Schweizerspiegel

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I

1

«Das ist unser äußerstes Angebot, Herr Oberst. Wir halten es aufrecht bis Samstag mittag, nachher werden wir anderweitige Verfügungen treffen.» Der Präsident der Baugenossenschaft, ein wohlgenährter, sorgfältig gekleideter Mann, verharrte in der leicht vorgebeugten Haltung, in der er diese Worte gesprochen hatte, und blickte den Oberst verbindlich lächelnd an.

Oberst Alfred Ammann schloß seine Ledermappe, rückte mit dem Stuhl etwas vom Tische weg und lächelte ebenfalls. Er wußte so genau wie der Präsident, wie wenig diese Frist zu bedeuten hatte, aber während er sonst in Verhandlungen eine gewisse geschäftliche Taktik anerkannte und ernsthaft darauf einging, stellte er sie jetzt bloß, da ihm die Sache selber zu wichtig war. «Anderweitige Verfügungen …», antwortete er mit ironischer Nachsicht, «die stehen Ihnen heute schon frei … Es handelt sich für Sie nicht darum, ob Sie überhaupt bauen wollen, sondern ob Sie auf meinem Platze bauen können.»

Der Präsident zuckte freundlich die Achsel und lehnte sich zurück.

«Herr Nationalrat», begann der Dritte am Tisch, Anwalt der Genossenschaft, ein klug aussehender jüngerer Mann, der von Ammanns Offiziersrang weniger hielt als von seiner politischen Stellung, mit Unrecht übrigens, «so rasch werden Sie kein solches Angebot mehr erhalten … und später … kein Mensch kann sagen, ob sich die Stadt nicht nach einer andern Seite hin ausdehnen wird. Heute wissen Sie noch so genau wie wir, daß ein altes Haus an einem solchen Platze nicht zu retten ist. Ich will Ihnen nicht vorrechnen, was dieser feudale Sitz Sie jährlich kostet, aber wenn man unser Angebot bedenkt, wird kein Mensch glauben, daß Sie sich auf die Dauer so etwas leisten wollen.»

Ammann beachtete weder die Worte des Anwalts, noch den Anwalt selber. Er saß, den gelben Bürolehnstuhl füllend, die Beine nach der Art beleibter Leute bequem auseinandergestellt, die Unterlippe nachdenklich vorgeschoben, in stummer Sammlung da; es schien, als ob er sich im nächsten Augenblick entschließen werde. Er stand aber gelassen auf, griff nach seiner Mappe und reckte sich. Er war ein starkgebauter Mann von mittlerer Größe und unauffälliger Korpulenz, mit glattrasiertem, vollem Gesicht, kurzgeschorenem, dichtem, dunkelgrauem Haar und kräftig glänzenden, klugen Augen. «Schön, meine Herren», sagte er und nahm damit Abschied, «ich werde Ihnen wieder berichten.»

Er trat auf eine belebte Straße hinaus und hatte kaum die Richtung nach Hause eingeschlagen, als er auch schon gegrüßt wurde. Ein untersetzter, ebenfalls sehr wohlgenährter Mann hielt, die Straße querend, mit dem Rufe «Herr Oberst!» fröhlich gelaunt den Hut in der erhobenen Rechten. Ammann kehrte bei seinem Anblick sogleich sein wahres Wesen heraus, ein heiteres, leutseliges Wesen, das bei aller Intelligenz und männlichen Bestimmtheit am liebsten mit der ganzen Welt im Frieden lebte. Er gab den Gruß ebenso fröhlich zurück, indem er seinen breitkrempigen runden Filz auf burschikose Art weit ausladend zur Seite schwang, dann setzte er seinen Weg aufrecht und strammen Schrittes fort.

In einer stillern Seitenstraße ließ er sich Zeit und bedachte flüchtig seine Lage. Er war entschlossen, den Grundbesitz nun endlich zu verkaufen, aber irgend etwas ging in der Rechnung nicht auf, ein alter, widerstrebender Rest, den keine zahlenmäßige Bestimmung erfaßte. Dieser dunkle Widerstand, den er blindlings unterdrückt hatte, weil er gegen jede vernünftige Einsicht gerichtet schien, ließ ihn auch jetzt wieder ahnen, daß er mit dem Familiensitz mehr verkaufen werde als einen guten Bauplatz.

