Das Leben des Klim Samgin

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»Mama!«

Sie blieb stehen, wandte den Kopf und ging, dem Lehrer ausweichend wie einem Laternenpfahl, ins Haus. An Klims Bett erschien sie mit einem ungewöhnlich strengen, beinahe fremden Gesicht und tadelte ihn unwillig:

»Du schläfst noch nicht, obwohl es bald zwölf ist, und morgens bist du nicht wachzukriegen. Jetzt wirst du früher aufstehen müssen, Stepan Andrejewitsch wird nicht mehr bei uns wohnen.«

»Weil er deine Beine umarmt hat?« fragte Klim.

Während sie sich mit dem Schal das Gesicht wischte, sprach sie nicht mehr ungehalten, sondern in dem eindringlichen Ton, womit sie ihm während der Musikstunde eine unbegreifliche Konfusion in den Noten erklärte. Sie sagte, der Lehrer habe ihr eine Raupe vom Rock genommen, weiter nichts, Ihre Beine habe er nicht umarmt, denn das wäre unanständig gewesen.

»Ach, mein Junge, mein Junge! Du denkst dir ja immer etwas aus«, seufzte sie. Klim, der nicht wünschte, daß sie ihm an den Augen ablese, daß er ihr nicht glaubte, senkte den Blick. Aus Büchern und aus den Gesprächen der Erwachsenen wußte er schon, daß ein Mann nur dann vor einer Frau niederkniet, wenn er in sie verliebt ist. Es war keineswegs nötig, auf die Knie zu fallen, um eine Raupe vom Rock zu nehmen.

Die Mutter streichelte zärtlich sein Gesicht mit ihrer heißen Hand. Er erwähnte den Lehrer nicht weiter, bemerkte nur noch, Warawka liebe den Lehrer auch nicht. Und fühlte, wie die Hand der Mutter zusammenzuckte und seinen Kopf heftig in das Kissen stieß. Als sie fort war, dachte er im Einschlafen: Wie seltsam! Die Erwachsenen fanden immer dann, wenn er die Wahrheit sprach, daß er sich etwas ausdachte!

Tomilin war in eine kleine, schmale Sackgasse gezogen, die von einem blauen Häuschen abgeriegelt wurde. Über der Vortreppe des Hauses hing ein Schild:

Koch und Konditor.

Nehme Bestellungen für Hochzeiten, Bälle

und Leichenfeiern entgegen.

Das Zimmer, das Tomilin beim Koch gemietet hatte, lag ebenfalls im Zwischengeschoß, war aber heller und sauberer. Doch er verschandelte es in wenigen Tagen mit Bergen von Büchern. Es schien, als sei mit ihm seine ganze frühere Behausung samt ihrem Staub, ihrer schwülen Luft und dem leisen Knarren ihrer von der Sommerglut ausgetrockneten Dielenbretter übergesiedelt. Unter den Augen des Lehrers hatten sich bläuliche Säckchen gebildet, die goldenen Funken in den Pupillen waren erloschen, der ganze Mensch irgendwie kläglich verwahrlost. Jetzt erhob er sich in den Stunden überhaupt nicht mehr von seinem liederlichen Bett.

»Die Beine schmerzen mir«, sagte er.

»Weil er sich damals im Garten die Knie verletzt hat«, mutmaßte Klim.

Seine Stunden erteilte Tomilin jetzt ungeduldig, in seiner leisen Stimme klang Gereiztheit. Zuweilen schloß er die schwermütigen Augen, schwieg lange und fragte plötzlich wie aus weiter Ferne:

»Nun, verstanden?«

»Nein.«

»Denk nach!«

Klim dachte jedoch nicht darüber nach, was es mit dem Gerundium für eine Bewandtnis hatte und wohin der Fluß Amu-Darja floß, sondern darüber, warum und weshalb niemand diesen Menschen liebte. Weshalb sprach der kluge Warawka stets in einer so spöttischen und verletzenden Weise von ihm? Der Vater, Großvater Akim, alle Bekannten übersahen Tomilin wie einen Schneider. Einzig Tanja Kulikow fragte von Zeit zu Zeit: »Was meinen Sie dazu, Tomilin?«

Er antwortete ihr barsch und achtlos. Er hatte über alles eine andere Meinung als die anderen, und eigensinnig klang seine blecherne Stimme, wenn er mit Warawka stritt.

»Im Grunde genommen . . .« war seine beständige Redewendung.

