Schweizerspiegel

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Gertrud fuhr auf und lief ihm so rasch entgegen, als ob er ihr wieder entgleiten könnte; sie hob ihn hoch an ihre Brust, legte ihr Gesicht an seine Wange und trug ihn eilig zurück.

8

Paul Ammann rückte mit bitterm Unwillen in den Wiederholungskurs ein. Die Füsiliere des Zuges, dem er zugeteilt wurde, waren Arbeiter, kaufmännische Angestellte, Handwerker; er brachte keine Anteilnahme für sie auf, so wenig wie für die Masse des Volkes, der sie angehörten, er hatte die Fühlung mit dem Volksganzen verloren. Er unterhielt im zivilen Leben Beziehungen zu Malern und Literaten, die diese Fühlung ebenfalls verloren hatten, und verbrachte seine geselligen Stunden in der internationalen Luft der Kaffeehäuser. Trotzdem besaß er einen hohen Begriff von dem, was er in seiner Sprache Volk nannte, aber diesem Begrifflag keine Anschauung zugrunde und dieses Volk hatte nichts zu tun mit dem wirklichen Volke, das aus Fabrikarbeitern, Kaufleuten, Bäckern, Nationalräten, Tramführern, Bauern und vielen andern unkünstlerischen und geistlosen Menschen bestand. Er hatte die Kluft, die ihn von diesem wirklichen Volke trennte, nie als Übel oder gar als Schuld empfunden; jetzt, da man ihn zurückgeholt und dank den Gesetzen seines Landes unter eben dieses Volk gesteckt hatte, litt er darunter.

Er stand in den Tagen der Einzelausbildung fremd und unglücklich zwischen seinen Landsleuten auf einer gemähten Wiese, glitt von Zeit zu Zeit in die Grundstellung, drehte sich, wenn der Korporal Drehungen befahl, wiederholte Gewehrgriff um Gewehrgriff und fühlte sich furchtbar angeödet. Sein Gruppenführer war der Korporal Egli, ein untersetzter, etwas krummbeiniger Mensch mit einem merkwürdigen Altweibergesicht von rosiger Farbe, einer billigen Brille auf der langen Nase und zurückgekämmtem dünnem Haar. Beim Einrücken hatte er noch vernünftig, ja gutmütig mit seinen Leuten gesprochen; jetzt sprühte er vor Energie, eine fremde Willenskraft schien von ihm Besitz genommen und ihn völlig verwandelt zu haben.

Diese fremde Kraft beherrschte ringsum im fahlen Morgenlicht auf den gemähten grünen Wiesen und braunen Stoppelfeldern die übenden Gruppen und Züge, sie war im Bataillon wirksam geworden, ja sie hatte das gesamte Regiment, das gemütlich eingerückt war, in ein straff bewegtes, lebendiges Ganzes verwandelt. Wie man die zerstreuten Bestandteile einer Maschine sammelt, ölt und zusammensetzt, so waren die Eingerückten gesammelt, ausgerüstet und zur Truppe zusammengefügt worden, und wie man mit einer bestimmten Kraft die Maschine dann antreibt, so war mit dem Einsatz jener Willenskraft auch die Truppe in Betrieb gesetzt worden, in den militärischen Dienstbetrieb. Der Regimentskommandant hatte gleichsam den Strom eingeschaltet, der Strom war in die Bataillonskommandanten und von ihnen in die Hauptleute gefahren, und die Hauptleute hatten ihn an ihre Zugführer und Unteroffiziere weitergeleitet, die ihn nun auf die Mannschaft einwirken ließen. Es gab von jedem Grade gute und weniger gute Empfänger, aber die Kraft dieses Stromes genügte, um jeden abweichenden Eigenwillen auszuschalten und das Ganze in jenen flotten Gang zu bringen, der schließlich die Kriegstüchtigkeit der Truppe zu erneuern und zu steigern hatte. Wer sich von diesem Strome widerstandslos ergreifen ließ und bereitwillig ausführte, was ihm auferlegt war, dem ging alles leicht von der Hand; wer ihm aber widerstrebte und sich vom Gang des Ganzen nur mitschleppen ließ, statt selber zu laufen, der wurde zum Knirschen gebracht wie ein falsch eingesetztes Maschinenteilchen.

«Kopf hoch! Brust heraus!» befahl Korporal Egli. «Noch einmal, Ammann … ach was, das ist doch keine Achtungstellung … he, so reißen Sie sich doch zusammen! Nein, das ist noch gar nichts … weiter üben!»