Er bog in eine leicht ansteigende, breite, geräuschvolle Straße ein und schlug eine strammere Gangart an, bis er die mäßige Höhe erreicht hatte. Eine mannshohe grüne Taxushecke, durch ein Gitter gegen die Straße hin abgeschlossen und von alten Parkbäumen überragt, unterbrach hier auf einer Länge von achtzig Schritten überraschend die linke Front der Häuser. Durch die Lücken der Baumkronen gewahrte man im Hintergrund die kahle Häuserreihe einer andern Straße. Ein kunstvolles, schmiedeeisernes Gittertor trennte die Hecke in der Mitte und gewährte durch seine schwarzen Ranken und Stäbe einen bescheidenen Blick ins Innere des stillen Gutes. Vom Gitter führten Sandsteinfliesen über einen Rasenstreifen zur kleinen Säulenvorhalle des Hauses, eines Herrenhauses aus dem 18. Jahrhundert, dessen edle Verhältnisse im Licht des späten Nachmittags sich hinter dem erst leicht verfärbten Herbstlaub eben noch erkennen ließen. Das Gut war im Jahre 1765 auf dieser kleinen flachen Höhe angelegt worden, mit freiem Gelände ringsum und mit dem Blick über die Stadt hin, aber vom Ende des folgenden Jahrhunderts an waren geschmacklose Miets- und Geschäftshäuser immer näher herangerückt, und jetzt hatten sie es erreicht, sie standen da, rings um diesen letzten sichtbaren Zeugen einer vornehmen bürgerlichen Kultur herum, geschlossen, anmaßend und überheblich.

Ammann, sein Besitzer, warf einen flüchtigen Blick durch das Tor, das längst nicht mehr geöffnet wurde und dessen Wappen auch nicht sein Wappen war, einen betont gleichgültigen Blick, dann trat er durch eine schmale Seitenpforte und stieß hinter sich das Gittertürchen unbedachtsam hart ins Schloß.

2

«Paul hat geschrieben», sagte Frau Barbara, als Ammann schon die Tür zum Büro öffnete. «Er kommt in acht Tagen heim.»

«In acht Tagen?!»

«Ja … das schreibt er», antwortete sie achselzuckend.

Ammann blickte eine Weile mit gerunzelter Stirn auf seine Frau, die sich vor einem offenen Wandschrank etwas zu schaffen machte, als ob die ganze Geschichte sie nichts anginge, dann legte er drinnen seine Mappe ab und trat wieder unter die Tür. «Du hast ihm doch geschrieben, daß …»

«Jaja, er weiß es schon», unterbrach sie ihn.

«So … ja, wenn dieser junge Herr meint, er könne sich noch einmal drücken, mit seinem Auslandsurlaub …»

«Drücken …!» erwiderte sie und blickte ihren Mann mit einer entschiedenen Kopfbewegung an. «Vielleicht kann er halt nicht früher fort.»

«Ja wahrscheinlich! Wenn man über ein Jahr lang gebummelt hat, ist es besonders schwer, zur rechten Zeit einzurücken. Er hat schon seinen letzten Wiederholungskurs versäumt … jetzt hört das auf!» Er trat in sein Büro und wechselte mit knappen, entschlossenen Bewegungen den Rock.

Er hatte auf Grund fortschrittlicher Anschauungen und mit kluger Einsicht in die veränderte Seelenlage der heranwachsenden Jugend seine vier Kinder nicht allzu streng erzogen, ja er hatte ihnen mehr Freiheiten gewährt, als ihm oft selber angemessen schien. Severin, sein Ältester, war dabei ein selbständiger Mann und frühzeitiger Familienvater geworden, Gertrud hatte von ihrem Mädchenalter an zu Vorwürfen kaum mehr Anlaß gegeben, Fred, der Jüngste, der noch mitten im Studium steckte, war ein lieber Kerl und verdiente alles Vertrauen; mit Paul aber klappte nun etwas nicht. Dieser intelligente, nach dem allgemeinen Urteil ungewöhnlich begabte junge Mann hatte Philologie studiert und sich nach dem Examen für ein Jahr ins Ausland begeben, «zur weiteren Ausbildung», was niemand allzu wörtlich nahm. Dieses Jahr war abgelaufen, aber statt daß der Herr Sohn inzwischen eine Stelle angenommen oder wenigstens zur rechten Zeit die Rückreise angetreten hätte, trieb er sich noch jetzt beschäftigungslos in München herum. Eine Anstellung stand ihm nun zwar durch die Vermittlung seines Onkels Gaston in Aussicht, aber daß er sich von seiner militärischen Pflicht ohne Grund noch einmal zu drücken suchte, hieß denn doch die väterliche Nachsicht auf eine harte Probe stellen.