»Im Grunde genommen!« äffte Warawka nach. »Hol der Teufel Ihren Grund! Hundertmal wichtiger ist die Tatsache, daß Karl der Große Gesetze über Hühnerzucht und den Handel mit Eiern erlassen hat.«

Der Lehrer widersprach salbungsvoll:

»Der Sache der Freiheit sind die Laster eines Despoten viel weniger gefährlich als seine Tugenden.«

»Fanatismus!« rief Warawka, Tanja aber sagte erfreut:

»Ach nein, das ist unglaublich wahr! Ich will es mir notieren!«

Sie kritzelte die Worte auf den Umschlag von Klims Heft, vergaß aber, sie abzuschreiben, und so verbrannten sie, ohne in die Grube ihres Gedächtnisses gelangt zu sein, im Ofen. Das war nämlich Warawkas Ausdruck:

»Nun, Tanja, wühlen Sie rasch mal in der Müllgrube Ihres Gedächtnisses!«

An vieles hatte Klim zu denken. Alles rings um ihn wuchs ins Weite und drängte ebenso brutal und beharrlich in seine Seele wie die Wallfahrer in die Himmelfahrtskirche mit dem wundertätigen Bild der Mutter Gottes. Noch vor gar nicht langer Zeit standen die vertrauten Dinge an ihrem Platz, ohne Interesse zu wecken. Nun lockten sie ihn an, während andere, liebe Dinge ihren Zauber verloren. Selbst das Haus dehnte sich aus. Klim, der überzeugt war, daß es darin nichts Unbekanntes gäbe, sah plötzlich Neues auftauchen, das er früher nicht bemerkt hatte. Im halbdunklen Korridor über dem Kleiderschrank blickten ihn von einem Bild, das früher nur ein dunkles Viereck gewesen war, die sinnenden Augen einer grauhaarigen, in Nacht begrabenen alten Frau an. Auf dem Dachboden, in einem altertümlichen, eisenbeschlagenen Koffer entdeckte er eine Menge reizvoller, wenn auch zerbrochener Gegenstände: Bilderrahmen, Porzellanfiguren, eine Flöte, ein mächtiges Buch in französischer Sprache mit Bildern, die Chinesen darstellten, ein dickes Album mit den Porträts lächerlicher, schlecht frisierter Menschen. Das Gesicht eines von ihnen war mit Blaustift übermalt.

»Das sind die Helden der Großen Französischen Revolution, und dieser Herr dort ist Graf Mirabeau«, erklärte der Lehrer, er erkundigte sich mit spöttischem Lächeln: »Unter dem Gerümpel hast du es gefunden, sagst du?« und im Album blätternd, wiederholte er nachdenklich:

»Ja, ja, die Vergangenheit . . . Gerümpel . . .«

Klim entdeckte im Hause sogar ein ganzes Zimmer, bis zur Decke vollgestopft mit zerbrochenen Möbeln und einem Haufen von Gegenständen, deren einstige Bestimmung schon dunkel, ja geheimnisvoll geworden war. Es sah aus, als seien alle diese verstaubten Dinge plötzlich ins Zimmer gestürmt wie ein Menschenhaufen, den eine Feuersbrunst erschreckt. In der Panik hatten sie sich übereinander gewälzt, sich zermalmend und verstümmelnd, bis sie einander zertrümmert hatten und gestorben waren. Traurig war der Anblick dieser Verwüstung, die zerbrochenen Dinge erfüllten mit Mitleid.

Ende August, eines Morgens früh, erschien ungewaschen und struppig Ljuba-Clown. Mit den Füßen trampelnd und vor Schluchzen erstickend, keuchte sie:

»Kommt rasch, – Mama ist verrückt geworden!« Sie fiel vor dem Sofa nieder und versteckte ihren Kopf unter dem Kissen.

Klims Mutter machte sich sogleich auf den Weg. Das Mädchen befreite ihren Kopf aus dem Kissen, kauerte sich auf dem Boden nieder, sah Klim kläglich mit nassen Augen an und berichtete:

»Ich habe schon gestern, als sie mit einander schimpften, gesehen, daß sie verrückt geworden ist. Warum nicht der Papa? Er ist immer betrunken.«

Auf die Füße springend, ergriff sie Klims Ärmel.

»Wir gehen hin!«

Ohne zu wissen wie, von Ljuba mitgezogen, stand Klim auf einmal in der Wohnung der Somows. Im halbdunklen Schlafzimmer, dessen Fensterläden geschlossen waren, auf einem verwühlten, zerfetzten Bett wand sich Sofia Nikolajewna in Zuckungen. Ihre Hände und Füße waren mit Handtüchern zusammengebunden. Sie lag mit dem Gesicht nach oben, zuckte wild mit den Schultern, krümmte die Knie, schlug mit dem Kopf gegen die Kissen und brüllte:

»Nein, nein!«

Ihre Augen, schrecklich aus den Höhlen getreten, hatten sich bis zum Umfang von Fünfkopekenstücken geweitet. Sie stierten in den Lampenschein und waren rot wie glühende Kohlen. Unterhalb des einen Auges brannte eine Schramme, aus der Blut sickerte.