Nachdem der Hauptmann selber sich ärgerlich mit ihm beschäftigt und für seinen Mangel an Schneid auch den Korporal verantwortlich gemacht hatte, brüllte Egli ihn mit hochrotem Gesichte wütend an: «Ammann, Sie sind ein verdammter Schlappschwanz! Wenn Sie glauben, Sie brauchen sich keine Mühe zu geben, weil Sie der Herr Doktor Ammann sind, so täuschen Sie sich. Nehmen Sie Stellung an! Hier haben Sie nicht mehr Rechte als andere auch, merken Sie sich das! … Lachen Sie nicht so dreckig, oder ich lasse Sie einsperren …!»

Paul preßte die Lippen zusammen, blickte mit emporgezogenen Augenbrauen in die Ferne und haßte den ehrlich entrüsteten kleinen Mann von Herzen.

Die zweite Dienstwoche schien ihm erträglicher, obwohl nun anstrengende Märsche und Übungen die Leistungsfähigkeit der Truppe auf die Probe stellten; die unangenehme Einzelausbildung hatte damit ihr ersehntes Ende gefunden, die Zeit verging rascher, und als auch die große Übung im Regimentsverband vor dem nahen Abbruch stand, begann er erleichtert aufzuatmen.

Er lief in der ausgebrochenen Schützenlinie seiner Kompagnie, die als Reserve zur Feuerunterstützung des Angriffs befohlen war, einen langgestreckten Hügel hinauf, während im Walde links davon zwei Bataillone in Linie bereitgestellt wurden. Am Rand der Höhe warf er sich hin und begann auf Kommando seine blinden Patronen zu verschießen. Vor ihm lag ein zweiter Hügel mit der markierten gegnerischen Stellung und einer schwarzen Zuschauermenge, von der sich in der klaren Morgenluft eine Gruppe höherer Offiziere und zwei Signalisten mit ihren manchmal aufblitzenden Instrumenten deutlich abhoben.

Paul wußte, daß sein Vater der Übung folgte und nachher das Defilieren abnehmen würde; er suchte ihn unter jenen Offizieren und erkannte ihn an seiner umfangreichen Gestalt und dem massigen Haupt mit der dreifach breit galonierten Mütze. Er zog das Gewehr an die Schulter und legte auf den Vater an. Es war eine unwillkürliche, halb spielerische, jedenfalls unbedachte Bewegung, und kaum hatte er Druckpunkt gefaßt, da schämte er sich, schoß anderswohin und lächelte verwundert über seinen eigenen Einfall. «Unsinn!» dachte er, während rechts und links von ihm die Schüsse knatterten und Verschlüsse riegelten. «Ich hasse ihn doch nicht? Er ist allerdings daran schuld, daß ich diese ganze Schweinerei da mitmachen mußte, aber er hat ja schließlich den Dienstzwang nicht selber eingeführt. Er ist überhaupt nichts aus sich selber, er ist nur eine Ausgeburt seiner abgestandenen Welt, über die er nicht hinaussieht, ein eingefleischter Schweizerbürger, den man besser abseits stehen läßt, da man ihn ja doch nicht ändern kann. Nein, ich hasse ihn nicht, er ist mir nur gleichgültig. Aber er sollte mich in Ruhe lassen, ich bin doch auch so anständig, nicht auf ihn zu schießen.»

Er lachte vor sich ins kurze Gras hinein, wälzte den Tornister, der ihm in den Nacken gerutscht war, seitlich auf die Erde und feuerte von Zeit zu Zeit einen Schuß ab, ohne das Gewehr auch nur anzuschlagen. «Vermutlich», dachte er ironisch grinsend, «würde ich ihn gar nicht getroffen haben. Unsereiner kann mit dem Schießprügel nichts anfangen, wir brauchen eine andere Waffe.»

Indessen hatte sich das Regiment da unten im Waldrand zum Angriff bereitgemacht und stürzte plötzlich unter Sturmsignalen mit Hurragebrüll auf das freie Gelände hinaus.