Ammann legte ein Blatt vor sich hin, zückte die Feder und bedachte sich mit gesammelter Miene einen Augenblick, dann schrieb er, ohne zu stocken, mit kurzen, kräftigen Zügen: «Der Wiederholungskurs Deines Regiments beginnt am 6. Oktober. Ich erwarte von Dir, daß Du zur rechten Zeit heimkehrst. Mit Gruß Dein Vater.» Er adressierte den Umschlag an Herrn Dr. Paul Ammann, schrieb dick darüber «Expreß» und übergab ihn unverschlossen seiner Frau.

Damit war dieser Zwischenfall für ihn erledigt, er brannte sich eine Zigarre an, entfaltete das ausführliche Schriftstück mit dem Angebot der Genossenschaft und lehnte sich zurück, um die Angelegenheit noch einmal zu bedenken. Sein Blick ruhte auf einem Ölbild, das ihn längst nicht mehr abzulenken vermochte, einer sehr farbigen Darstellung von Bourbakis frierenden Soldaten und ihrer Entwaffnung durch die Schweizer Armee im Winter 1871. Dieses Bild, ein nüchterner Aktenschrank, der überladene Schreibtisch und eine Menge anderer Dinge paßten nach dem Urteil aller Kunstverständigen nicht in diesen Raum mit seiner schönen Stuckdecke, der zarten Landschaft über der Tür und dem prachtvollen alten Ofen. Er gab es zu, aber er hatte noch nie darunter gelitten. Dagegen kam seine Frau in den übrigen Räumen dem Stil des Hauses mit gutem Geschmack entgegen, er zollte ihr dafür alle Anerkennung und bezeugte wenigstens auf diese Art seinen Kunstsinn, den er als Eigentümer eines solchen Hauses denn doch nicht verleugnen durfte. Dieses Zugeständnis an den Geist verflossener Jahrhunderte und jener dunkle Widerstand beim Gedanken an den Hausverkauf hingen mit seiner Pflicht zur Repräsentation zusammen, und das nicht sehr ursprüngliche Gefühl dieser Pflicht war der einzige konservative Rückstand in seinem Wesen. Er war ein Mann seiner Zeit, ein Mann des Fortschritts, der Entwicklung, ein Demokrat vom Scheitel bis zur Sohle, und da ihm für das Haus jetzt ein wirklich anständiger Preis geboten wurde, konnte er wohl auch diesen Rückstand überwinden und mit seiner Familie vorläufig die in Aussicht genommene Mietswohnung beziehen.

Diese Frage beschäftigte ihn vor allem, nachdem er zur Überzeugung gekommen war, daß die gebotene Summe einen angemessenen Preis darstelle und der Verkauf nicht länger hinausgezögert werden dürfe; ein abermaliger Aufschub blieb ein Wagnis, das wußte er so genau wie der vorwitzige junge Anwalt. Ein geeignetes älteres oder neues Haus nun war in der Stadt gegenwärtig nicht zu finden gewesen, und selber ein Haus zu bauen, schien ihm übereilt, bevor sich gewisse Verhältnisse abgeklärt hatten. So bot sich als einfachste Lösung noch immer die Miete einer ihm und seiner Frau bekannten Wohnung, die nächstes Jahr, auf den 1. April 1914, frei wurde, einer sehr geräumigen Fünfzimmerwohnung im Stockmeierschen Haus an der Dufourstraße.

 

«Barbara!»

Seine Frau kam aus dem Wohnzimmer herüber, beugte sich leicht über das Schriftstück, das er ihr schweigend hingeschoben hatte, und begann es zu lesen, während er sie mit gelassener Neugier betrachtete. An der Summe blieb sie einen Augenblick hängen, das Folgende überflog sie nur, dann ging sie zum aufgehängten Rock, der wohl gebürstet werden mußte.

«Jaa …» sagte er gedehnt, «das ist mehr als ich erwartet hatte, offen gestanden. Jetzt heißt es zugreifen.»