»Nein!« schrie die Doktorsfrau mit hohler Stimme und, noch lauter:

»Nein, nein!«

Ihre Zuckungen wurden heftiger, ihre Stimme klang böser und schriller. Der Doktor lehnte zu Häupten des Bettes an der Wand und nagte und kaute an seinem schwarzen, borstigen Bart. Er war unanständig aufgeknöpft, struppig, seine Hosen wurden von einem Hosenriemen gehalten, den anderen hatte er sich um den Handrücken gewickelt und zerrte ihn hoch. Die Hosen rutschten hinauf und hinunter, die Beine des Doktors zitterten wie die eines Betrunkenen, und seine trüben Augen zwinkerten so heftig, daß es schien, als klapperten die Lider wie die Zähne seiner Frau. Er schwieg, wie wenn sein Mund für immer unter dem Bart zugewachsen wäre.

Ein zweiter Arzt, der alte Williamson, saß am Tisch, blinzelte ins Kerzenlicht und schrieb vorsichtig etwas auf. Wera Petrowna schüttelte ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit. Mit einem Teller mit Eis und einem Hammer lief das Dienstmädchen durch das Zimmer.

Plötzlich krümmte die Kranke sich wie ein Bogen, fiel auf den Fußboden, schlug mit dem Kopf auf und kroch weiter, wobei sie wie eine Eidechse den Körper wand und triumphierend kreischte:

»Aha? Nein!«

»Haltet sie!« rief Klims Mutter. Der Doktor löste sich schwerfällig von der Wand, hob seine Frau auf, legte sie auf das Bett, befahl irgend jemandem: »Geben Sie noch Handtücher!« und setzte sich dann zu ihren Füßen.

Die Frau fuhr in die Höhe und stieß ihren Kopf gegen seine Backe. Er erhob sich mit einer heftigen Bewegung, und sie schlug von neuem dumpf auf den Fußboden. »Aha, aha!« röchelnd, machte sie sich daran, ihre Füße loszubinden.

Klim versteckte sich im Winkel zwischen der Tür und dem Schrank. Wera Somow kauerte hinter ihm, legte ihr Kinn auf seine Schulter und flüsterte:

»Das geht doch vorüber, nicht wahr, das geht vorüber?«

 

Ljuba rannte mit Handtüchern an ihnen vorbei und wimmerte:

»O Gott, o Gott!«

Plötzlich fragte sie, mit dem Fuß aufstampfend, die Schwester:

»Werka, bekommen wir keinen Tee?«

Klims Mutter wurde auf den Lärm aufmerksam und rief streng:

»Kinder, hinaus!«

Sie befahl ihnen, Tanja Kulikow zu holen. Alle Bekannten dieses jungen Mädchens bürdeten ihr die Pflicht einer aktiven Teilnahme an ihren Trauerspielen auf.

Die Kinder begaben sich in raschem Schritt nach dem Vorort. Klim schwieg bedrückt. Er ging hinter den Schwestern und hörte durch sein tiefes Entsetzen hindurch, wie die ältere Somow ihrer Schwester Vorhaltungen machte:

»Mama ist verrückt geworden, und du schreist, ich will Tee haben!«

»Halts Maul, du Drachen!«

»Du bist gierig und schamlos.«

»Und du willst vielleicht die Tugendhafte spielen?«

Sie blieb stehen und schloß sich Klim an:

»Ich gehe nicht mehr mit ihr, komm, laß uns spazierengehen.«

Klim ging willenlos an ihrer Seite. Nach einigen Schritten sagte er:

»Liebst du deine Mama?«

Ljuba bückte sich, um das gelbe Blatt einer Pappel aufzuheben, seufzte und sprach:

»Ich . . . ich weiß nicht. Vielleicht liebe ich überhaupt noch niemand.«

Während sie mit dem staubigen Blatt ihre geschwollenen Augenlider rieb und ungeschickt stolperte, fuhr sie fort:

»Vater klagt, es sei schwer, zu lieben. Einmal hat er sogar Mama angeschrien; versteh doch, Närrin, ich liebe dich ja! Siehst du?«

»Was?« fragte Klim, aber Ljuba hörte seine Frage wohl nicht.

