Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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Was den Nachweis einer zeitgenössischen Wirkung von Weises Dramen im Allgemeinen wie auch des MasanielloMasaniello im Besonderen betrifft, ist die Quellenlage äußerst dünn. Zu viele Archivalien sind durch Kriege und Brände vernichtet worden. Schon 1935 hat Walther Eggert in seiner Weise-Studie den Versuch unternommen, die noch vorhandenen Zeugnisse zusammenzutragen und auszuwerten. Seinen Forschungen ist zu entnehmen, dass Weises Dramen die größte Wertschätzung in Annaberg genossen. Auf der dortigen Bühne wurden bis zum Brand von 1731 mehr Stücke von Weise aufgeführt, als dies selbst in Zittau der Fall gewesen ist.39 Vermuten lässt sich indes nur, dass Weises Dramen nicht nur auf dem protestantischen Schultheaterprotestantisches Schuldrama aufgeführt wurden, sondern auch den Eingang ins zeitgenössische Programm des höfischen Theaterhöfisches Theaters fanden. Spuren von Weises Masaniello lassen sich zudem im Programm der Wanderbühnen nachweisen. Doch kam es außer Barthold FeindsFeind, Barthold Masagniello furiosoMasagniello furioso (1706) zu keiner weiteren produktiven RezeptionRezeption.40 In der Literatur des 18. Jahrhunderts waren Weises Stück und der Masaniello-Stoff nahezu vergessen, erst 1789 erschien von Johann Friedrich Ernst AlbrechtAlbrecht, Johann Friedrich Ernst wieder ein Drama mit dem Titel Masaniello von NeapelMasaniello von Neapel. Die Bedeutung von Feinds Drama in der Rezeptionsgeschichte ist von der Forschung noch keineswegs geklärt. In Feinds Operntext den Ursprung des Bürgerlichen TrauerspielBürgerliches Trauerspiels des 18. Jahrhunderts zu sehen, ist nicht zu belegen.41 Ob LessingLessing, Gotthold Ephraim tatsächlich Feinds Masagniello gekannt hat und ob sich seine Rede vom pedantischen Frost Weises und der Verbindung von ShakespeareShakespeare, William und Genie mit der Kenntnis von FeindFeind, Bartholds Text erklären lässt, bleibt letztlich spekulativ. Wichtig ist allerdings der Hinweis, dass Feind als Erster entschieden die Zahl der Dramatis Personae reduziert, und zwar von annähernd 100 (einschließlich der stummen Personen) bei WeiseWeise, Christian auf zehn. Weises Stück hat in den vergangenen Jahrzehnten nur eine einzige Inszenierung erfahren.42 Das zeigt, dass der MasanielloMasaniellokein aktuelles Drama ist, vielmehr handelt es sich um ein geschichtliches Stück, das ebenso ein Geschichtsstück ist. Insofern muss man stets aufs Neue nach seinem Stellenwert in der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte fragen.

Ludwig Philipp Hahns Dramen (1776/1778)

Die biografischen Fakten sind spärlich. Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp wurde am 22. März 1747 im pfälzischen Trippstadt geboren und starb am 25. Februar 1814 in Zweibrücken.1 Sein Vater war der Pfarrer in Trippstadt Johann Heinrich HahnHahn, Johann Heinrich, die Mutter hieß Maria ElisabethHahn, Maria Elisabeth, geborene Rheinwald. Aus dieser Ehe gingen neun Kinder hervor, das fünfte war Ludwig Philipp. Über seine schulische Ausbildung ist wenig bekannt, es wird angenommen, dass er eine Cameralschule (der Arzt und Dichter Johann Heinrich Jung-StillingJung-Stilling, Johann Heinrich war 1778 Lehrer an der Cameralschule in Kaiserslautern und August Ludwig SchlözerSchlözer, August Ludwig nennt in seinem Briefwechsel diese Cameralschule als Vorbild2) besucht hat und Latein und Hebräisch konnte.3 Diese Schulen dienten der Ausbildung des Nachwuchses von Staatsbediensteten. An der Universität Göttingen war Hahn nachweislich nicht immatrikuliert. Der dort geführte und mit der Dichtergruppe des Göttinger HainGöttinger Hain verbundene, aber schon 1779 verstorbene Johann Friedrich HahnHahn, Johann Friedrich, der in Zweibrücken lebte, wird gelegentlich mit Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp verwechselt.4 Ob es verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Familien der beiden Hahn-Dichter gibt, ist unklar, eher unwahrscheinlich.5 1768 ist Ludwig Philipp Hahn Revisionsaccessist in Zweibrücken. Am 30. Januar 1777 heiratet er die am 12. September 1748 in Annweiler geborene Charlotta Christine WahlWahl, Charlotta Christine, Tochter des Pfarrers Friedrich Gerhard WahlWahl, Friedrich Gerhard und Susanna Margarethe WernigkWernigk, Susanna Margarethe, in Odenbach am Glan. Aus der Ehe mit Ludwig Philipp sollen sechs Kinder hervorgegangen sein. Hahn selbst berichtet von zwei Söhnen, die wegen eines Studiums zu unterhalten seien. Seine Frau stirbt am 8. Januar 1811 in Zweibrücken.6 Seit wann Hahn in Zweibrücker Diensten war, ist unklar.