«Und dann?» Sie hatte knapp angehalten und stand nun da, den Kopf etwas emporgeworfen, den lebhaften Blick auf ihren Mann gerichtet, sehr von oben herab, wie es schien, mit einer zugleich betrübten und herausfordernden Miene. Dieses beinah schroffe Auftreten, die bündige Frage und der beleidigte Anflug ihrer Miene waren Ammann vertraut; weder er noch die Kinder hatten unter ihrer herben Entschiedenheit jemals ernstlich gelitten. Es war ihre Art, keine mürrische, schlimme oder hochmütige, sondern eine gerade, im Grunde heitere und lebhafte Art. Mit ihren zweiundfünfzig Jahren besaß sie das Temperament eines lebenskräftigen jungen Mädchens, nur konnte sie sich bis zum Äußersten beherrschen, aber freilich auch sprudelnd herausfahren, wenn es nötig war. Jetzt stand sie da vor ihrem Mann, eine dunkelgekleidete, große, vornehme Gestalt mit grauem, ehemals fast schwarzem Haar, mit einem vollen, mütterlichen, um Mund und Augen stolz bestimmten Gesicht von gesunder Farbe, und mit dem Ausdruck leicht gekränkter Würde, der sich bei ihr in solchen Fällen unweigerlich einstellte.

«Ich wäre für die Wohnung bei Stockmeiers», antwortete er ruhig. «Vorläufig würde uns das doch genügen …»

«Ich habe dir schon gesagt, es ist ein Zimmer zu wenig», erwiderte sie bedauernd. «Ein Wohnzimmer, ein Salon, ein Büro für dich, ein Schlafzimmer, Freds Zimmer … und wo soll dann Paul schlafen?»

«Paul wird nicht mehr in der Stadt wohnen, wenn er am Graberschen Institut ist.»

«Er ist noch nicht dort.»

«Jaja … da brauchen wir uns keine Sorge zu machen … Gaston hat mir versprochen …»

«Und wenn wir Gäste bekommen? Ein Gastzimmer haben wir dann auch nicht.»

«Ja … wenn du in der Stadt jetzt eine geeignete Sechszimmerwohnung findest … schon recht, aber … ich sehe vorläufig keine andere Lösung.»

Sie schüttelte unwillig den Kopf. «Ich würde am liebsten mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben», rief sie und ging mit dem Rock so bestimmten Schrittes hinaus, als ob sie nicht mehr wiederzukehren gedächte.

Ammann blieb mit einem nachdenklichen Lächeln sitzen. Sie schien sich mit dem Gedanken an die Mietswohnung ja nun abzufinden, das war die Hauptsache. Zum Verkauf des Hauses hatte sie niemals weder ja noch nein gesagt, und er hatte es auch nicht verlangt. Er wußte, daß sie ähnlich dachte wie er, sie war immer eine sehr vernünftige Frau gewesen, doch er begriff, daß ihr die Trennung von diesem Hause viel schwerer fallen mußte als ihm, und daß sie sich damit so wenig offen einverstanden erklären konnte wie etwa mit dem Tode des Vaters.

Inzwischen bürstete Frau Barbara den Rock, brachte ihn aber nicht zurück, sondern setzte sich damit an eines der Fenster, das noch einen geschlossenen Blick ins Innere des Gartens gewährte, und suchte mit dem Umstand fertig zu werden, daß die seit Jahren schwankende Lage sich jetzt entschied. Sie hatte mit ihrem Sinn für klare Verhältnisse irgendeine Entscheidung schließlich als das Wünschenswerteste bezeichnet. «Wenn man nur endlich wüßte, woran man ist!» Das war nach Unterredungen oft genug ihr letzter Schluß gewesen. Jetzt aber war sie dermaßen betroffen, als ob sie im Gegenteil heimlich gewünscht hätte, daß die Lage sich solange wie möglich nicht entscheiden möchte. Der Verkauf brachte nun zwar einen Haufen Geld ein, das sie sehr zu schätzen wußte; sie hatte ihr Leben lang im Wohlstand gelebt und gewisse verächtliche Redensarten über den Wert des Geldes immer mit einem Achselzucken abgetan. Aber die Schönheit dieses Familiensitzes, die unaufdringlich gewachsen und gereift war, die Erinnerungen, die sich für sie wie für jedes ihrer Kinder daran knüpften, das Gefühl der Häuslichkeit, das die zerstreute Familie hier doch immer wieder umschloß, dieses geheimnisvolle alles umfassende «Daheim», in dem sie wurzelte, konnte dies mit Geld erkauft werden? Sie hatte gegen die Entwicklung der Stadt nichts einzuwenden, so wenig wie gegen den Fortschritt überhaupt, den gesteigerten Verkehr, das zwanzigste Jahrhundert, die Macht der Zeit; sie fand es töricht, sich dagegen zu sperren, und sie galt in ihren Kreisen denn auch als fortschrittliche Frau. Sie hatte ja diese ganze Entwicklung miterlebt, sie hatte an der Seite ihres Mannes gekämpft und gelitten. Aber warum kam man nicht schließlich an ein Ziel? Und warum konnte man sich dieser Entwicklung nicht entziehen, wenn man genug davon hatte? Warum drängten sich diese häßlichen Häuser ausgerechnet um ihr Heim zusammen, warum mußte diese Zeit eine ganze Familie vertreiben, über ein schönes altes Gut rücksichtslos hinwegstampfen und ein nüchternes Allerweltshaus an seine Stelle setzen?

