den ihm eingeborenen Schluß in seinem Anfang tragend, sich erhebt, mit einer ununterbrochenen, inneren, strömenden Entwicklung – wie reißt man da, auf dem Kanapee zusammengekrümmt, die Augen auf!“38

Später, im Dezember 1922, wird KafkaKafka, Franz an WerfelWerfel, Franz schreiben, dieser sei ein „Führer der Generation“39.

Auch Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria hält in einer Fußnote zu Beginn seines Aufsatzes Über den jungen DichterÜber den jungen Dichter, der mutmaßlich im Sommer 1913 geschrieben, aber erst 1931 veröffentlicht wurde, fest: „Für den Verfasser war die vielfach beglückende Beschäftigung mit den Gedichten Franz Werfels gewissermaßen die Voraussetzung zu diesem Aufsatz. Es sei daher auf Werfels beide Bände Gedichte (Der Weltfreund und Wir sind) an dieser Stelle hingewiesen“40. Es ist sicherlich zutreffend, von „Rilkes admiration“41 zu sprechen.

Hohe literarische Ehren wurden Franz WerfelWerfel, Franz in Robert MusilsMusil, Robert Epochenroman Der Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften (1930/1932)42 zuteil. Darin wird eine Dichterlesung geschildert, die ein gewisser Friedel Feuermaul alias Franz Werfel abhält.43 MusilMusil, Robert scheint Werfels frühe Gedichtbände gekannt und ihnen einigermaßen wohlwollend gegenübergestanden zu haben. Genau zu belegen ist das allerdings nicht.44 Nach dem Ersten Weltkrieg ging Musil aber zunehmend auf Distanz zu Werfel und die anfängliche Wertschätzung wich einer kritischen bis ironischen Betrachtung. Das gipfelt in Musils bemerkenswerter Formulierung im Tagebuch vom Februar 1930 (Tagebuchheft 31), in der sich eine Mischung aus Neid, Angst, Idiosynkrasie und Überheblichkeit und zugleich eine tiefe Frustration ausdrückt: „Meine Schwierigkeit: Was habe gerade ich in einer Welt zu bestellen, in der ein Werfel Ausleger findet!“45 Allerdings ist dieser Ausruf in erster Linie eine impulsive Reaktion – also eine Art langgezogene Affektinterjektion ‚oh!‘ – auf das Huldigungsbuch Franz Werfel. Versuch einer ZeitspiegelungFranz Werfel. Versuch einer Zeitspiegelung (Wien 1926) von Peter Stephan JungkJungk, Peter Stephan. Und Musils Notiz ist vergleichsweise harmlos, verglichen mit Thomas MannsMann, Thomas entsetzlicher Bemerkung in seinem Tagebucheintrag vom 1. September 1933 anlässlich von Theodor LessingsLessing, Theodor (1872–1933) Ermordung durch die Nazis: „Mir graust vor einem solchen Ende, nicht weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir“46. Eine erste persönliche Begegnung zwischen Werfel und Musil fand vermutlich im Frühjahr 1918 im Kriegspressequartier in Wien statt, für das beide als Soldaten arbeiteten. Dort traf er auch mit Franz BleiBlei, Franz und Paris GüterslohGütersloh, Paris zusammen. Diese beiden und Werfel hielt Musil für „die einzigen Köpfe im KPQ. Sie werden nun als der Abhub hingestellt“47, wie er im Tagebuch beklagt.