1776 erscheinen seine beiden Dramen Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa und Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg, im November 1776 wehrt er sich bei seiner Dienststelle gegen zusätzliche berufliche Belastungen, 1778 erhält er die Beförderung zum Marstallamtssekretär und sein drittes Drama Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken wird veröffentlicht. 1779 folgt die in Straßburg gedruckte Operette (Singschauspiel) SiegfriedSiegfried. Die Klage über Geldmangel bleibt ein durchgehendes Motiv in Hahns Amtszeit. Seit Beginn der 1780er-Jahre wird ihm Veruntreuung von Einnahmen vorgeworfen, wogegen er sich bis an sein Lebensende zur Wehr setzen muss. 1780 wird das einaktige Singspiel Wallrad und Evchen oder die ParforsjagdWallrad und Evchen publiziert.7 1784 wird HahnHahn, Ludwig Philipp zum Kammersekretär befördert. Er gründet im selben Jahr eine eigene Druckerei und erhält am 29. Juli 1784 die Druckerlaubnis für zunächst satirische und deutsche Schriften, am 23. Juni 1785 wird diese Erlaubnis um den Druck einer Zeitung erweitert.8 Hahn ist selbst journalistisch tätig. Er druckt Umrechnungstabellen für den Zahlungsverkehr. Sein Plan einer periodischen Schrift, unter dem Titul: Westricher Ephemeriden wurde zwar im Deutschen MuseumDeutsches Museum (Bd. 2, 1785, S. 282–287) öffentlich angekündigt, an dem die „Herren Geistlichen der drei Religionen, auch die meisten Herren Gelehrte unsers Westrichs und dessen Nachbarschaft, an diesen Ephemeriden mit arbeiten werden“ (S. 285f.), wurde aber offensichtlich nicht verwirklicht. Im Bereich der Literatur sollten „kritische und antikritische Anzeigen von Westricher gelehrten Produkten“ (S. 285) erscheinen. Unterzeichnet war diese Ankündigung mit „Gebrüder Hahn“ (S. 287). In dem im September 1785 geschriebenen „Vorbericht“ zu dem Buch Hauswirtschaftliche Beobachtungen und Erfahrungen über Die [!] Schädlichkeit der so genannten Neuländer- oder Viehgrundbiern, […]Hauswirtschaftliche Beobachtungen und Erfahrungen von einem J.M.K., das „von Ludwig Philip [!] Hahn, Herzogl Kammersekret. und Rechnungsrevisor“ (Zweibrücken, in Hahns Druckerei, 1785), „herausgegeben“ wurde, schreibt er: „Gegenwärtiger Aufsaz war eigentlich für die Westricher Ephemeriden, die im Februar d.J. von hier aus angekündiget wurden, bestimmt. Da deren Herausgabe aber, besonders darum, weil ich bei den eingekommenen Beiträgen, die, zur Unterhaltung der Leser, so unentbehrliche Mannichfaltigkeit vermisse, noch zur Zeit ausgesezt bleiben muß; […]“9. 1785 veröffentlicht Hahn in seiner eigenen Druckerei Sympathien des Dreisigsten Tages des Herbstmonats, 1785. Eine OdeSympathien des Dreisigsten Tages, das ist ein Huldigungsgedicht auf den Zweibrücker Herzog. 1786 erscheint ebenfalls in der eigenen Druckerei der Band Lyrische GedichteLyrische Gedichte. Ab 1789 darf Hahn auch Kalender drucken. 1790 wird das von ihm geschriebene Buch Mühlenpraktika oder Unterricht in dem Mahlen der Brodfrüchte für Polizeibeamte, Gewerbsleute und HauswirteMühlenpraktika oder Unterricht in dem Mahlen der Brodfrüchte veröffentlicht, das sogar noch 1820 eine zweite Auflage erlebte. Ab dem 29. Oktober 1790 muss sich HahnHahn, Ludwig Philipp zusätzlich auch um das Militärrechnungswesen kümmern. Am 3. Februar 1793 flieht er im Zuge der Wirren der Französischen RevolutionFranzösische Revolution mit dem seit 1775 regierenden Pfalz-Zweibrücker Herzog Karl II. August Christian (1746–1795) über den Rhein nach Mannheim. Doch schon kurze Zeit später ist Hahn im Dienst der Franzosen als Gerichtsschreiber am Justiztribunal in Zweibrücken tätig. Zweibrücken gehörte seit 1794 zu Frankreich. Aus den Dienstakten Hahns geht hervor, dass er vom Oktober 1794 bis März 1795 und vom Mai bis Oktober 1795 in Hanau und in Mannheim dienstlich tätig war.10 1796 ist er in französischen Diensten Bürgermeister in Contwig. Hahn versucht allerdings über viele Jahre hinweg, seine Wiedereinstellung in nun bayerische Dienste zu bewirken, doch ohne Erfolg. 1797 soll Hahn unter dem Pseudonym Johann Ehrlich das Buch Ueber den Gebrauch und Nuzen Verjüngter Wagen bei dem Fruchthandel nebst einer Anweisung zu deren VerfertigungUeber den Gebrauch und Nuzen Verjüngter Wagen bei dem Fruchthandel veröffentlicht haben.11 Erst nach Hahns Tod wird im Jahr 1824 seiner über Jahrzehnte hinweg gestellten Forderung nach Gehaltsnachzahlungen Recht gegeben.