Frau Barbara wurde jetzt, wie sie noch immer allein im schon fast dunklen Zimmer saß und nicht daran dachte, Licht zu machen, von ihrer berühmten Vernunft und Einsicht wohl ein wenig verlassen. Sie blickte mit einer ungewohnten, traurig bittern Miene verloren durch das Fenster in den Garten hinab, der in einem seltsamen Zwielicht lag. Von den beiden Straßen her drang das Licht der grellen Laternen dunkelgoldig durch das gilbende Buchenlaub und lag in gedämpften Flecken auf dem Rasen. Im Hintergrund schufen Gebüsche ein dichtes Dunkel, doch war davor in der Dämmerung noch der Brunnen zu erkennen, und der dünne Silberstrahl schimmerte ein wenig, den der bronzene Faunskopf, unberührt vom nahen Getöse, arglos mit geblähten Backen ins Muschelbecken spie.

3

Professor Gaston Junod trat ins Wohnzimmer, Ammanns Schwager, ein sorgfältig gekleideter, stiller Mann von dreiundfünfzig Jahren mit gepflegtem Spitzbart, zurückgekämmtem weißgrauem Haar und sackigen Fältchen unter den halb geschlossenen Augen. Leise und freundlich begrüßte er die Hausfrau, dann blickte er sich flüchtig um, als ob er etwas suchte, und lobte schließlich die Rosen, die auf dem Tisch über den Rand einer Kristallvase hingen.

Er stammte aus Lausanne, seine Muttersprache war französisch, aber er drückte sich geläufig schweizerdeutsch aus, mit etwas gebrochenem Akzent und leichten Abweichungen ins Schriftdeutsche. Vor sechsundzwanzig Jahren, als Privatdozent für romanische Philologie an der Universität in Zürich, hatte er Ammanns älteste Schwester geheiratet und seither die Stadt nur noch vorübergehend verlassen. Seine Vorlesungen galten im gebildeten Publikum, das einem geistreichen Vertreter der neuern französischen Literatur den Vorzug gab, für langweilig, doch die jungen Romanisten schätzten ihn aus irgendeinem Grunde. In der Ammannschen Familie verkehrte er nur gelegentlich, aber als leidlicher Cellist hatte er bis zur Abreise Pauls regelmäßig an einem Streichquartett in diesem Hause teilgenommen und seither auch mit Severin und Gertrud zusammen Trio gespielt.

«Schön, diese Rosen!» sagte er beiläufig und schon bereit, den Grund seines Besuches zu erklären.

«Ja, nicht wahr, prachtvoll!» antwortete Frau Barbara erfreut und drehte sorgfältig die Vase, so daß er sich noch zur Frage verpflichtet fühlte, ob es eigene seien. «Jaja freilich», bestätigte sie lebhaft, «das sind noch eigene. Wir werden nicht mehr lange eigene Rosen haben.»

«So? Ja … soll es denn nun wirklich zum Verkauf kommen?»

«Es scheint!»

«Ach, das ist schade! Ich habe immer noch gehofft, Alfred werde … ja, so ein Haus, auf Abbruch, das tut mir nun wirklich leid …»

Frau Barbara zuckte die Achsel, bat ihn, Platz zu nehmen, und ließ rasch eine Flickarbeit von einem Nebentischchen verschwinden, während er fortfuhr, sein Bedauern auszudrücken; doch plötzlich trat sie näher an ihn heran und sagte vertraulich gedämpft, aber mit tiefer Überzeugung: «Ja, nicht wahr, es ist jammerschade! Jammerschade!»

Er schüttelte bedauernd den Kopf und blickte sich wiederum flüchtig und scheinbar verlegen um, doch eh er ein Wort geäußert hatte, war Frau Barbara schon an der Tür und rief ihren Mann herbei.

«Ah, Gaston, willkommen, willkommen!» rief Ammann beim Eintritt laut und freudig. «So, sieht man dich auch wieder einmal? Das ist schön!»