Musil rezensierte die Wiener Premieren der beiden Werfel-Stücke BocksgesangBocksgesang (1921)48, dessen Uraufführung im Wiener Raimundtheater am 15. März 1922 erfolgte, und Spiegelmensch. Magische TrilogieSpiegelmensch (1920)49, die Erstaufführung fand im Wiener Burgtheater am 26. April 1922 statt. Am 15. März 1922 (und nicht am 26. April 1922!)50 distanziert sich Musil im literarischen Feld der Zeit von WerfelWerfel, Franz. Er veröffentlicht seine Theaterkritik des SpiegelmenschenSpiegelmensch und nutzt den Begriff des SymbolsSymbol, um das Undichterische an Werfels Stück BocksgesangBocksgesang zu kritisieren: „Der SinnSinn, der im Gestalteten nicht steckt, muss im Mitgestalteten stecken. Um es kurz zu sagen, das Spiel muß ein Symbol sein. Denn Symbol ist etwas, durch das der unausgesprochene Sinn elementar mitgestaltet wird; wogegen Allegorie bloß eine Anspielung auf bekannte Gestalten wäre […]“51. Werfels Stück erschöpfe sich im Opernlibrettohaften und erreiche die Tiefe des Symbolischen nicht. Es ist offensichtlich, dass MusilMusil, Robert hier normativ verfährt, möglicherweise hielt er seine Darlegung für das Beispiel eines deskriptiven Diskurses. Das macht auch folgendes Zitat aus derselben Theaterkritik deutlich: „Denn Sich-hineinversetzen ist die eine Hälfte der Dichtung, die andere Hälfte ist das Gegenteil: In sich hineinversetzen, Wille, Sinngebung. […] Es beginnt die Deutung“52. Und weiter schreibt er: „Werfel führt seit Jahren einen energischen Kampf um vertiefte Bedeutung; er führt ihn meiner Ansicht nach zu klug, zu wenig gegen sich selbst […]“53. Von dem Literaturwissenschaftler Wolfdietrich Rasch ist ein Gespräch aus dem Jahr 1932 mit Musil überliefert, worin er Folgendes über WerfelWerfel, Franz gesagt haben soll: „Von Werfel sprach er des öfteren, bestätigte auch, daß er mit dem Dichter Feuermaul in seinem Roman gemeint sei. Werfel hatte für Musil die Bedeutung eines Gegenbildes. Er gab gelegentlich zu, daß er ihm persönlich vielleicht nie gerecht werden mochte, aber er sei eben für ihn ‚nicht glaubwürdig‘, Beispiel eines talentvollen und doch unechten Dichtertums […]“54.

Den einzelnen Filiationen zwischen Musil und Werfel nachzugehen, ist hier nicht der Ort.55 Allerdings ist die literarische Figur des Friedel Feuermaul in Musils Roman Der Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften eine unmittelbare Reaktion des Schriftstellerkollegen auf den Lyriker, der mit seinen WeltfreundDer Weltfreund-Gedichten den Boden für expressionistischesExpressionismus Pathos bereitet hat. Musil kann es nicht lassen, darauf in der genannten Mischung aus Neid, Missgunst, Arroganz und heller Analyse zu reagieren und den Dichter Feuermaul als Alter Ego von Franz Werfel in seinem Roman zu positionieren. Die entsprechenden Feuermaul-Kapitel erscheinen 1932. Darin lässt er Ulrich sagen, Feuermaul sei „begabt, jung, unfertig“56, sein Erfolg würde ihn verderben. Auf der anderen Seite ist Friedel Feuermaul alias Franz WerfelWerfel, Franz im Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften gerade jene Person, durch die ‚die krönende Idee‘ der Parallelaktion in Diotimas Salon gefunden wird. Der Dichter Feuermaul wird durch eine Frau Drangsal protegiert. Als General Stumm von Bordwehr Ulrich fragt, ob er diesen Dichter kenne, bestätigt er, Feuermaul sei Lyriker. Er habe gute Verse geschrieben und Theaterstücke. Der General weiß mit diesen Informationen wenig anzufangen und kommentiert sie mit den Worten: Feuermaul „ist der, der sagt: der Mensch ist gut. […] Frau Professor Drangsal protegiert halt die These, daß der Mensch gut ist, und man sagt, das sei eine europäische These, und Feuermaul soll eine große Zukunft haben“57. Diotima wird diese europäische These wenig später als „Mode“58 bezeichnen. Feuermaul habe manchmal „schöne Einfälle, aber er kann nicht zehn Minuten warten, ohne einen Unsinn zu sagen“59. In zehn Jahren sei Feuermaul aber eine internationale Größe. Dieses 36. Kapitel des Romans beleuchtet die Figur Feuermaul aus unterschiedlichen Perspektiven, aber stets unvorteilhaft. So sauge er etwa mit der Gier eines Kalbes, das mit der Schnauze an den mütterlichen Euter stoße, an seiner Zigarre. ‚Der Mensch sei gut‘ sei eine „ewige Wahrheit“60, sagt Feuermaul selbst; von Tuzzi wird er als ein „Erzpazifist“61 verdächtigt; Hans Sepp nennt ihn einen „Streber“62, auf den die Menschen hereingefallen seien. Und im 37. Kapitel wird ihm ironisch zwar konzediert, er sei kein Schmeichler, habe aber „nur zeitgemäße Einfälle am rechten Platz“63 und letztlich rede er den Menschen doch nach dem Mund. Man hat zu Recht die Figur des Friedel Feuermaul nicht als eine literarische Randfigur gelesen, sondern ins Zentrum einer Textanalyse gerückt und sie als SymbolSymbol des Missverhältnisses von Politik und Literatur im Roman gewertet.64 Feuermaul-Werfel sei Symbol jener Bewegung, „die alle Krisen der Gesellschaft im Medium der ‚Kultur‘ zu überwinden sucht“65, er sei die „symbolische Gestaltung der Gesellschaftskrise im Kulturellen“66.