Hahns literarisches Werk umfasst Dramen, Singspiele, Balladen, Gedichte und Erzählungen, Zeitungsprojekte und Gebrauchstexte. Eine vollständige Übersicht findet sich bei Werner.12 Allerdings muss zu dieser Druckübersicht noch das Gedicht hinzugefügt werden, das im Altenburgischen IntelligenzblattAltenburgisches Intelligenzblatt vom 2. November 1819 (möglicherweise wegen einer länger dauernden Drucklegungsphase der Zeitschrift) erst fünf Jahre nach Hahns Tod erschienen ist. Es ist unterzeichnet mit „Der Westricher Bänkelsänger“, ob das eine Titulatur ist, die HahnHahn, Ludwig Philipp für sich selbst in Anspruch genommen hat, oder ihm von den Herausgebern der Zeitschrift zugewiesen wurde, ist nicht mehr zu entscheiden. Das Gedicht ist nach der Angabe in den Lyrischen GedichtenLyrische Gedichte (1786, S. 50–53), worin es aufgenommen wurde, unter dem Titel Ein Liedchen, das kein Mädchen gerne singen wirdEin Liedchen, das kein Mädchen gerne singen wird, im Jahr 1769 entstanden. Weshalb es nach Hahns Tod nochmals nachgedruckt werden sollte, ist nicht bekannt.13 Den Band der Lyrischen Gedichte ziert eine Vignette des französischen Kupferstechers Jean Baptiste PillementPillement, Jean Baptiste (1728–1808). Die neu herausgegebenen Gedichte zeigen eine repräsentative Auswahl der ‚lyrischen Handschrift‘ Hahns.14 Das reicht vom Gelegenheitsgedicht, dem Widmungsgedicht, dem volksliedhaften Ton bis hin zum poetologischen Bekenntnis (Wie ich denkeWie ich denke). Besonders bemerkenswert ist Hahns „Parodie“ – so nennt er das Gedicht in der gattungstypologischen Beschreibung im Untertitel – Bei der Gruft Herzogs Christian, des ViertenBei der Gruft Herzogs Christian, des Vierten. Hahn parodiert darin Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniels Gedicht Die FürstengruftDie Fürstengruft (1781), die selbst schon als Parodie der realpolitischen Unrechtsverhältnisse in Württemberg gedacht war. Vor dem Hintergrund, dass Schubart zu Hahns Förderern gehörte, kann dies als Ausdruck einer Eintrübung dieses Freundschaftsverhältnisses verstanden werden.

 

Vermutlich erfuhren die drei Dramen Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa (1776), Graf Karl von AdelsbergGraf Karl von Adelsberg(1776) und Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken (1778) eine geringe Auflage. Heutzutage sind nur noch wenige Exemplare in öffentlichen Bibliotheken nachweisbar. Das Urteil der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist falsch und ungerecht, doch konnten sich die Geschmacksurteile der führenden Germanisten dieser Zeit behaupten. 1838 heißt es in einem zeitgenössischen Nachschlagewerk über Hahn: „Ein keineswegs talentloser, aber doch unklarer Dichter, der, von der Sturm- und Drangperiode in der deutschen Literatur fortgerissen, auch mit dieser verschollen ist.“15 Das endgültige Urteil über HahnHahn, Ludwig Philipps literarische Qualität fällte der Germanist Erich SchmidtSchmidt, Erich 1879, als er Hahn „ein Affe GoetheGoethe, Johann Wolfgang’s und KlingerKlinger, Friedrich Maximilian’s“ nennt, „sein Dichten gehört in die Pathologie der Geniezeit“.16 Ein Vor-Urteil, das dringend revidiert gehört.

Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa (1776) ist Hahns erstes Drama und – soweit dies rekonstruierbar ist – auch sein erster literarischer Text, der zur Veröffentlichung gelangt. Das Drama erscheint in Ulm in der Druckerei von Johann Conrad WohlerWohler, Johann Conrad. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel (1739–1791), der Herausgeber der Deutschen ChronikDeutsche Chronik, den Druck vermittelt hat. Demzufolge könnte es zuvor einen mutmaßlich brieflichen Kontakt zwischen Hahn und Schubart gegeben haben. In Schubarts Korrespondenz ist allerdings kein brieflicher Beleg hierfür erhalten. Erich Schmidt behauptet einen längeren Aufenthalt Hahns in Ulm, wo er Schubart kennengelernt habe, was aber nicht belegt ist.17 Viel wahrscheinlicher ist, dass der Kontakt zwischen Hahn und Schubart über den gemeinsamen Dichterfreund Maler MüllerMaler Müller (1749–1825) in Mannheim hergestellt wurde, der schon 1765 zur Zeichenausbildung in Zweibrücken war, 1774 erstmals ein Gedicht im Göttinger MusenalmanachGöttinger Musenalmanach veröffentlicht und dadurch die Aufmerksamkeit – auch diejenige Schubarts – der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Autoren bekommen hatte, und der sich ab 1775 in Mannheim aufhielt. In einem Brief vom 27. November 1776 an Müller schreibt Schubart: „Genies sind sichtbare Gottheiten, […]. Wie viel herrliche Gedanken hat KlingerKlinger, Friedrich Maximilian ohne Würkung verspritzt; da liegen sie nun im Mist und kannst lange warten, biß Aesops Hahn kommt, und das Edelgestein aufscharrt.“18 Ist das eine Anspielung auf Ludwig Philipp Hahn? Bereits am 25. August 1775 hatte Schubart den in Mannheim lehrenden Anton von KleinKlein, Anton von darum gebeten: „Dürft’ ich Sie nicht um einige literarische Neuigkeiten aus der Pfalz bitten? Sie können nicht glauben, wie mager mir die Neuigkeiten von der Pfalz einlaufen.“19 Dass von KleinKlein, Anton von den Kontakt zu Maler MüllerMaler Müller hergestellt hat, darf angenommen werden, aber wie verhielt es sich mit HahnHahn, Ludwig Philipp? Wusste von Klein von Hahns literarischen Ambitionen? Ob sich Hahn und SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel persönlich kennengelernt und ob sie sich in Ulm getroffen haben, ist nicht klar. Bis heute wird über Hahn kolportiert: „Eine Zeit lang hat er sich vielleicht in Ulm aufgehalten, wo damals Schubart lebte, der Hahns ‚Aufruhr‘ bei Wohler daselbst herausgab“20. Aber immerhin konnte nachgewiesen werden, dass der Vorbericht des Dramas tatsächlich aus Schubarts Feder stammt. Man stützte sich dabei auf die Angabe von Albrecht WeyermannWeyermann, Albrecht in dessen Buch Neue historisch-biographisch-artistische Nachrichten von Gelehrten und Künstlern, auch alten und neuen adelichen und bürgerlichen Familien aus der vormaligen Reichsstadt UlmNeue historisch-biographisch-artistische Nachrichten (Ulm 1829). Unter dem Eintrag Schubart, Nr. 2 „Vorreden zu“, findet sich in der Tat Hahns Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa. Allerdings ist dies letztlich kein Beweis für Schubarts Autorschaft. Ich konnte einen noch älteren Beleg finden, auf den sich möglicherweise Weyermann bezog, in Meusels Lexicon der […] verstorbenen Schriftsteller (1811, Bd. 11, S. 481), wo Schubart als Herausgeber von Hahns Stück genannt wird. Woher die Zuschreibung aber ursprünglich kommt, ist unklar. Schubart schreibt also ein begleitendes Vorwort zu Hahns Drama Der Aufruhr zu Pisa, er stellt damit Hahns Erstling in den Kontext der zeitgenössischen, avantgardistischen Literatur, der Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang.