«Du bleibst doch zum Nachtessen!?» sagte Frau Barbara. «Wir sind allein …»

Professor Junod lehnte mit erhobenen Händen ängstlich ab, dann kam er sogleich auf den Anlaß seines Besuches zu sprechen. «Ich wollte dir nur mitteilen», begann er, zu seinem Schwager gewandt, «daß Paul sich nicht angemeldet hat. Wir hatten gestern Aufsichtsrat und …»

«So, jetzt nehmt erst einmal Platz!» unterbrach ihn Frau Barbara. «Trinkst du ein Glas Wein? Oder ein Schnäpschen?»

Professor Junod lehnte wiederum leise, aber entschieden ab und fuhr mit seinem Berichte sogleich fort. Er gehörte dem Aufsichtsrat des Graberschen Instituts an, einer sogenannten Schnellbleiche für künftige Maturanden, wo eine Lehrstelle für Deutsch ausgeschrieben war.

«Nicht angemeldet?» fragte Ammann finster.

«Ja, es sind eine ganze Anzahl Bewerbungen eingelaufen, ich habe sie durchgesehen, aber von Paul war nichts da. Nun, nicht wahr, was wollte ich machen … der Termin ist abgelaufen, die Besetzung ist dringend … ich habe nicht allein zu entscheiden, und ich konnte doch nicht …» Er lächelte fast schüchtern und schüttelte den Kopf.

«Selbstverständlich!» sagte Ammann entschieden. «So … hm … was fällt diesem Herrn eigentlich ein?» Er blickte zornig fragend auf seine Frau, die aber in diesem Augenblick aus dem Wohnzimmer verschwand.

«Es wäre für Paul ja ein ganz netter Anfang gewesen», fuhr Professor Junod fort, «aber ich weiß nicht, vielleicht hat er etwas anderes im Sinn … diese jungen Leute, mon dieu …»

«Wann ist der Termin abgelaufen?»

«Vorgestern … es stehen jetzt drei Bewerber in der engern Wahl … in der nächsten Sitzung müssen wir beschließen.»

«Und wenn Paul sich nun morgen abend noch anmelden würde … aber es ist ja nun zu spät, natürlich …»

«Oh, man könnte sehen … ich weiß nicht … ich müßte mit den Herren reden …»

«Paul kommt spätestens morgen abend heim», erklärte nun Ammann bestimmt, «er muß übermorgen in den Wiederholungskurs einrücken. Ich werde dafür sorgen, daß er sich sofort anmeldet.»

«Gut, ja, ich glaube … das wird schon gehen!»

«Schön! Nun höre, Gaston, du bleibst zum Nachtessen da, wir machen eine gute Flasche auf, ich werde gleich …» Er hatte sich, den einsetzenden Protest abwehrend, langsam erhoben, aber zugleich mit ihm erhob sich auch sein Schwager und ergriff seinen Arm, mit der Beteuerung, daß dies ganz ausgeschlossen sei, er bedauere außerordentlich, aber es gehe wirklich nicht.

Ammann ergab sich und bat ihn, wieder Platz zu nehmen, aber Junod nahm nun unerbittlich Abschied. Frau Barbara, von ihrem Mann herbeigerufen, wickelte rasch die Rosen aus der Kristallvase in ein Seidenpapier und drückte sie dem Professor, der sie kaum anzunehmen wagte, mit einem Gruß an seine Frau und der dringenden Einladung zu einem baldigen Besuch energisch in die Hand.

Unter der Haustür wandte sich Professor Junod noch einmal um und nickte mehrmals, dann ging er, den Rosenstrauß in der Rechten, mit einem Ausdruck des Bedauerns langsam und nachdenklich die Straße hinab.

4

Fred, der auch in den Wiederholungskurs einrücken mußte, kam am Abend vorher aus den Ferien zurück, die er bei Onkel Robert auf dem Lande verbracht hatte. Er ließ sich von Mama küssen, beantwortete Fragen und richtete Grüße aus, dann stieg er mit dem Koffer in sein Zimmer hinauf.

«Ich hab’ dir alles gerüstet», rief ihm die Mutter nach. «Der Tornister steht unter dem Stuhl, und Wäsche liegt auf dem Bett. Sieh nach, ob nichts fehlt! Und wenn du baden willst, sag’s!»

Er trat in sein Zimmer, das er fünf Wochen lang nicht mehr gesehen hatte, und blieb einen Augenblick stehen, ein großer Bursche mit einem sehr jugendlichen, fast knabenhaften Gesichte, das zu seiner ausgewachsenen Gestalt in einem eher liebenswürdigen als störenden Gegensatze stand, und mit kurzem, schlicht zur Seite gekämmtem braunem Haar. Das Zimmer sah ungewohnt ordentlich aus und duftete nach dem Kampfer, mit dem die sorgliche Mutter das Militärkleid vor Motten geschützt hatte. Der Waffenrock mit den weißen Korporalstreifen auf den Ärmeln hing an einer Stuhllehne neben dem Bett, auf dem Sitz lagen die gebügelten Hosen, und darauf ruhte genau in der Mitte, mit der Bataillonsnummer gegen den Beschauer, das Käppi.