»Und sie sind vierzehn Jahre verheiratet . . .«

Klim fand, Ljuba redete dummes Zeug, und achtete nicht mehr auf ihre Worte, sie aber redete unaufhörlich fort, langweilig wie eine Erwachsene, und schwenkte dabei einen Birkenzweig, den sie vom Trottoir aufgenommen hatte, in der Luft herum. Ihnen selbst unerwartet, waren sie an das Ufer des Flusses getreten und ließen sich auf einem Stapel Balken nieder. Aber die Balken waren feucht, Ljuba beschmutzte sich ihren Rock, wurde unwillig und lief über die Balken zu einem Boot, das an ihnen festgemacht war. Sie setzte sich ans Steuer, Klim folgte ihr. Lange saßen sie schweigend. Ljuba betrachtete das verzerrte Bild ihres Gesichts im Wasser, schlug mit dem Zweig hinein, wartete, bis es im grünlichen Spiegel von neuem auftauchte, schlug wieder hinein und wandte sich ab:

»Wie häßlich ich bin! Nicht wahr, ich bin häßlich?«

Da sie keine Antwort erhielt, fragte sie:

»Warum schweigst du?«

»Weil ich keine Lust habe, etwas zu sagen.«

»Daß ich häßlich bin?«

»Nein, ich mag überhaupt nichts sagen.«

»Du schämst dich einfach, die Wahrheit zu sagen«, beharrte Ljuba. »Aber ich weiß, daß ich garstig bin und einen schlechten Charakter habe. Das sagen Papa und Mama, beide. Ich muß ins Kloster gehen . . . Ich will nicht mehr hier sitzen!«

Sie sprang auf, lief rasch über die Balken und verschwand. Klim saß noch lange am Steuer des Bootes und blickte ins trägfließende Wasser, niedergedrückt von einer öden Trauer wie er sie noch niemals empfunden hatte, wunschlos, durch seine Trauer hindurch ahnend, daß es nicht gut war, den Menschen zu gleichen, die er kannte.

Die Mutter empfing ihn mit dem erschreckten Ausruf:

»Herrgott, wie du mich ängstigst!«

Klim schien, diese Worte galten nicht ihm, sondern dem Herrgott.

»Hast du dich sehr erschrocken?« verhörte ihn die Mutter. »Es war überflüssig, daß du hingingst. Wozu?«

»Was hat man mit ihr gemacht?« fragte Klim.

Die Mutter sagte, die Somows hätten sich gezankt, und die Frau des Doktors habe einen heftigen nervösen Anfall bekommen. Man habe sie ins Krankenhaus bringen müssen.

»Es ist keine Gefahr. Sie sind beide nicht recht gesund. Sie haben viel Schweres erlebt und sind vor der Zeit alt geworden.«

Nach ihrer Erzählung waren der Doktor und seine Frau zerbrochene Menschen, und Klim erinnerte sich an das Zimmer, das mit Gerümpel vollgestopft war.

»Es ist keine Gefahr«, wiederholte die Mutter.

Aber Klim konnte ihr aus irgendeinem Grund nicht glauben, und es zeigte sich, daß sein Gefühl ihn nicht trog: zwölf Tage später starb des Doktors Frau. Dronow vertraute ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, sie sei aus dem Fenster gesprungen und habe dabei den Tod gefunden.

Am Tage ihrer Beerdigung, morgens früh, kam der Vater von einer Reise zurück. Er hielt am Grabe der Doktorsfrau eine Rede und weinte. Alle Bekannten weinten, nur Warawka hielt sich abseits, rauchte eine Zigarre und schimpfte mit den Bettlern.

Doktor Somow ging vom Friedhof aus zu Samgins, betrank sich rasch und krakeelte in seinem Rausch:

»Ich habe sie geliebt, sie aber haßte mich und lebte nur, um mir das Dasein zu verleiden.«

Klims Vater tröstete den Doktor wortreich, der aber reckte seine schwarze behaarte Faust bis zur Höhe des Ohrs, schüttelte sie und krächzte, während Tränen der Betrunkenheit sein Gesicht überströmten:

»Fünfzehn Jahre habe ich mit einem Menschen gelebt, mit dem mich nicht ein gemeinsamer Gedanke verband, und ich liebte ihn, liebte ihn und liebe ihn noch. Sie aber hat alles gehaßt, was ich las, dachte und sprach . . .«

Klim hörte, wie Warawka halblaut zur Mutter sagte:

»Sehen Sie mal, was der sich alles ausgedacht hat.«

»Es ist ein Körnchen Wahrheit darin«, verwies ihn ebenso leise die Mutter.