1768 erschien von Heinrich Wilhelm von GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von (1737–1823) die fünfaktige Tragödie UgolinoUgolino. LessingLessing, Gotthold Ephraim konnte zuvor das an ihn im Februar 1768 geschickte Ugolino-Manuskript lesen, Gerstenberg lag an seinem Urteil. Im Antwortbrief vom 25. Februar 1768 wies Lessing darauf hin, dass der körperliche Schmerz am schwierigsten literarisch darzustellen sei. Die Tatsache, als Zuschauer auf der Bühne Kinder hungern und sterben und alle beteiligten Personen dazu unschuldig leiden zu sehen, führt Lessing zu einer bemerkenswerten Feststellung. Noch nie habe er bei der Lektüre einer Tragödie das Gefühl gehabt, dass ihm das MitleidMitleid mit den Figuren zur Last geworden sei. Dieses Unbehagen am MitleidMitleid rühre daher, dass der Leser nichts über die Gründe für das unschuldige Leiden erfahren würde, die Figuren litten, ohne dass einsichtig geworden wäre, weshalb. Außerdem sei der Leser zu früh über den Ausgang des Stücks ins Bild gesetzt, bereits nach der Exposition wisse er, dass Ugolino und seine drei Kinder sterben müssten. LessingLessing, Gotthold Ephraim gibt GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von zu bedenken, dass das Stück, das ursprünglich mit Anselmos Tod aufhören sollte, doch in Ugolinos Selbstmord enden könne, um die Affektblockierung bei Lesern oder Zuschauern aufzulösen. Dies sei „die kürzeste die beste Art ein Ende zu machen“21. Gerstenberg nahm die Kritik an und änderte die Schlussszene, doch mit einer dramaturgisch entscheidenden Änderung: Ugolino tötet sich nicht selbst, sondern droht nur mit seinem Selbstmord. Im letzten Augenblick gelingt ihm die zivilisatorische Bändigung, er stirbt den Hungertod in christlicher Verklärung. Nicht zu Unrecht wurde darin eine neostoizistische Haltung der Hauptperson, wie sie von den christlichen MärtyrertragödieMärtyrertragödien des 17. Jahrhunderts bekannt war, gesehen. Ugolino droht von der Macht der Leidenschaft überwältigt zu werden und sich selbst zu töten, doch hält er sich im letzten Augenblick zurück, er reflektiert über seine beabsichtigte Tat als Katholik und nach bürgerlicher Denkungsart. Schließlich ergibt er sich in sein Schicksal, stirbt des Hungers und dem Zuschauer eröffnet sich eine heitere Aussicht. Gerstenberg skizziert damit sehr genau das Verlaufsschema der Erregung und der Bändigung von Leidenschaften der voraufklärungskritischen Literatur der 1760er-Jahre.

Der historische Hintergrund für Gerstenbergs Stück wie für HahnHahn, Ludwig Philipps Drama ist dieser: Graf Ugolino della Gherardesca (um 1220–1289) war um zunehmenden Machteinfluss in Pisa bemüht. Im Seekrieg zwischen Genua und Pisa im Jahr 1284 kommandierte Ugolino einen Teil der pisanischen Flotte. Ihm wurde aber Verrat vorgeworfen, da er sich in der entscheidenden Seeschlacht bei Meloria am 6. August 1284 sehr zurückgehalten hatte, was zur Niederlage Pisas entscheidend beitrug. Trotzdem wurde Ugolino im selben Jahr zum Podestà, dem Stadtoberhaupt der Stadtrepublik Pisa, gewählt. 1287 wurde er zum Herrscher über Pisa ausgerufen. 1288 kam es zu einer Verteuerung der Lebensmittelpreise, die zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Bevölkerung führte. Bei einem solchen Kampf tötete Ugolino einen Neffen des Erzbischofs Ruggieri. Am 1. Juli 1288 wurde er gefangen genommen und in einem Turm neun Monate lang festgesetzt. Der Erzbischof, der sich inzwischen selbst zum Podestà ernannt hatte, ließ die Schlüssel zum Turm im März 1289 in den Fluss Arno werfen, Ugolino, seine beiden Söhne und seine beiden Enkel verhungerten.