Die Reservekompagnie schoß ununterbrochen, bis die vordersten Linien die halbe Höhe des gegnerischen Hügels erreichten, dann stellte auch sie das Feuer ein und ging mit aufgepflanztem Bajonett ebenfalls auf den Hügel los; ehe sie aber den Hang erreichte, war oben die Stellung eingenommen, die Signalisten bliesen Gefechtsabbruch, die Bajonette wurden in die Scheiden gestoßen, der Feldweibel übernahm die Kompagnie, und die Offiziere gingen zur Kritik. Paul schob das Käppi auf den Hinterkopf, brannte sich eine Zigarette an und schlenderte, das Gewehr an der Laufmündung hinter sich herziehend, zum Sammelplatz, fest entschlossen, sich in Zukunft vor jedem Militärdienst rechtzeitig ins Ausland zu drücken.

Nachdem die Kompagnien auf freiem Felde eine Stunde geruht hatten, marschierten sie zur Sammlung des Bataillons und schließlich des Regiments auf die breite Landstraße, um vor dem Brigadekommandanten zu defilieren und den Rückmarsch nach Zürich anzutreten.

Oberst Ammann hatte statt eines regelrechten Defilierens in Paradeformation freilich nur den Taktschritt in Marschkolonne angeordnet. Er stand mit seinem Adjutanten und einem Generalstabsoffizier am Straßenrande bereit. Eine sichtbare Veränderung war mit ihm vorgegangen, seine Bewegungen waren knapper als im Zivilleben, sein leutselig offenes, breites Gesicht zeigte einen beherrschten Ausdruck, und die kräftig schimmernden Augen verrieten statt der gewohnten Heiterkeit einen zielbewußten Willen. Er hatte den zivilen Menschen, der zur Bequemlichkeit neigte und sich gehen ließ, entschlossen abgestreift und war Soldat geworden.

Der Regimentskommandant, Oberstleutnant Fenner, kam dahergetrabt und meldete seinem Vorgesetzten die anmarschierende Truppe, dann stieg er aus dem Sattel und stellte sich neben Ammann in die Wiese. Fenner, ein großer, hagerer Mann mit einem gebräunten, knochigen Gesicht von mürrischem Aussehen und einem ungestutzten, über die Mundwinkel herabhängenden Schnurrbart, stammte aus einfachen Verhältnissen und war wegen seiner trockenen Sachlichkeit und seiner Geringschätzung aller Äußerlichkeiten bekannt. In seiner persönlichen Ausrüstung befliß er sich der strengsten Ordonnanz und trug eine sogenannte Briefträgermütze. Er galt als tüchtiger Offizier, ausdauernder Bergsteiger und sicherer Schütze. Ammann schätzte ihn hoch, nicht nur weil er ein zuverlässiger Führer, sondern weil er ein Mann aus dem Volke war und sein demokratisch einfaches, gerades Wesen auch als Offizier nie verleugnet hatte. Fenner seinerseits hielt von den Führereigenschaften seines Vorgesetzten nicht besonders viel, doch er achtete ihn als ruhigen, verständigen Mann, der jeder besseren Meinung zugänglich war und sich nicht, wie gewisse Generalstäbler, auf theoretische Ansichten oder persönliche Marotten versteifte.

 

Die vereinigten Bataillonsspiele zogen vorüber, schwenkten nach links und machten Front zur Straße, der Stab des vordersten Bataillons ritt vorbei, und nun rückte zu den Klängen des Defiliermarsches die lange Kolonne heran, Kompagnie um Kompagnie im Taktschritt, das Gewehr geschultert, das Gesicht dem Inspektor zugewandt.

Oberst Ammann wußte, wo sein Sohn Paul eingeteilt war, er suchte ihn dort in der Kolonne und sah ihn auch. Er sah sein bräunlich bleiches, verschlossenes Gesicht kurz auftauchen und empfand dunkel die Genugtuung, daß dieser rebellische junge Herr nun wieder fest in Reih und Glied gefügt war; er ließ sich dadurch aber keinen Augenblick vom gehobenen Bewußtsein der Aufgabe, die er hier im Namen des Landes erfüllte, zu einem väterlichen Gefühl ablenken. Sein ganzes Wesen befand sich in einem gesteigerten Zustande. Wie jeder fühlende Mensch durch ein eindrückliches Erlebnis über sich selber hinaus gehoben werden oder außer sich geraten kann, so war auch Ammann nicht mehr ganz er selber. Er stand regungslos da und blickte mit einer vor Ernst und Sammlung finstern Miene in die vorüberzuckenden Reihen der ihm zugewandten Gesichter. Vor jeder Fahne aber riß er seinen schweren Körper in die strammste Stellung, legte die rundliche Rechte an den Käppirand und grüßte das Feldzeichen mit einem langen, unerschütterlich gläubigen Blicke.