Man schaffte den Doktor ins Bett, in das Zwischengeschoß, wo Tomilin gewohnt hatte. Warawka hielt ihn unter den Achseln fest und stemmte seinen Kopf gegen seinen Rücken, während der Vater mit einer brennenden Kerze voranging. Doch eine Minute später stürzte er, mit dem Leuchter, dem die Kerze entfallen war, fuchtelnd, ins Eßzimmer und rief mit gedämpfter Stimme:

»Wera, komm rasch, Großmutter ist es schlecht geworden.«

Die Großmutter war gestorben.

Sie hatte auf der Küchentreppe gesessen und die Küken gefüttert und war plötzlich ohne einen Laut umgesunken. Es war seltsam, aber nicht schrecklich, ihren großen breithüftigen Körper zu sehen, der vornüberhing. Der Kopf lag auf der Seite, und das Ohr war wie lauschend an die Erde gepreßt, Klim blickte auf ihre blaue Wange, auf ihr offengebliebenes ernstes Auge, fühlte keine Angst, sondern staunte nur. Er hatte gedacht, die Großmutter habe sich so sehr daran gewöhnt, mit dem Buch in der Hand, einem geringschätzigen Lächeln im dicken, würdevollen Gesicht und der stets gleichen Vorliebe für Hühnerbouillon fortzuleben, daß diese ihre Lebensweise unendlich lange währen konnte, ohne daß sie jemand störte.

Als man den unförmigen Körper, der wie ein riesiges Bündel alter Kleider aussah, ins Haus getragen hatte, sagte Dronow:

»Die ist mal schön gestorben.« Und fügte sogleich, zu seiner Großmutter gewandt, hinzu:

»Da, nimm dir ein Beispiel, Amme!«

Die Amme war der einzige Mensch, der stille Tränen über dem Sarg der Entschlafenen vergoß. Bei Tisch, nach der Beerdigung, hielt Iwan Akimowitsch eine kurze und dankerfüllte Rede über Menschen, die zu leben verstanden, ohne ihre Angehörigen zu stören. Akim Wassiljewitsch Samgin dachte nach und sagte:

»Auch für mich ist es wohl Zeit, mich zu den Vätern zu versammeln.«

»Er ist nicht sehr überzeugt davon«, flüsterte Warawka an Wera Petrownas rosigem Ohr. Das Gesicht der Mutter war nicht traurig, nur ungewöhnlich milde. Ihre strengen Augen leuchteten sanft. Klim saß an ihrer anderen Seite, vernahm das Flüstern und merkte, daß der Tod der Großmutter niemand schmerzte. Bald erkannte er, daß er für ihn sogar einen Gewinn bedeutete: die Mutter gab ihm das freundliche Zimmer der Großmutter mit dem Fenster auf den Garten und dem milchweißen Kachelofen in der Ecke. Das war schön, denn es wurde beunruhigend und unangenehm, mit dem Bruder in einem Zimmer zu wohnen. Dmitri arbeitete lange und störte ihn beim Schlafen. Seit einiger Zeit besuchte ihn auch der ungenierte Dronow, und häufig murmelten und wisperten sie bis spät in die Nacht.

Dronow trug jetzt einen engzugeknöpften langen, ihm über die Knie reichenden Gymnasiastenrock, war abgemagert, hatte den Bauch eingezogen und sah mit seinem kahlgeschorenen Kopf wie ein Liliputsoldat aus. Wenn er mit Klim sprach, schlug er die Schöße seines Rocks zurück, vergrub die Hände in den Taschen, spreizte gewichtig die Beine, rümpfte seinen rosa Nasenknopf und fragte:

»Und du, Samgin, lernst schlecht, höre ich? Ich dagegen bin schon der Dritte in der Klasse.«

Er straffte die Schultern, bewegte die Arme und sagte selbstgewiß:

»Sollst sehen, ich werde besser als Lomonossow.«

Großvater Akim hatte durchgesetzt, daß Klim doch ins Gymnasium aufgenommen wurde. Aber der Knabe glaubte sich beim ersten Examen von den Lehrern ungerecht behandelt und hatte bei der zweiten Prüfung bereits eine vorgefaßte Meinung gegen die Schule. Gleich nachdem Klim die Gymnasiastenuniform angezogen hatte, blätterte Warawka in den Schulbüchern und schleuderte sie verächtlich beiseite:

»Sie sind ebenso blöde, wie die Bücher, aus denen wir lernen mußten.«

Hierauf erzählte er lange und witzig von der Dummheit und der Bosheit der Lehrer, und Klim behielt besonders gut im Gedächtnis, was er von der Ähnlichkeit des Gymnasiums mit einer Zündholzfabrik sagte:

»Die Kinder werden wie die Hölzchen mit einem Stoff bestrichen, der sich leicht entzündet und schnell verbrennt. So erhält man miserable Zündhölzer, bei weitem nicht alle zünden, und lange nicht mit jedem kann man Feuer machen.«