Der Kern der Handlung wird in DantesDante, Alighieri Göttlicher Komödie (Inferno, 32. und 33. Gesang) beschrieben. Schon im so benannten, allerdings nur aus vier Sätzen bestehenden Vorbericht zum UgolinoUgolino weist GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von auf Dante hin. Er verzichtet auf ein breit angelegtes Figurenensemble, in fast schon minimalistischer Konzeption konzentriert er sich auf die vier Hauptfiguren Ugolino, den Vater von Anselmo, Gaddo und Francesco. Ugolinos Frau erscheint nur als stumme Person auf der Bühne, wenn sie als Leiche hereingetragen wird. Die Regeln der drei klassischen Einheitendrei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung werden von Gerstenberg streng befolgt. Auch der strukturelle Aufbau des Stücks entspricht den zeitgenössischen Erwartungen, die fünf Akte sind streng durchkomponiert. Hunger, Wahn und Todesbedrohung sind jene Themen, auf die Gerstenberg die Darstellung der Affekte gründet. Es kommt zu delirierenden Monologen und kannibalistischen Handlungen, wenn der dreizehnjährige Anselmo etwa im fünften Akt aus der Brust seiner toten Mutter ein Stück Fleisch herauszureißen versucht, sie regelrecht „annagen“ will, wie HerderHerder, Johann Gottfried in seiner Rezension schreiben wird. Hunger beseitigt augenblicklich jegliche zivilisatorische Schranke. Indem der Vater dazwischen tritt, kann gerade noch verhindert werden, dass Anselmo seine Absicht ausführt. Dem Vater gelingt es kaum, unter dem Druck von Hunger und Wahn die patriarchale Ordnung aufrechtzuerhalten. Die gefangenen und auf sich selbst zurückgeworfenen Individuen kreisen in selbstbezüglicher Kommunikation, sie bilden eine Gruppenvereinzelung, die nur im Tod durchbrochen werden kann. Die Vereinzelung des Vaters wird am deutlichsten zu Beginn des vierten Akts. Beim Anblick des Leichnams seiner Frau und im Angesicht des eigenen Todes durchbricht er seinen Monolog dreifach mit der hyperbolisch gesteigerten Klage „einsam! […] ganz einsam! […] fürchterlicher als einsam!“22 Erst am Ende wird die irdisch-familiale Ordnung, die zu zerspringen drohte, in die höhere göttliche Ordnung eingeschrieben. Ugolino teilt dem Publikum mit: „Meine zerrissene Seele ist geheilt“23. Diese Schlusspassage mutet fast schon biblisch an, denn Ugolino findet in der Verklärung einen gnädigen Tod. Von empfindsamem Selbstmitleid überwältigt, richtet er an sich selbst den Appell zu männlicher Zucht: „Ich will meine Lenden gürten, wie ein Mann“24. Darin spiegelt sich die biblische Bescheidung, die Gott in seiner ersten Rede an Hiob diesem befohlen hatte: „Gürte deine Lenden wie ein Mann!“ (Hiob 38, 3) Ugolino hat die Selbstmäßigung verinnerlicht, er ist nun am Ende des Stücks nicht der kleingläubige Hiob, sondern ein tugendhafter Mann und Bürger. Die Freiheit in der äußerlichen Unfreiheit besteht für Ugolino und die Söhne nicht in der Tat und im Handeln, sondern in der emotionalen Versicherung der gegenseitigen Solidarität und in der GedankenfreiheitGedankenfreiheit. Damit lenkt dieses Stück auf drastische Weise den Blick nach innen auf das psychische Substrat der patriarchalen, kleinfamilialen, bürgerlichen Ordnung. Ob GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm vons UgolinoUgolino ein Vorläuferdrama des Sturm und DrangSturm und Drang darstellt, ist umstritten. Dem inneren Affektrausch der Figuren entspricht deren veräußerlichte pathetische Sprache, die zudem im Falle Gaddos, der kaum sechs Jahre jung ist, und Anselmos auch keineswegs altersadäquat ist. In dieser pathetischen, deklamatorischen Sprache und in der strengen formalen Geschlossenheit des Dramas gleicht der Ugolino am wenigsten dem elliptischen Sprechen der Sturm-und-Drang-Dramen. Doch geht es Gerstenberg nicht um die Darstellung eines historischen Geschehens, also um die politischen Machenschaften und stadtstaatlichen Herrschaftskämpfe. Gerstenberg möchte ein psychisches Detail geben und nicht die gesamte tragische Vor- und Hauptgeschichte aufrollen, ihn interessiert die psychische Binnenperspektive seiner Figuren. An den hochgestellten Persönlichkeiten werden bürgerliche VerhaltensstandardVerhaltensstandards der Affektbändigung vor Augen geführt. Insofern Dramen des Sturm und Drang Leiden bürgerlicher Individuen auf die Bühne bringen, mag Gerstenbergs Ugolino weiterhin als Vorläuferdrama des Sturm und Drang gelten. HerderHerder, Johann Gottfried hat Gerstenbergs Ugolino ausführlich in der Allgemeinen deutschen BibliothekAllgemeine deutsche Bibliothek von 1770 besprochen. Er bewundert die „tiefe innere Känntniß der Menschlichen Seele“25, die den Verfasser auszeichne und hebt besonders dessen Stärke bei der Charakterzeichnung der Figuren hervor. Er rückt den Autor in die Nähe ShakespeareShakespeare, Williams, er sei gar ein Genie. Doch auch kritische Töne unterbleiben nicht. So wird die zu blumenreiche Sprache ebenso gerügt wie der Hang des Stücks zum Deklamatorischen. HerderHerder, Johann Gottfried verbindet diese Kritik mit der Hoffnung, dass GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von eines Tages als der deutsche ShakespeareShakespeare, William Erfolg haben werde.