9

Fred sattelte im Wintersemester auf Naturwissenschaft um, ohne es seinen Eltern vorerst zu gestehen. Er schlug zu Hause nur eine neue Taktik ein, er murrte gelegentlich über diese langweilige Juristerei und brachte es soweit, daß der Vater ihn fragte, zu was er denn eigentlich Lust habe. Eines Abends nun, als ihm besondere Umstände einen leichten Rückzug ermöglichten, platzte er bei Tische mit dem Geständnis heraus. An diesem Abend wurden Severin, Gaston Junod und ein Freund Pauls zum Quartettspiel erwartet. Frau Barbara besprach während des Nachtessens mit Paul noch einmal die Bewirtung der Gäste, und um acht Uhr mochte bis zur Ankunft des einen oder andern nicht mehr viel fehlen. Da sagte denn Fred mit seinem kindlich schlauen Lächeln, die erste Geige werde gewiß der Herr Dr. Severin spielen, ein Jurist könne sich doch wohl nicht mit der Bratsche zufriedengeben. «Übrigens, Papa», fügte er leichthin bei, «wegen dieser Rechtsgelehrsamkeit … ich habe jetzt naturwissenschaftliche Fächer besetzt, die interessieren mich mehr.»

Ammann, der bereits das Abendblatt entfaltet und einen Artikel zu lesen begonnen hatte, ließ die Zeitung sinken und blickte seinen Jüngsten scheinbar verständnislos an. «Ja …», begann er dann gedehnt und voller Bedenken, schob mit leicht gerunzelter Stirn die Zeitung beiseite und schickte sich bedächtig an, nähere Erklärungen entgegenzunehmen. «Du hast also … Naturwissenschaft …? Hm, wie stellst du dir das in Zukunft vor?»

Fred, dem eben diese Erklärungen peinlich und unnütz erschienen, erwiderte, ohne die Fragen richtig zu beantworten, mit verdrießlicher Miene: «Ach, es hat ja keinen Wert, sich mit etwas herumzuschlagen, das einem verleidet ist. Und Naturwissenschaft … ich meine, es sind erst Anfangsgründe, nicht wahr … aber es bleiben einem doch mehr Möglichkeiten offen … vorläufig hören ja noch alle dieselben Vorlesungen, Mediziner, Mathematiker, Landwirte, Apotheker, und ich weiß nicht wer noch …»

In diesem Augenblick ertönte die Klingel. «Da kommt schon einer!» rief Frau Barbara. «Das ist Severin, der kommt immer zuerst.»

«Hm», machte Ammann, während Fred sich mit betonter Gelassenheit erhob, «ich habe ja prinzipiell nichts dagegen, nur … ich finde, es ist schade um deine zwei Semester … ja, schließlich mußt du selber wissen, was du willst …»

«Jaja!» sagte Fred mit einer erledigenden Handbewegung, schlenderte zur Tür und stieg draußen weit ausholend mit verschmitzter Miene in sein Zimmer hinauf.

«Paul, sieh doch nach, ob es droben warm genug ist, ich will dann nicht schuld sein, wenn ihr frieren müßt», sagte die Mutter.

Während Paul in den Musiksalon hinaufging, die vier Pulte an die hohe Stehlampe herantrug und die Noten auflegte, begrüßte Frau Barbara ihren ältesten Sohn Severin, der seinen Bratschenkasten behutsam abstellte und den Mantel auszog. «Wie geht’s den Kindern?» fragte sie schon nach den ersten flüchtigen Worten.

«Ja …», begann Severin mit ernster Miene und bedachte sich einen Augenblick, um die denkbar genaueste Auskunft zu erteilen, indessen er sorgfältig den spärlichen Schnee vom Mantel schüttelte, den Mantel zusammengelegt dem Dienstmädchen übergab und mit beiden Händen seinen Rockkragen zurechtrückte, «… bis auf den Ueli geht es allen ordentlich. Der Ueli hat sich gestern etwas erkältet und hustet jetzt ziemlich stark. Heut abend hatte er nun ein wenig Fieber, 37,5 als ich wegging. Anna macht ihm Wickel, obwohl ich nicht überzeugt bin, daß dies unbedingt das Richtige ist. Übrigens ist Anna an der ganzen Geschichte selber schuld, sie packt ja die Kinder ein, als ob wir schon mitten im kältesten Winter wären, und will nicht begreifen, daß man sie allmählich an die Kälte gewöhnen muß … Guten Abend, Papa!»