Klim ging der Ruf eines Jungen von außergewöhnlichen Fähigkeiten vorauf, er machte die Lehrer doppelt aufmerksam und mißtrauisch und erregte die Neugier der Schüler, die in dem neuen Kameraden so etwas wie einen Zauberkünstler vermuteten. Sofort fühlte Klim sich wieder in der vertrauten, aber nur noch qualvolleren Lage eines Menschen, der die Pflicht hat, so zu sein, wie man ihn zu sehen wünscht. Doch er hatte sich an diese Rolle fast gewöhnt, die für ihn offenbar etwas Unentrinnbares war, so unentrinnbar wie die allmorgendlichen kalten Abreibungen, wie die Portion Lebertran, die Suppe zum Mittag und das lästige Zähnereinigen vor dem Schlafengehen.

Der Selbsterhaltungstrieb gab ihm ein, wie er sich zu benehmen hatte. Er erinnerte sich, daß Warawka dem Vater einzuschärfen pflegte:

»Vergiß nicht, Iwan, je weniger ein Mensch spricht, desto klüger erscheint er.«

Klim beschloß, so wenig wie möglich zu reden und der rasenden Herde kleiner Unholde aus dem Weg zu gehen. Ihre aufdringliche Neugier kannte kein Erbarmen, und Klim sah sich in den ersten Tagen in der Lage eines gefangenen Vogels, dem man die Federn ausrupft, bevor man ihm den Hals umdreht. Er war in Gefahr, sich unter den gleichaltrigen Knaben, die sich kaum voneinander unterschieden, zu verlieren, – sie rissen ihn in ihre Mitte hinein und suchten ihn zu einem unscheinbaren Teilchen ihrer Masse zu machen.

Erschreckt verbarg er sich hinter der Schutzmaske der Langenweile, in die er sich einhüllte wie in eine Wolke. Er zwang sich zu einem gemessenen Schritt, versteckte die Hände auf dem Rücken wie Tomilin und gab sich das Aussehen eines Knaben, der mit etwas sehr Ernstem beschäftigt ist, fern allen Streichen und wilden Spielen.

Von Zeit zu Zeit verhalf ihm das Leben selbst zur Einkehr: in einer regnerischen Septembernacht erschoß sich Doktor Somow auf dem Grabe seiner Frau.

Seine erkünstelte Nachdenklichkeit erwies sich für ihn von zweifachem Nutzen: die Knaben ließen das langweilige Menschenkind bald in Ruhe, und die Lehrer sahen in ihr die Erklärung dafür, daß Klim Samgin während der Stunden häufig unaufmerksam war. Die meisten Lehrer waren geneigt, sich seine Zerstreutheit auf diese Weise zu erklären, mit Ausnahme eines boshaften alten Männchens mit einem herunterhängenden chinesischen Schnurrbart.

Dieser erteilte Unterricht in der russischen Sprache und in Geographie, die Kinder nannten ihn den »Unfertigen«, weil sein linkes Ohr kleiner war als das rechte, wenngleich so wenig, daß sogar Klim, als man es ihm zeigte, sich nicht sofort von der Ungleichheit der Ohren seines Lehrers überzeugen konnte. Der Knabe fühlte gleich in den ersten Stunden, daß der Alte nicht an seine Begabung glaubte, ihn überführen und verhöhnen wollte. Jedesmal, wenn er Klim vorrief, glättete der Greis seinen Schnurrbart und spitzte seine violetten Lippen, als wolle er pfeifen. Dann musterte er Klim sekundenlang durch seine Brille und fragte endlich milde:

 

»Nun, Samgin, woran ist die Seenzone reich?«

»An Fischen.«

»So. Vielleicht gibt es dort auch Wälder?«

»Ja.«

»Und, wie denkst du, sitzen die Fische in den Bäumen?«

Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus, der Lehrer schmunzelte und entblößte seine braunen, goldplombierten Zähne.

»Warum, mein Genialer, hast du dich so schlecht vorbereitet?«

Kehrte Klim dann an seinen Platz zurück, erblickte er vor sich die Phalanx kugelförmiger, geschorener Köpfe, gefletschter Zähne, vielfarbiger Augen, in denen das Lachen funkelte. Dieser Anblick trieb ihm Tränen der Kränkung in die Augen.

Nach Ansicht der Jungen waren die Stunden des »Unfertigen« ein Jux. Klim fand ihn dumm und boshaft und kam endgültig zu der Überzeugung, daß das Gymnasium langweiliger und schwieriger sei als die Stunden bei Tomilin.