 

Fred schlitterte den schweren Koffer in die Mitte des Zimmers, setzte sich das Käppi auf, das bei jeder Kopfbewegung noch immer wackelte, und warf es mit einem sauern Lächeln auf die Bettdecke, dann zog er den Tornister am Tragriemen unter dem Stuhl hervor, ließ ihn pendeln und warf ihn ebenfalls weg. Die Mißachtung dieser Dinge wog aber nicht sehr schwer, er war jedenfalls Korporal geworden und hatte gegen seine Einberufung zur Offiziersschule im nächsten Sommer nicht eben viel einzuwenden. Der Militärdienst stand jedem gesunden jungen Schweizer so unweigerlich bevor wie die Steuerpflicht, und was weiter geschah, war Papas Ratschluß; er fühlte sich zwar, nachdem seine erste Neugier in der Rekrutenschule verflogen war, nicht dazu geboren, aber er hegte auch keine entschiedene Abneigung dagegen, und da von seiner Zustimmung außerdem wenig abhing, mochte denn alles so weiterdauern.

Gemächlich begann er den Koffer auszupacken und stieß unter der ersten Wäscheschicht auf ein Buch, das er sogleich in die entfernteste Ecke schmiß. Diese Mißachtung wog schwerer. Es war Osers Taschenausgabe des Schweizerischen Obligationenrechts, die er aus Pflichtbewußtsein in die Ferien mitgenommen, aber nie geöffnet hatte. Während er Kleider und Wäsche gedankenlos auf zwei Stühle türmte, beschlich ihn ein dunkles Unbehagen, das mit dem Beschluß und der Notwendigkeit zusammenhing, seinen Eltern heut abend etwas sehr Unangenehmes zu gestehen.

Fred hatte sich nach einem ordentlichen Reifezeugnis zum Studium der Rechte entschlossen, nicht weil er sich dazu gedrängt fühlte, sondern weil man sich vor den Toren der Hochschule notwendigerweise für etwas entscheiden muß. Jetzt war ihm die Juristerei verleidet, er brachte für dieses ausgeklügelte Netz von Gesetzen und Rechten keine Anteilnahme mehr auf, und gegen die Politik hegte er eine heimliche, aber entschiedene Abneigung. Außerdem besaß er jenes flüssige Mundwerk nicht, das vielen seiner Studiengenossen eine erfolgreiche Laufbahn schon jetzt verbürgte, und so schien es ihm nach seinen zwei Semestern denn höchste Zeit, dies fruchtlose Bemühen aufzustecken. Er hatte den heutigen Abend bestimmt, um es Papa mitzuteilen. Morgen früh um neun Uhr würde er sich dann bereits bei seiner Einheit befinden, weit ab vom Sturm des Unwillens, den sein Geständnis im väterlichen Herzen verursachen mochte, und vorläufig sicher vor all den überflüssigen Fragen und Erklärungen, die einem derartigen Ereignis im weitern Familienkreise zu folgen pflegten. Er haßte es, wenn man die Wichtigkeit eines Vorfalles übertrieb, und es brauchte sehr wenig, um in ihm das Gefühl zu erwecken, daß wegen eines Fliegendrecks wieder einmal mit allen Glocken geläutet werde.

Im Koffer blieb eine Blechbüchse zurück, die er nun auch herausnahm und mit einem leisen, zwiespältigen Lächeln öffnete. Sie enthielt einen gebleichten Katzenschädel, den er auf einem Streifzug durch den Wald mit seinem Vetter Christian vor einem Fuchsbau gefunden hatte. Er trat damit vor einen mannshohen doppelten Kasten, dessen obere Hälfte hinter einem Glasfenster all jene merkwürdigen Dinge enthielt, die ein junger Gymnasiast und Liebhaber der Naturkunde zu finden und aufzubewahren pflegt. Hier waren Vogelnester, Mineralien, Versteinerungen, Skelette, Muscheln zur Schau gestellt, und zwei von Mutters kleinen Konfitürengläsern bargen in Spiritus eine Ringelnatter und einen Feuersalamander; in den Schubladen der untern Hälfte ruhten Käfer, Raupen, Schmetterlinge und gepreßte Pflanzen. Er legte das kleine Knochengebilde, dem der Unterkiefer fehlte, neben zwei andere Schädel und blieb mit einem schwankenden Gefühl vor dem offenen Kasten stehen. Er kam sich kindisch vor, und zugleich berührte ihn ein Hauch jener Liebe, mit der er damals diese Dinge zusammengetragen hatte. Seither war die Sammlung unberührt und bis zu dieser Stunde unbereichert geblieben, denn es war wirklich eine belanglose Sammlung, und nie hatte er ihr die Bedeutung beigemessen, die sie jetzt für ihn anzunehmen schien. Er konnte ja nicht einfach die Juristerei aufstecken, er mußte umsatteln, und er wußte durchaus nicht, welches Pferd er reiten sollte außer dem, das einst in anderer Gestalt sein Steckenpferd gewesen war.

Jetzt stand er aber da und erwog mit wachsenden Bedenken den Unterschied zwischen einer knabenhaften Liebhaberei und der Naturwissenschaft. Vielleicht würde er das Studium niemals bewältigen, das die ernsthafte Beschäftigung mit Mineralien, Schmetterlingen oder Pflanzen voraussetzte, und es war ihm fast unmöglich, sich auch nur als Lehrer der Naturkunde an der Mittelschule vorzustellen, geschweige denn als Dozent auf dem Hochschulkatheder. Was aber blieb ihm dann übrig?

Er trat an ein Fenster und blickte entmutigt über den Garten weg auf die von heimkehrenden Arbeitern, Ladentöchtern und Büroleuten geschäftig belebte Straße hinaus. Warum mußte man einen Beruf wählen, wenn man keine Lust dazu hatte? Warum konnte man nicht alles etwas leichter nehmen, bummeln, wenn man bummeln wollte, und auf die Examen pfeifen? Am Ende war es doch gleichgültig, was man vorstellte, und verhungern würde man kaum.

Er spann diese Möglichkeit weiter aus, aber schon nicht mehr ernsthaft; im Grunde war er weit entfernt davon, er besaß alle Vorbedingungen zu einem anständigen Leben und hatte keine Ursache, seinen Eltern Enttäuschungen zu bereiten, auch wenn er augenblicklich ein wenig in der Luft hing. Er wollte es in Teufels Namen mit der Naturwissenschaft versuchen, da es ohne Berufsstudium nun einmal nicht ging, und er blieb dabei, seinen Entschluß den Eltern beim Abendessen mitzuteilen.

Er bestellte sein Bad, zog sich aus und lief im Schlafanzug barfuß über die kühlen Steinfliesen ins dampfende Badezimmer.

Nach einer Weile kam langsam, mit einem gekränkten Ausdruck, Frau Barbara die Treppe herauf. Paul war nicht zurückgekehrt, er hätte längst hier sein müssen, und Papa war darüber so aufgebracht, wie sie ihn selten gesehen hatte. Ihr war unbehaglich zumute.

Als sie am Badezimmer vorbeikam, hörte sie Fred plätschern und blieb auflächelnd einen Augenblick stehen. «In einer Viertelstunde können wir essen, Fred!» rief sie und ging weiter in Freds Zimmer, wo sie mit einem liebevoll verurteilenden Kopfschütteln die Unordnung wahrnahm und sogleich aufzuräumen begann.

Sie war noch da, als Fred aus dem Bade kam. «Ordnung hast du im Rusgrund nicht gelernt!» sagte sie entschieden. «Hast du Papa schon gesehen? Ja, brauchst dich dann nicht zu wundern … er ist wütend.»

«Warum? Was ist los?»

«Paul hätte doch morgen auch einrücken müssen … jetzt ist er nicht heimgekommen. Und Papa hat ihm doch für eine Stelle sorgen wollen … da hat er sich nicht angemeldet. Ich finde, das ist wirklich nicht recht von Paul. Ich weiß nicht, was er im Kopf hat.»

Fred hatte sich mit einem Nagelscherchen auf den Bettrand gesetzt und hörte aufmerksam zu. Er wußte nichts von alledem, und Pauls Versäumnis machte ihm auch keinen besonderen Eindruck, aber er empfand sogleich eine Erleichterung seiner eigenen Lage. Wenn sich Papa in schlechter Laune befand, war es ausgeschlossen, ihm eben jetzt ein Geständnis zu machen. Er brauchte vorläufig nichts zu sagen. «Ach, vom Dienste drückt sich jeder, wenn er kann», antwortete er leichthin. «Und er hat ja seinen Doktor!»