 

Mit seinem Drama Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa knüpft Ludwig Philipp Hahn 1776 an Gerstenberg an und bietet die dramatisierte Vorgeschichte zu dessen Ugolino. Ob Hahn die Kritik Herders an Gerstenbergs Stück gelesen hatte, ist nicht bekannt und eher unwahrscheinlich. Im Vorbericht des Herausgebers, der auf den 1. Dezember 1775 datiert ist, erklärt dieser, in Gerstenbergs Ugolino wehe der „Odem des Originalgeists“ (S. 10)26. Nur wenige edle und empfindungsvolle Seelen „fühlten, bebten, schauderten“ (S. 10) mit ihm. Der Verfasser des Aufruhrs zu Pisa wolle die bis dahin fehlende Vorgeschichte zu Ugolinos Verurteilung und Schicksal liefern. Als Leser werde man „nicht selten den jungen rüstigen Mann bewundern, der mit diesem Produkt das erstemal vor der Welt erscheint“ (S. 10). Es ist Hahns Debüt, mit dem er sich gleich in den Kontext des Sturm und DrangSturm und Drang stellt. Der Herausgeber (SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel) zitiert aus einem Brief Hahns – ob dies eine Fiktion ist oder Hahn tatsächlich einen Begleitbrief an Schubart verfasst hat und er ihm demnach das Manuskript des Aufruhrs zu Pisa geschickt haben muss, ist nicht bekannt. Darin räumt er ein, dass der Charakter der Figur Ugolino seines Dramas sehr rauh sei, woran man sich stören könne. Doch „Männerherzen“ werde er „erschüttern, daß sie schwanken, beben werden“ (S. 10). Hahn appelliert an die Leser oder Zuschauer, Ugolino nicht ihr MitleidMitleid zu verweigern. Er verlangt die vollkommene Identifikation mit seinem Protagonisten, obwohl er „das Uebertriebene in einigen Monologen“ (S. 11), was dem Deklamatorischen bei Gerstenberg entspricht, zugibt. Letztlich dient aber auch dies dem Ziel der absoluten Parteinahme für die Figur. Bemerkenswert ist Hahns Schlusssatz: „Sinds doch immer Menschen und Brüder, deren Handlungen wir darstellen!“ (S. 11) Das kann durchaus als sein poetologisches Programm verstanden werden. Der Herausgeber fährt in seinem Text fort und hebt „Männlichkeit, Großheit in den Gesinnungen, fassender Dialog und Sprachstärke“ (S. 11) als Qualitätsmerkmale des Dramas und seines Autors hervor. Die deutschtümelnde Schlusspassage des Herausgebertextes muss man als Zugeständnis an den Sprachduktus der Zeit verstehen, damit soll lediglich der Hinweis auf die Befreiung von Theater- und Schreibkonventionen der AufklärungAufklärung durch den Sturm und DrangSturm und Drang gegeben und weniger ein nationalstaatliches Konzept beschworen werden.

Das Stück spielt im 13. Jahrhundert in Pisa. In der Expositionsszene wird die Ständekritik schon vorgetragen, wenn sich die Wache, die Ugolino beschützen soll, gegen Herrschaftsprivilegien zur Wehr setzt. Der Senator Sismondi wird von ihr angehalten und verwahrt sich dagegen, er kommt vom Erzbischof, dem Gegenspieler Ugolinos. Für die Wache ist der Senat insgesamt „ein hölzerner Hanswurst“ (S. 14). Am Ende dieser ersten Szene wird von der Wache auf ein Vorkommnis hingewiesen, das mit Ugolinos weiterem Schicksal in direktem Zusammenhang steht, das er selbst aber noch nicht kennt – wie auch die Leser oder Zuschauer nicht. Die beiden Bürger Balthasar und Pietro, die übrigens im Verzeichnis der Dramatis Personae nicht namentlich aufgeführt sind, diskutieren über Graf Ugolino, dessen Gefangennahme und Absetzung als Feldherr gerüchteweise unmittelbar bevorstünde. Wenn Ugolino tatsächlich einen Staatsstreich plane, den Senat absetze und die Macht für sich allein beanspruche, so könnte man das sogar verstehen, führt Balthasar aus. Doch die „Freyheit“ (S. 16), womit das Leitwort des Stücks genannt ist, wäre verloren. Die beiden Bürger exponieren Ugolino und Erzbischof Ruggieri Ubaldini als handlungstragende Antipoden des Stücks. Ein Machtkampf zwischen ihnen scheint unausweichlich. Ugolinos Vetter Ruzzellai, der zu seinen Freunden zählt, will von ihm erfahren, welche „wichtige Sache“ (S. 17) Ugolino plane. Zugleich macht dieser Dialog deutlich, dass Ugolino durchaus machtbewusst und selbstsüchtig ist und auch intrigiert. Er will Ruzzellai nicht zum Mitwisser haben und fragt in einem Bild, „was den Tieger so wild mache? – Nicht wahr, die Freyheit? Denn siehst du nicht, wie er so zahm ist, wenn er im eisernen Kefig sitzt?“ (S. 17) Wen meine Ugolino, fragt Ruzzellai, der erklärt und damit den politischen Ausgangspunkt des Stücks ausspricht: „Unser Staat ist ein gefesseltes Thier, ohne Freyheit, in seine Sclaverey so verliebt, daß es beständig an der Kette leckt, als wenn sie in Honig getaucht wäre“ (S. 17).

In der vierten Szene liest man Ugolinos ersten Monolog. Er lässt die Zuschauer und Leser wissen, was er vorhat und spricht sich selbst Mut zu. Die Worte, die er dabei wählt, zeigen, dass er nicht als Ehrenmann und nur aus lauteren politischen Absichten handeln will. In seiner Selbstwahrnehmung ist ihm seine Heimatstadt Pisa Dank schuldig, denn nur er allein habe sie „vom Joch des Tyrannen losgekauft, mit meinem Blut losgekauft“ (S. 19). Daraus leitet er seinen Führungsanspruch ab, er will das neue Stadt- und Staatsoberhaupt werden. HahnHahn, Ludwig Philipp hält sich bei der Charakterisierung von Ugolinos politischen Ambitionen durchaus an die historischen Fakten. Die innerfamiliäre Gegenspielerin zu Ugolino ist seine Frau Gianetta. Sie erkennt ihre zunehmende Veränderung und reflektiert diese kritisch und sie beklagt sich darüber, dass sie Ugolino nicht an seinen geheimen Plänen teilhaben lässt. Sie bezeichnet sich selbst als „ein gottloses, ehrsüchtiges“ (S. 22) Weib, womit sie aber vor allem das entscheidende Handlungsmotiv Ugolinos unterstreicht. Sie ahnt die nun einsetzende katastrophale, tragische Entwicklung für ihre Familie und für die Stadt.

Der zweite Akt beginnt wieder mit einem Monolog Ugolinos, der den Standesunterschied zwischen sich als einem Vertreter des Stadtadels und den Senatoren, die handwerklichen Berufen nachgehen, betont. Seiner Frau eröffnet er, dass er den Erzbischof „durch Gewalt“ zu einem „Huldigungseyd“ (S. 25) zwingen wolle. Er befürchtet, dass Ruggieri seinen Sturz vorbereite. Selbst seinen engsten Freunden stößt Ugolino durch sein sprunghaftes, beleidigendes und aggressives Gebaren vor den Kopf. Der Vertraute Ruzzellai verrät ihm, dass der Senat über Ugolinos Pläne im Bilde sei, doch Ugolino lässt Ruzzellai festnehmen. Immer mehr entwickelt sich Ugolino zur Karikatur eines Selbsthelfers, wie ihn GoetheGoethe, Johann Wolfgang im zehnten Buch von Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit als Handlungstypus einer Sturm-und-DrangSturm und Drang-Figur bezeichnet hat.27 Die Figur des Götz von Berlichingen dient als Beispiel dafür. Ugolino tritt zwar – durchaus auch sprachlich durch die häufigen Interjektionen Ha! – als Kraftkerl auf, doch im Grunde ist er der Anti-Held des Sturm und Drang. Ugolino nennt sein Gewissen und damit die Instanz, die sein eigenes Handeln kritisch hinterfragen könnte, den „Argwohnsteufel“ (S. 32), er dämonisiert damit die Gewissensfreiheit und lehnt jegliche Kontrolle politischen Handelns durch ein individuelles, religiös und ethisch fundiertes Gewissen ab. Die Spiegelgeschichte, die Hahn wie in einer Erzählung einfügt, nimmt den weiteren tragischen Verlauf vorweg: Der Sohn Gaddo hat einen kleinen Vogel gefunden, und sein älterer Bruder Anselmo will diesen fliegen sehen. Im freien Herumfliegen in einem geschlossenen Zimmer, von dem Anselmo und Gaddo sprechen, liegt die Analogie: Ugolino meint frei zu sein, in Wirklichkeit aber ist er Gefangener seiner politischen Machtgier und wird bald zum realen Gefangenen des Erzbischofs. In der zweiten Szene des zweiten Akts bringt der Sohn Francesco die Nachricht von der Gefangennahme des Vaters. Nun lässt Anselmo den Vogel fliegen und spricht ihm seine „Freyheit“ (S. 35) zu – aus dem Textverlauf geht aber nicht eindeutig hervor, ob sich dies schon im Freien oder noch im Zimmer abspielt. Kurz darauf werden auch die drei Söhne Ugolinos gefangen genommen.