»Warum spielst du nie mit?« fiel Dronow in der Pause über Klim her. Er war bis zur Rotglut erhitzt, strahlend, glücklich. Er gehörte wirklich zu den besten Schülern seiner Klasse und zu den ersten Lausbuben im ganzen Gymnasium. Es schien, er beeilte sich, alle Spiele nachzuahmen, von denen ihn Turobojew und Boris Warawka ausgeschlossen hatten. Wenn er mit Klim und Dmitri aus dem Gymnasium kam, pfiff er selbstgefällig und lachte ungeniert über die Mißerfolge der Brüder. Doch nicht selten fragte er Klim:

»Gehst du heute zu Tomilin? Ich komme mit.«

Und wenn er dann den rothaarigen Lehrer aufsuchte, sog er sich an ihm fest und überschüttete ihn mit Fragen über Religion, den ödesten Gegenstand, den es für Klim gab. Tomilin ließ lächelnd seine Fragenflut über sich ergehen und antwortete zaudernd. Nachdem er ihn verlassen hatte, pflegte er einen Augenblick in Schweigen zu verharren und sich dann mit den Worten Glafira Warawkas an Klim zu wenden:

»Nun, wie geht es zu Hause?«

Er fragte in einem Ton, als erwarte er etwas Überraschendes zu hören. – Seine Bücher türmten sich im Zimmer zu immer höheren Bergen rings um ihn. In der Ecke und am Fußende des Bettes ragten sie beinahe bis an die Decke. Sich auf dem Bette rekelnd, belehrte er Klim:

»Edelmetalle nennt man diejenigen Metalle, die beinahe oder überhaupt nicht oxydieren. Merke dir das, Klim. Edle und geistesstarke Menschen oxydieren auch nicht, das heißt – sie trotzen den Schicksalsschlägen und dem Unglück, und überhaupt . . .«

Solche Erläuterungen zu den Wissenschaften behagten dem Jungen mehr als die Wissenschaften selbst und wurden von ihm besser behalten. Tomilin aber war mit seinen Erläuterungen sehr freigebig. Er schien sie von der Zimmerdecke abzulesen, die mit früher einmal weißem, jetzt aber schon stark vergilbtem und von einem Netz von Rissen durchzogenem Glanzpapier beklebt war.

»Ein zusammengesetzter Stoff verliert beim Erhitzen einen Teil seines Gewichts, ein einfacher erhält oder vergrößert das seine.«

Schwieg und ergänzte:

»Du, zum Beispiel, bist nicht mehr einfach genug für dein Alter. Dein Bruder ist zwar älter, aber kindlicher als du.«

»Aber Mitja ist dumm«, erinnerte Klim.

Mit mechanischer Ruhe wie immer entgegnete der Lehrer:

»Ja, er ist dumm, doch gemäß seinem Alter. Jedem Lebensalter entspricht eine bestimmte Dosis Dummheit und Verstand. Was man in der Chemie mit Kompliziertheit bezeichnet, ist etwas vollkommen Gesetzmäßiges, hingegen besteht das, was man im Charakter des Menschen als Kompliziertheit auszugeben pflegt, häufig nur in seiner Einbildung. Es ist Spielerei. Die Frauen . . . zum Beispiel . . .«

Wieder verstummte er, als wäre er mit offenen Augen eingeschlafen. Klim sah von der Seite das porzellanähnliche glänzende Weiß seiner Augäpfel, es erinnerte ihn an die toten Augen Doktor Somows. Er erriet, daß sein Lehrer, als er sich Betrachtungen über die Einbildung hingab, mit sich selbst sprach und seinen Schüler gänzlich vergessen hatte, und oft hoffte Klim, er würde im nächsten Augenblick etwas über seine Mutter und jene Szene im Garten, als er ihre Knie umarmte, verraten. Doch der Lehrer sagte:

»Eine gesunde Einbildung hat die Form der Frage, der Vermutung: ist es wohl so? Von vornherein wird ehrlich damit gerechnet, daß es vielleicht nicht so ist. Schädliche Einbildungen geschehen immer in der Form der Behauptung: so ist es und nicht anders. Daraus entspringen dann Verirrungen, Enttäuschungen und überhaupt . . . Ja.«

Klim folgte diesen Reden mit gierigem Ohr und bemühte sich angestrengt, sie seinem Gedächtnis einzuverleiben. Er empfand Dankbarkeit für den Lehrer. Dieser unansehnliche Mensch, den niemand liebte, sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen und Gleichgestellten. Das war sehr nutzbringend: Klim machte von den Aussprüchen des Lehrers als von seinen eigenen Gebrauch und befestigte damit seinen Ruf eines gescheiten Jungen.