Ammann, der sich mit Freds Geständnis beschäftigt und schließlich den Vorsatz gefaßt hatte, weitere Aufklärungen zu verlangen, saß mit der Zeitung noch am Tische. «’n Abend, Severin!» sagte er in dem gewohnten lauten Tone, in dem er alle Welt zu begrüßen pflegte, und blickte spöttisch wohlwollend zu seinem Ältesten auf.

Von allen drei Brüdern glich Severin dem Vater am meisten, er besaß den selbstgewissen Ausdruck seines Gesichtes, seine lebenskräftigen Augen, nur ohne den heitern Schimmer, eher mit einer gewissen Schärfe im Blick, und dieselbe klare, feste Stimme. Er war seit sieben Jahren mit einem unscheinbaren, braven Wesen verheiratet, hatte fünf mustergültig erzogene Kinder und erweckte den Eindruck eines sehr soliden, gutbürgerlichen Vierzigers, obwohl er erst dreißig Jahre alt war.

«Hast du den Artikel da über den sozialen Ausgleich gelesen?» fragte Ammann, nachdem Severin sich gesetzt hatte, und hielt ihm mit demselben spöttischen Blick, mit dem er ihn begrüßt hatte, die Zeitung hin.

«Jaja, das beginnt nachgerade langweilig zu werden», antwortete Severin mit einer wegwerfenden Handbewegung, doch sogleich setzte er sich zurecht und begann laut, lebhaft und klar diese Frage von seinem eigenen Standpunkt aus zu erörtern, wie Ammann es erwartet hatte. Er verfocht in sozialpolitischen Dingen mit einem gewissen Ehrgeiz sehr oft seinen eigenen Standpunkt, der sich mit dem der Partei nicht immer deckte, aber die ältern Herren waren noch liberal genug, auch seine Meinung gelten zu lassen. Er hatte zur Genugtuung dieser ältern Garde, die sich um den politischen Nachwuchs einige Sorgen machte, bald nach seinem glänzenden juristischen Staatsexamen die liberale Jugend zu organisieren versucht und war dann später zum Redaktor der jüngsten publizistischen Gründung gewählt worden, des «Ostschweizers», der die besonderen lokalen und ostschweizerischen Interessen mit mehr sozialpolitischem Verständnis vertreten sollte, als es den Hauptorganen der eidgenössischen Partei möglich war oder gut schien. Er befand sich damit in einer allgemein geachteten, nicht sehr einflußreichen, aber anständig bezahlten Stellung.

«Hört doch auf!» rief Frau Barbara in heitrer Verzweiflung, als Severin fertig war und Ammann zur Entgegnung ansetzte. «Kaum haben sie einander gesehen, da fangen sie schon zu politisieren an! Ich finde, du kommst so selten hierher, Severin, daß man wahrhaftig über etwas Vernünftigeres reden könnte, wenn du schon einmal da bist. Und wollt ihr jetzt nicht wieder regelmäßig Quartett spielen wie früher? Oder Quintett? Gertrud käme gewiß auch gern!»

Ammann fügte sich lächelnd und brach seine Erwiderung mit einem scherzhaften «Und so weiter» ab, während Severin die neue Frage sogleich ernsthaft aufgriff. «Ja, Mama, ich bin sehr einverstanden! Es hat überhaupt keinen Sinn, nur dann und wann zu spielen, dabei kommt nichts heraus. Ich bin immer dafür eingetreten, daß man regelmäßig spielt. Aber man muß sich eben auf die Leute verlassen können. Ich weiß ja nicht, was mit Paul nun los ist, ob er dableibt oder … was tut er denn überhaupt jetzt?»

Ammann hob ein wenig die Schultern und machte mit der Rechten eine unbestimmte Bewegung.

«Weißt du, Papa», fuhr Severin fort, «ich muß schon sagen … ich an deiner Stelle würde mir das nicht gefallen lassen. Paul hat jetzt über ein Jahr lang gebummelt, und er wird bestimmt weiterbummeln, wenn man ihn nicht in den Senkel stellt …»

«Bitte, Severin, Papa hat sich alle Mühe gegeben, Paul eine Stelle zu verschaffen», warf die Mutter ein, während Ammann selber mit einem Anflug von Ärger die Zeitung zusammenfaltete.

«Jaja!» sagte Severin leichthin, als ob er diese Bemühung nicht ernst nähme, stand lässig auf und legte dem Vater, während er langsam dicht an ihm vorbeiging, mit einer nachsichtigen Gebärde die Rechte auf die Schulter. «Wir kennen ja unsern Papa. Er hat immer ein gutes Herz gehabt, auch wenn es nicht nötig gewesen wäre …»

Ammann lachte kurz auf und musterte seinen gestrengen Herrn Sohn, der mit einem Blick auf die Uhr zu einem Fenster hinschlenderte, nun wieder so spöttisch belustigt, daß auch Frau Barbara zu lächeln begann.

«Man hat nicht nötig, sein gutes Herz zu verleugnen, wenn man solche Mustersöhne besitzt, nicht wahr», sagte Ammann mit aller Ironie. «Übrigens …» fügte er ernsthaft bei, «ich habe daran gedacht, ob man Paul nicht auf der Redaktion beschäftigen könnte. Du hast ja schon einmal davon gesprochen, einen Volontär einzustellen …»

«Bitte!» antwortete Severin mit einer einladenden Handbewegung auf den Vater, der Mitglied der Redaktionskommission war. «In erster Linie hat ja der hohe Rat zu entscheiden, wenn es sich um einen bezahlten Volontär handeln soll. In zweiter Linie wird das von Pauls Einverständnis abhängen. Ich meinerseits bin sehr einverstanden. Wir könnten nicht nur einen Volontär, sondern einen dritten Redaktor brauchen. Ich würde Paul sofort das Feuilleton abtreten, außerdem müßte er freilich in allen Ressorts mitarbeiten, besonders im Lokalen …»

«Jetzt kommt wieder einer!» rief Frau Barbara.

«Ich will einmal mit Paul darüber reden», sagte Ammann. «Das wäre gar keine so üble Lösung … Übrigens, das weißt du auch noch nicht: Fred hat umgesattelt. Auf Naturwissenschaft!»

«Soo …? Ach Gott, es weiß ja keiner mehr, was er will. Ich war allerdings nie überzeugt, daß aus Fred ein Jurist werden könnte … aber Naturwissenschaft! Hm! Wundert mich nur, wer ihm das in den Kopf gesetzt hat … Ja, da kommen beide miteinander, glaub’ ich … Zeit wär’s … ich will machen, daß wir anfangen können … Adieu, Papa! Vielleicht sehen wir uns nachher noch.»

«Gaston!» rief Ammann laut und fröhlich, streckte mit einer willkommen heißenden Gebärde den rechten Arm aus und erhob sich, um seinen Schwager Professor Gaston Junod zu begrüßen, der, noch halbwegs in die Begrüßung der Hausfrau verstrickt, mit kleinen Schritten unter die Türe trat und nicht genau wußte, wohin er sich mit seinem Cello wenden sollte.

Indessen stand draußen, bescheiden abwartend, ein schlanker junger Mann mit sympathischen Augen, dunklen, klugen Augen in auffallend schattigem Grunde, Albin Pfister, Pauls Freund. Als die Reihe an ihn kam, begrüßte er mit einiger Schüchternheit Frau Barbara und den Hausherrn, die ihn ihrerseits freundlich willkommen hießen. Gleich darauf blickte er mit einem offenen, freudigen Lächeln, das seine gesunde weiße Zahnreihe entblößte, Paul entgegen, der ihn rasch unter dem Arm faßte und die Treppe hinaufführte.

Fred kam aus seinem Zimmer in den Musiksalon herüber und begrüßte die Gäste. «Darf man zuhören?» fragte er.

«Bitte, wenn es dir Spaß macht!» antwortete Severin.

Fred setzte sich abseits in den bequemsten Stuhl, streckte seine langen Beine aus und verfolgte schmunzelnd die Vorbereitungen zum Quartettspiel, die in ihrer ernsthaften Umständlichkeit ihn immer belustigt und zugleich erwartungsvoll gestimmt hatten. Er verstand nichts von Musik, was er gelegentlich betonte, aber er konnte zwei Stunden lang hingegeben und mausestill zuhören. Er vernahm jetzt, daß die Spieler mit dem Quartett opus 64 Nr. 5 von Haydn beginnen wollten und freute sich darauf. Lächelnd sah er zu, wie sie die Instrumente stimmten. Paul gab den Ton an und Severin strich ein paarmal energisch über die Bratsche, während Junod, die Linke an der Schnecke seines Cellos, den Kopf mit dem gepflegten weißen Spitzbart horchend ein wenig zur Seite geneigt, die Brauen mit gespanntem Ausdruck hochgezogen, leise den Bogen über die Saiten führte. Albin Pfister wurde mit seiner Geige zuletzt fertig und schien sich dann etwas rasch zufrieden zu geben, aber Severin, der ihm aufmerksam zuhörte, sagte mit nachsichtiger Milde: «Das E ist zu tief.» Endlich waren sie bereit.

 

Die zweite Geige und die Bratsche setzten piano mit den Achteln des einfachen Begleitmotivs ein, und das Cello antwortete, aber schon nach den ersten drei Takten unterbrach Severin das Spiel, das gewiß von selber in den rechten Fluß gekommen wäre, mit der lauten Bemerkung: «Ja, aber wir wollen das doch miteinander machen … noch einmal, bitte!» Sie fingen zum zweitenmal an, und als die erste Geige einsetzen sollte, gab Severin mit dem Kopf ein Zeichen, was offenbar ganz unnötig war und Paul nur ärgerte. Trotzdem setzte Paul rechtzeitig ein und ließ noch warm beseelt das Thema mit dem innigen Aufschwung erklingen. Aber gleich darauf rief Severin laut «piano, piano», und schon bei den ersten Triolen unterbrach er das Spiel abermals: «Paul, du drängst fürchterlich. Es ist doch ein moderato, nicht wahr … ja, wollen wir nicht lieber noch einmal von Anfang an …?»

Fred runzelte die Stirn und dachte, während sie noch einmal anfingen: «Severin ist ekelhaft!»

Indessen kam das Spiel etwas in Fluß, und Severin unterbrach es nicht mehr, doch immer wieder verlangte er mit dringlicher Stimme ein piano, ein crescendo, bis plötzlich Paul noch mitten im ersten Satz nun seinerseits aufhörte und gereizt erwiderte: «So spiel doch du die erste Geige!» Severin antwortete sachlich, ohne sich im geringsten aufzuregen: «Ich bin sehr einverstanden, daß du die Führung übernimmst, aber du hast bis jetzt noch kein Wort zu äußern geruht, nicht wahr, und einer muß es halt schließlich tun. Ja, also was wollen wir jetzt … wir können ja meinetwegen bei E weiterfahren … übrigens, bitte, Paul!»

Sie fuhren bei E weiter, führten den Satz zu Ende und begannen gleich mit dem Adagio cantabile, aber sie hatten die innere Fühlung miteinander verloren, das Adagio erblühte nicht, und vor dem Menuett hielt Severin wieder einen Vortrag über das Tempo, in dem es gespielt werden sollte.

Fred erhob sich laut gähnend und schlenderte mit langen, dröhnenden Schritten hinaus.

10

Paul trat vor den Spiegel und kämmte sich das lange wellige Haar über den Kopf zurück, in unbestimmten Gedanken an Papas neuen Vorschlag, der ihn dauernd beschäftigte. «Ich bin ja beinah einverstanden, wenn ich ganz ehrlich sein will», dachte er, legte den Kamm beiseite und schaute fragend sein Spiegelbild an, zuerst noch, ohne es recht zu gewahren, dann genau und neugierig forschend. Das Gesicht gefiel ihm; es war länglich, doch nicht zu schmal, und hatte ein kräftig entwickeltes Kinn, wurde aber ganz von der Stirne beherrscht, der ausgeprägten, wohlgeformten Stirne des vorwiegend intellektuellen, um nicht zu sagen geistigen Menschen, während der weiche, volle Mund und die etwas tiefliegenden Augen den skeptisch müden Ausdruck besaßen, den er auch in seiner Haltung ein wenig hervorkehrte. «Bist du ein Journalist? Sieht ein Journalist so aus?» fragte er und begann sich über diese offenbar eitle Bespiegelung sogleich selber lustig zu machen, indem er an der Nasenwurzel die Haut runzelte, die Augen zukniff und bleckend die gepflegten Zähne entblößte: es war das lautlose, sarkastisch heitere Grinsen, mit dem er so manches zu verlachen pflegte.

«Na ja … ich werde mich aber doch nur mit dem Feuilleton beschäftigen, vielleicht läßt sich da etwas machen», dachte er, verlor das Gesicht wieder aus den Augen und trat weg. Er ging aus, ohne Hut und Schirm, nur im Regenmantel, obwohl ein feuchtes Geflock, halb Regen, halb Schnee, schräg zwischen den Häuserfronten herabglitt; auf der Rathausbrücke querte er die Limmat und stieg in die engen Gassen der Altstadt hinauf, wo Albin Pfister mit seiner Mutter den Dachstock eines schmutziggrauen Hauses bewohnte.

In Albins Zimmer, einem niedern Raum mit offenen Bücherregalen, warf sich Paul in einen alten Lehnstuhl und hatte nichts dagegen, daß Albin die schon benutzte Kaffeemaschine noch einmal in Betrieb setzte. Auf die Frage nach seinem Befinden antwortete er achselzuckend, mit einem trüben Lächeln: «Hm … ich wollte, ich wäre in München geblieben. Aber als folgsamer Sohn bin ich heimgekehrt, nicht wahr … und jetzt bin ich lackiert, wie das vorauszusehen war. Erst steckt mich der Herr Oberst unter die Soldaten, und nun kommt selbstverständlich der Beruf dran, für den uns der liebe Gott erschaffen haben soll …»

«Höre, Paul, du solltest doch etwas veröffentlichen … auf mich hin, du darfst es wagen! Und wenn’s noch kein Meisterwerk ist, so wird es doch eine sehr, sehr achtbare Legitimation sein, nicht nur den Eltern gegenüber.»

Paul winkte ab und schwieg ein paar Sekunden mit einem bittern Ausdruck. «Was meinst du», fragte er dann zögernd, «wieviele dichten, bevor sie in einem bürgerlichen Berufe landen? Es gibt tausende allein im deutschen Sprachgebiet … und es gibt tausende von unveröffentlichten Manuskripten, an denen die Verfasser mit Herz und Seele hangen, obwohl niemals ein Hahn danach krähen wird. Es ist vermutlich schlimm für mich, daß mich das bedenklich stimmt …»

Albin schüttelte erheitert den Kopf. «Du hast das gefährliche Alter längst hinter dir. Du bist doch kein Gymnasiast mehr … Ich habe dieselben Zweifel durchgemacht und habe mich bis jetzt der öffentlichen Fron doch nicht unterworfen, obwohl bekanntlich auch noch kein Hahn nach mir kräht. Aber ich werde nicht unterkriechen.»

«Du hast gut reden, dir sitzt keiner auf dem Nacken, du bist unabhängig und kannst tun, was du willst, aber ich …» Er stockte und spürte beschämt, daß er gerade dies nicht hätte sagen dürfen.

Albin schwieg, mit einer kaum merklichen Vertiefung des traurig-heitern Ausdrucks, der seine ehrlichen Augen umlagerte. Er hatte nicht gut reden, ihm saß mehr auf dem Nacken als dem empfindsamen und übersättigten Sohne wohlhabender Eltern.

Albin Pfister tat das Hoffnungsloseste, was man in dieser nüchtern betriebsamen Welt tun konnte, um den allgemeinen Kampf ums Dasein mit Ehren zu bestehen, er beschränkte sich auf sein inneres Leben, und er dichtete. Er war überzeugt, daß ihm nichts anderes übrig blieb, er hatte sich nicht nur zu einem der üblichen Berufe untauglich erwiesen, er hatte schon unter der Notwendigkeit, nebenbei ein wenig Geld zu verdienen, auf eine scheinbar ganz unangemessene, fast krankhafte Art gelitten. Seit dem Tode seines Vaters, eines bescheidenen Antiquars, lebte er, die verständnislose und dennoch verehrte Mutter als beständigen Vorwurf neben sich, in diesem Dachstock, verzichtete auf Theater, Konzert und Kaffeehausbesuch, sparte sich die Zigaretten vom Munde und tat, was er mußte. Eine fragwürdige Haltung in den Augen der Welt, da kein sichtbarer Erfolg sie öffentlich rechtfertigte! Albin Pfister hatte mit einem schmalen ersten Gedichtband und ein paar Legenden, die in einer Zeitschrift erschienen waren, zu einem solchen Erfolg noch wenig Anlaß gegeben. Er vermied nach außen hin denn auch jede Andeutung seiner besonderen Lage. Von sich und seiner Arbeit sprach er kaum je aus eigenem Antrieb, und jenen sonst achtbaren Leuten, die ihn wohlwollend nach seinem Heimlichsten zu fragen pflegten, wich er entschlossen aus. Ein solcher Mensch hat nicht gut reden.

«Entschuldige, ich schwatze Kohl …» fuhr Paul leise fort und legte sich gequält die Rechte auf die Stirn. «Ich sollte es ja wissen … du hast’s viel schwerer …»