Doch manchmal schreckte ihn der Rothaarige: er verlor sich in so langen und wirren Reden, daß Klim husten, mit dem Absatz auf den Boden klopfen oder ein Buch fallen lassen mußte, um sich bemerkbar zu machen. Doch auch dieser Lärm weckte Tomilin nicht immer aus seiner Vergessenheit, er redete weiter, sein Gesicht wurde wie Stein, seine Augen traten vor Anstrengung aus den Höhlen und Klim erwartete, Tomilin würde gleich losschreien wie die Frau des Doktors: »Nein! Nein!«

Besonders unheimlich war der Lehrer, wenn er beim Sprechen die Hand vor das Gesicht hob und mit den Fingern in der Luft etwas Unsichtbares rupfte, wie der Koch Wlas Rebhühner oder anderes Geflügel.

In solchen Augenblicken sagte Klim laut:

»Es ist schon spät.«

Tomilin starrte in die Finsternis vor dem Fenster und erklärte zustimmend:

»Ja, für heute ist's genug.« Und er streckte dem Schüler die behaarten Finger mit den schwarzen Trauerrändern hin. Der Knabe ging fort, weniger mit Wissen als mit Betrachtungen beladen.

An den Winterabenden war es schön, über den knirschenden Schnee zu schlendern und sich vorzustellen, wie zu Hause beim Tee Vater und Mutter von den neuen Gedanken ihres Sohnes überrascht sein würden. Schon lief der Laternenanzünder mit einer Leiter über der Schulter leichtfüßig von Lampe zu Lampe und spannte gelbe Lichter in die blaue Luft. Angenehm erklangen in der Winterstille die Laternenscheiben. Kutschpferde trabten, die rauhen Köpfe schüttelnd, vorüber. An einer Straßenkreuzung ragte ein steinerner Schutzmann und folgte mit greisen Augen einem kleinen, aber würdevollen Gymnasiasten, der gemächlich von einer Ecke zur anderen spazierte.

Jetzt, da Klim einen großen Teil des Tages außerhalb des Hauses zubrachte, entglitt vieles seinen im Beobachten geübten Augen. Immerhin bemerkte er, daß es immer unruhiger im Hause wurde. Die Menschen bekamen einen anderen Gang, und selbst die Türen fielen mit einem anderen Geräusch ins Schloß.

Der »richtige Greis« setzte seine stockig steif gewordenen Beine behutsam eins vors andere, stieß heftig mit dem Stock auf den Boden und hustete so, daß seine Ohren zitterten und Hals und Gesicht die Farbe reifer Pflaumen annahmen. Immerfort mit dem Stock aufstoßend und mit einem wütenden Husten kämpfend, sprach er:

»Sie, Gnädigste, haben seinen weichen Charakter ausgenutzt . . . Sie haben die kindliche Vertrauensseligkeit Iwans ausgenutzt, Gnädigste, Sie haben . . .«

Die Mutter warnte leise:

»Nicht so laut, im Eßzimmer ist jemand.«

»Ich muß Ihnen sagen, Wera Petrowna . . .«

»Bitte, ich höre.«

Die Mutter ging zur Eßzimmertür und schloß sie fest zu.

Immer häufiger fuhr der Vater in den Wald, auf die Fabrik oder nach Moskau. Er war zerstreut geworden und brachte Klim auch keine Geschenke mehr mit. Sein Haar hatte sich stark gelichtet, die Stirn war zurückgetreten und lastete schwer über den Augen, die sich immer starrer wölbten. Sie waren farblos und stumpf geworden, ihr blaues Dunkel war erloschen. Er hatte eine lächerliche, hüpfende Art zu gehen angenommen, die Hände in den Taschen und einen Walzer pfeifend. Die Mutter betrachtete ihn immer mehr als einen Gast, der bereits langweilig geworden ist, aber noch immer nicht begreift, daß es für ihn Zeit ist, zu gehen. Sie begann, sich sorgfältiger und festlicher zu kleiden, hielt sich noch gerader und stolzer, wurde kräftiger, voller und sprach mit sanfterer Stimme, wenngleich sie ebenso selten und karg lächelte wie früher. Klim war sehr erstaunt und daher verletzt, als er bemerkte, daß sein Vater sich ihm entfremdete und zu Dmitri hielt und mit dem Bruder Geheimnisse hatte. An einem heißen Sommerabend überraschte Klim die beiden in der Gartenlaube. Der Vater, der neben Dmitri saß und ihn innig an sich drückte, lachte in einer ihm fremden, schluckenden Art. Dmitris Gesicht war verweint, er sprang sofort auf und lief fort, der Vater aber sagte zu Klim, während er mit dem Taschentuch Tränenspuren von seinen Hosen wischte: