Schweizerspiegel

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Albin winkte unwillig ab.

«Na ja … übrigens, um offen und ehrlich zu sein … was nun mich betrifft … ich habe jetzt das fatale Gefühl, daß ich im Begriffe bin, zu kapitulieren. Ich will jetzt … bitte, halte dich an der Stuhllehne …» Er wandte den Kopf ein wenig beiseite und deckte mit der Hand ironisch beschämt die Augen. «… ich will jetzt Journalist werden.»

Albin erhob sich und begann auf und ab zu gehen. «Du erwartest also, daß ich dir Besinnung predige?» fragte er lächelnd. «Ich fühle mich nicht berufen. Schließlich ist jeder zu seinem eigenen Umweg verdammt. Außerdem kommt es bekanntlich auf das Wie an, nicht auf das Was. Nur, wenn es sein muß … vielleicht daß man als Lehrer noch am anständigsten durchkäme …»

«Jaja, über den Journalismus sind wir einig, nicht wahr … aber ich werde nicht darin untertauchen, ich möchte ihn nur ein wenig beriechen. Höre, Albin! Ich könnte am ‹Ostschweizer› das Feuilleton übernehmen …» Und nun begann er dem Freunde eifrig seinen Plan zu entwickeln, einen Plan voll guter Einfälle und lobenswerter Absichten, der nur den einzigen kleinen Fehler hatte, daß er nicht der Redaktionspraxis, sondern dem Kopf eines hochzielenden jungen Mannes entsprang.

Albin hörte mit erzwungener Teilnahme zu, enttäuscht und heimlich bedrückt von diesem Eifer seines Freundes für eine Angelegenheit, über die sie noch gestern einträchtig die Achsel gezuckt hätten. Er sagte am Ende wenig dazu, und nachdem Paul ihn verlassen hatte, suchte er sich einzureden, daß dies alles an ihrem gegenseitigen Verhältnis nichts zu ändern vermöge. Aber die Enttäuschung verließ ihn nicht, und ein anderes, unangenehmes Gefühl gesellte sich rasch hinzu, eine leise Angst, die er bisher nicht wirklich gekannt hatte, die Angst des im Nebel kletternden Bergsteigers, der seinen Kameraden plötzlich eigenwillig einen neuen, ihm nicht erreichbaren Pfad einschlagen sieht.

11

Eine Woche später saß Paul als Redaktionsvolontär an seinem Arbeitstisch.

Der «Ostschweizer» erschien einmal täglich, kurz vor Mittag, im Umfang von sechs bis acht Seiten. Als verantwortliche Redaktoren zeichneten Dr. Severin Ammann und Erwin Schmid. Das Blatt stand unter der Aufsicht einer Redaktionskommission, die gelegentlich einen Leitartikel schickte. In einem Seitengäßchen des Limmatquais befand sich die mit der Herausgabe betraute Druckerei und Verlagsanstalt; der Redaktion hatte man im zweiten Stock desselben Hauses zwei Zimmer mit dem Blick auf die Limmat eingeräumt.

Severin war klug genug, die journalistische Erziehung des Bruders für den Anfang seinem Kollegen zu überlassen, und unter Schmids Augen hatte Paul in einem raucherfüllten, mit Zeitungen, Büchern und Broschüren unordentlich vollgestopften ehemaligen Wohnzimmer seine Tätigkeit denn auch aufgenommen. Mit Vergnügen bemerkte er das scheinbar planlose Durcheinander auf Schmids Arbeitstisch, und schon in den ersten Tagen, während er sich über diese Hilfsmittel des Geistes noch sarkastisch wunderte, bedrängten sich auch auf seinem Tische Leimtopf, Schere, Tintenfaß, Aschenbecher, Schreibpapier und Manuskripte; außerdem lagen unaufgeschnittene Broschüren da, die vielleicht auch er nicht aufschneiden würde, Stöße gelesener Zeitungen, die von Severin über Schmid zu ihm gelangt waren, und Bücher, Besprechungsexemplare, die zu lesen bis jetzt noch niemand Zeit gefunden hatte.

Von Anfang an wurden ihm die Einsendungen für das Feuilleton vorgelegt, in der Mehrzahl dilettantische Bemühungen, deren Wert nur ausnahmsweise dem geringen Honorar entsprach, das die Zeitung dafür bezahlen konnte; er las sie grinsend durch und mußte auf Schmids freundlich heitere Einsprache hin doch dies und jenes in den Setzraum befördern, weil es von einem Mitarbeiter stammte, den man nicht vor den Kopf stoßen durfte. Schmid und Severin warfen manchmal Ausschnitte aus andern Zeitungen vor ihn hin, mit der Aufforderung, sie für das Feuilleton entweder zu kürzen oder «etwas daraus zu machen», und es stand ihm nicht an, das zu verweigern. Zu seinem Mißvergnügen hatte Schmid auch den neuen Roman schon gewählt, der die laufende Kriminalgeschichte ablösen sollte; er stammte aus der Feder eines ausländischen Vielschreibers und kostete als Zweitdruck fünfzig Franken. Es zeigte sich, daß man für das Feuilleton kein Geld übrig hatte, und Pauls schöner Plan blieb vorläufig dort, wo er entstanden war.

Trotzdem ließ sich Paul noch nicht entmutigen, er schrieb kluge und witzige kleine Betrachtungen über literarische Gegenstände, die seiner Meinung nach brennend aktuell waren, und berichtete gewandt über Theateraufführungen und Konzerte. Dies vermochte ihn aber nach Severins Meinung nicht ernstlich genug zu beschäftigen, und bald wurden aus dem täglichen Zustrom von Nachrichten die unpolitischen seiner Hand anvertraut. Er hatte sie so rasch wie möglich auf ihre sprachliche Richtigkeit hin zu prüfen, allenfalls zu kürzen, gewisse Worte hervorzuheben und die Papierstreifen, auf die eine sparsame Agentur sie zusammengedrängt hatte, zerschnitten und mit Überschriften versehen dem Setzer zu übermitteln. Dabei erlebte er, daß Erwin Schmid seine sachlichen, oft wohl auch umständlichen Titel nachträglich durch auffälligere oder knappere ersetzte und ihm auf diese angenehme Art eine wichtige Lehre erteilte.

Zwischen Paul und Schmid entwickelte sich ein oberflächlich freundschaftliches Verhältnis, das seinen besonderen Grund in ihrer gemeinsamen Abneigung gegen Severin hatte. «Lesen Sie seine Thronrede!» sagte Schmid, als sie am Silvesternachmittag, die fertige Neujahrsnummer vor sich, noch eine müßige Viertelstunde auf der Redaktion verbrachten. «Da zeigt er sich von einer besondern Seite. Sehr lesenswert!»

Paul nahm die Nummer zur Hand und begann Severins Neujahrsbetrachtung zu lesen. Der vier Spalten lange Artikel trug als Überschrift die neue Jahreszahl: 1914. «Warum sollten wir vor der Zukunft bangen?» fragte Severin im ersten Absatz. «Es liegt in unserer Hand, dem Staatsschiff seinen festen Kurs aufzuzwingen und damit den Schleier zu zerreißen, der unser Heute vom Morgen trennt. Mit der bei uns beliebten Schlafkappenpolitik kann dies allerdings nicht geschehen, so wenig wie wir damit der Drosselung des wirtschaftlichen Lebens begegnen konnten, die infolge der gespannten internationalen Lage unser Land so sehr in Mitleidenschaft gezogen hat. Indessen wollen wir nicht verhehlen, daß mit der von uns schon längst verlangten eidgenössischen Verwaltungsreform bereits ein starker Schritt in die Zukunft getan wird. Wir werden endlich ein politisches Departement mit einem ständigen Vorsteher haben und dadurch in die Lage versetzt sein, der Welt gegenüber kontinuierlich und mit ganz anderm Gewicht, als es bisher möglich war, aufzutreten. Nennen wir den Mann noch einmal, dem wir das Steuer in die Hand zu geben wünschen: es ist Bundesrat Hoffmann. Mit scharfem Geist und starkem Willen wird er für die Stellung kämpfen, die die älteste Demokratie der Welt zum mindesten in Europa einzunehmen berechtigt ist.»

Nach einer einläßlichen Betrachtung der außenpolitischen Lage fuhr Severin fort: «… diese blutigen Wirren auf dem Balkan und die damit verbundene politische Kraftprobe der zwei großen europäischen Interessentengruppen haben das Gespenst eines gewaltigen Krieges heraufbeschworen. Der Dreibund hat erreicht, was er erreichen wollte, während die Tripelentente eine empfindliche Niederlage erlitt. Die unmittelbare Folge davon war jene gegenseitige großartige Steigerung der Rüstungen, die der Sozialdemokratie so sehr auf die Nerven geht. Die Großmächte stehen heute bis an die Zähne bewaffnet da; ihre Rüstungsausgaben haben horrende Summen erreicht, die man sich vor wenigen Jahren noch nicht einmal träumen ließ. Das ist für alle Zaghaften und Unentschiedenen ein ungemütlicher Zustand. Die Stellung, die man vielfach auch bei uns dieser Lage gegenüber einnimmt, mag der ehrlichen Sorge um unser Land entspringen, das geben wir gern zu. Und wenn in unserm eigenen Lager, in unsern Parteiorganen, im Tone der Verurteilung, ja des Abscheus davon gesprochen wird, so mag auch dies seinen menschlichen Grund haben. Wir alle wollen ja den Frieden. Aber Gott behüte uns vor einem schlaffen und schläfrigen Frieden. Die Spannung, in der sich die Völker jetzt befinden, ist ein Lebenselement, das dem Aufstieg nur förderlich sein kann. Das eine Beispiel, Deutschlands Macht und Größe, sollte uns doch die Augen öffnen. Eine ungeheuer straffe Organisation und Konzentration hat das deutsche Volk zu einer Kraftentfaltung ohnegleichen geführt. Und wenn es zum Krieg kommen sollte, was wir nicht glauben, – sind nicht Völker durch Kriege groß geworden? Vergessen wir doch die Geschichte nicht! Wir bedauern das Unglück auch, das ein Krieg im Gefolge haben kann, aber wir sind nicht sentimental genug, um gegen notwendige Entscheidungen zu protestieren …»

Paul warf die Zeitung grinsend auf den Tisch.

«Gelesen?» fragte Schmid.

«Ja … merkwürdig! Seit wann gibt es denn solche Demokraten? Die ältern Herren sind doch so friedlich gesinnt! Hm … jaja, die deutsche Zucht … Nur schade, daß Severin nicht unter einem preußischen Feldweibel Dienst machen darf …»

«Ja, wie ist das, macht er überhaupt Dienst?» fragte Schmid. «Ich hab’ ihn noch nie in Uniform gesehen … er muß doch mindestens Hauptmann sein?»

«Nein, er hat einen zu dicken Hals, Struma … man sieht’s ihm kaum an, aber … er ist untauglich.»

Erwin Schmid war ein dreißigjähriger Mann von mittlerer Größe, mit leicht gewelltem, vollem Haar, das er manchmal gewohnheitsmäßig und etwas nervös nach hinten strich, mit einem blassen, wachen Gesicht und mit magern Händen, die an den Spitzen des Zeige- und des Mittelfingers die jodfarbenen Spuren ungezählter Zigarettenreste trugen, das einzig Unsaubere am ganzen Mann. Seine Stimme schien immer leicht belegt, auf jeden Fall war sie klanglos, dazu sprach er hastig, leise, und oft durch einen kurzen Anfall von Heiserkeit oder Husten behindert, was ihn nicht abhielt, weiterzurauchen. Er war einer jener Journalisten, die über eine Theateraufführung ebenso flüssig zu schreiben wissen wie über eine neue Maschine oder einen Gesetzentwurf, nicht weil sie mehr davon verstehen als andere Sterbliche, sondern weil sie eine Schreibgewandtheit besitzen, die keiner menschlichen oder sachlichen Voraussetzungen mehr zu bedürfen scheint.

 

Severin hielt von seinem Kollegen nicht viel mehr als ein Baumeister von einem geschickten, etwas flatterhaften Hand-langer. Schmid seinerseits hielt Severins Art für laienhaft, trocken und langweilig, er war überzeugt, daß kein Mensch das Blatt lesen würde ohne den interessanten und schmissigen Zug, den er ihm täglich zu verleihen bestrebt war.

Nach Neujahr begann Severin sich mit der Erziehung seines Bruders ernstlicher zu befassen. Eines Nachmittags kam er mit dem feuchten Abzug einer für die folgende Nummer bereits gesetzten Seite aus seinem Büro herüber. Er kam aus einer saubern, musterhaft geordneten Schreibstube, in der alles seinen genau bestimmten Platz hatte, und wich unter der Tür wie gewöhnlich vor dem Rauch, der Schmids Bude erfüllte, ein wenig zurück. «Puh!» machte er angewidert. «Es ist mir unbegreiflich, wie man hier atmen kann … Paul, deine Buchbesprechung da können wir in dieser Form nicht bringen. Der Roman mag ja schlecht sein, aber … der Verfasser ist ein sehr eifriges Parteimitglied. Wir müssen Rücksicht nehmen … Jaja, du kannst nun lachen», fuhr er im selben ruhigen und festen Tone fort, als Paul höhnisch mitleidig vor sich hin zu lachen begann, «aber du bist im Irrtum, mein Lieber! Die Arbeit dieses Mannes für unsere Sache ist wichtiger als seine Schriftstellerei. Ich verlange nicht, daß du dein Urteil änderst, aber ich muß eine andere Besprechung bringen. Ferner, weil wir bei diesem Thema sind … der Inseratenchef hat reklamiert, die Kinos geben keine Inserate mehr auf, wenn wir jeden Film herunterreißen …»

Jetzt fuhr Paul auf. «Bitte, sieh dir diesen Kitsch doch selber an!» rief er ärgerlich.

«Zugegeben, jedoch … wir sind leider auf die Einnahmen aus dem Inseratenteil angewiesen … sehr bedauerlich! Aber man kann etwas verurteilen, ohne in deinen Ton zu fallen. Herr Schmid, sorgen Sie doch bitte dafür, daß wir künftig …»

Schmid, die rauchende Zigarette in der erhobenen Linken, drehte sich auf seinem Stuhl halbwegs herum, ohne den Stift vom Blatt zu nehmen, das er korrigierte, nickte hastig, mit einem leisen Lächeln, und wandte sich sofort wieder seiner Arbeit zu.

«Und dann möchte ich wirklich, daß im lokalen Teil etwas mehr geschähe», fuhr Severin fort. «Wir haben ja schon darüber gesprochen, nicht wahr … Wir sollten unbedingt in jedem Stadtteil einen zuverlässigen Gewährsmann haben …»

Schmid legte den Stift weg, drehte sich auf dem Stuhl herum und nahm eine sehr nachlässige Haltung an, hörte aber ernsthaft zu; die Beine weit auseinandergestellt, die Ellbogen auf den Knien, saß er vornübergebeugt da, blickte bald seine Zigarette, bald von unten her Severin an und blies sich immer wieder nachdenklich den Rauch unter die Nase. Paul saß auf der Stuhlkante, den Rücken tief angelehnt, die Beine ausgestreckt, eine spielerisch bewegte Zigarette zwischen den Lippen, durch deren gekräuseltes Rauchsäulchen er den Bruder kühl anblinzelte.

Severin stand in dem grauen Leinenkittel, den er zur Arbeit trug, aufrecht zwischen ihnen und ließ sich durch ihren Mangel an Haltung, der ihm ebenso mißfiel wie der zunehmende Rauch und die herrschende Unordnung, in seinen klaren und bestimmten Ausführungen nicht beirren. «Wenn in der Stadt irgendwas passiert, soll sich Paul gelegentlich auch selber hinbemühen, das kann ihm gar nichts schaden», fuhr er fort, während er die strengblickenden, klugen, dunklen Augen abwechselnd auf Schmid und seinen Bruder richtete.

Schmid stimmte dann und wann zu, indem er schweigend nickte oder ein bereitwilliges «Jaja», ein «Kann man machen», ein «Warum nicht» hören ließ, als ob es sich um das denkbar Einfachste handelte.

Nachdem Severin mit einem kräftigen, die Angelegenheit endgültig beschließenden «Schön!» sich ohne einen Schimmer von Freundlichkeit zurückgezogen hatte, verharrten die beiden regungslos in derselben Haltung und blickten sich mit nachdenklich heiterer Miene belustigt an.

In der Folge wurde im lokalen Teil etwas mehr geleistet, aber Paul versagte als Reporter. Eines Tages zum Beispiel brachte das Blatt eine ausführliche Polizeinachricht vom Einbruch in ein Kleidergeschäft.

«Darüber müssen wir morgen noch etwas bringen», sagte Schmid. «Bitte, gehen Sie doch rasch hin, und dann machen Sie ein hübsches kleines Artikelchen!»

Paul ging hin, kaufte sich anstandshalber eine Krawatte, stellte seine Fragen und sah sich um, dann kam er mit dem Bescheid zurück, daß die Polizeinachricht schon alles enthalten habe, was geschehen sei.

«Macht nichts, schreiben Sie etwas!» sagte Schmid.

Paul grinste lautlos, doch er war schon erfahren genug, um zu wissen, daß man mit der Feder aus nichts etwas machen kann, und so versuchte er es denn.

«Haben Sie’s?» fragte Schmid nach einer halben Stunde.

Aber Paul, der sein mühsam aus den Fingern gesogenes Aufsätzchen eben noch einmal durchlesen hatte, zerknitterte die Blätter entschlossen und warf sie in den Papierkorb. «Ach, es ist Mist!» sagte er ärgerlich.

«Nein, nein, halt, zeigen Sie her!» rief Schmid belustigt, nahm den Knäuel wieder heraus, glättete die Blätter und las sie. «Ja, das ist zu umständlich», sagte er lächelnd. «Die reinste Moralphilosophie! Hm … schadet nichts!» Er stellte noch ein paar Fragen und erklärte dann freundlich, während er bereits zu schreiben begann: «Schön, ich will’s machen.»

Abends las dann Paul im Abzug der ersten Seite erstaunt eine ausführliche Schilderung des Einbruchs, die neben nähern Angaben über die Örtlichkeit das schon Bekannte mit so gewandten neuen Wendungen wiederholte, daß man auch tatsächlich etwas Neues zu lesen glaubte.

So schritt seine journalistische Erziehung munter fort, und er unterzog sich ihr, schwankend zwischen der Hoffnung, schließlich doch seinen eigenen Plan durchsetzen zu können, und der Versuchung, die Feder hohnlächelnd hinzuwerfen.

12

Gertrud Hartmann stand mit ärgerlicher Miene am Telefon. «Aber Mama, ich hab’ dir doch gesagt …»

«Und wir machen es jetzt so!» erklärte Frau Barbara mit aller Entschiedenheit. «Severin und Gaston bringen zum Nachtessen ihre Frauen mit, und du kommst mit deinem Mann, nachher könnt ihr musizieren, und wer dann gehen will, kann wieder gehen … übermorgen!»

«Aber Mama, wenn du doch nicht die ganze Gesellschaft zusammenbringst, seh’ ich gar nicht ein …»

«Wir haben eine Woche lang darüber gestritten, nicht wahr, und jetzt finden wir halt, daß es so am besten geht. Wirf mir nicht wieder alles über den Haufen, sonst könnt ihr meinetwegen …»

«Hör’ Mama, ich komme rasch hinüber … auf Wiedersehen!» Gertrud hing den Hörer entschlossen an, sah nach den Kindern, die auf der Terrasse an der Sonne schliefen, gab dem Mädchen ihre Anweisungen und machte sich auf den Weg.

Es war Mitte März, vor zwei Tagen hatte es noch geschneit, in den Gärten ruhte unverändert die harte Wintererde, und die Bäume waren kahl wie im Januar; dennoch lag jetzt ein warmer, klarer Frühlingstag über der Stadt, der Schnee war geschmolzen, der leicht erregte See schimmerte bläulich grün, und dahinter in der südlichen Ferne erschien unter dem blauen Himmel die fleckenlos weiße Kette der tiefverschneiten Alpen. «Föhn!» dachte Gertrud, als sie über die Quaibrücke schritt, verzögerte den Gang ein wenig und schaute nach den Bergen; dabei stieß sie fast mit einem Bummler zusammen und schlug sofort wieder ihre gewohnte Gangart an.

Sie wanderte mit ihren ausgiebigen, freien, leicht federnden Schritten weiter dem See entlang. Dieses bloße Schreiten war ihr eine Lust, und der schöne Tag, der den trüben Winter zwar nach allen Erfahrungen nicht beendete, aber endlich den Frühling sichtbar verhieß, machte sie heiter. «Wenn es doch immer so wäre!» dachte sie aufatmend. «Wenn man doch immer so frei und ledig wandern könnte, fort von allem, in die schöne Welt hinaus!» Aber sogleich fielen ihr die Kinder ein, die daheim auf der Terrasse schliefen, und mit den Kindern tauchte der ganze Lebenskreis auf, in den sie verflochten war. Sie würde ihm niemals entrinnen können, die Menschen schleppten ja alle ihren Alltag, ihre Beziehungen, ihren Besitz und ihre Stellung wie Blei an den Füßen mit. Es gab nur eine innere Freiheit, die äußere mußte eine Sehnsucht bleiben und war oft nicht einmal ein ernstlicher Wunsch. Sie wünschte wohl, mit beiden Kindern, eins im rechten, eins im linken Arm, ungebunden fortzuwandern und eine neue Luft zu atmen, aber sie würde doch nicht alles aufgeben können. Den gesicherten Verhältnissen, den Gewohnheiten ihres gepflegten Lebens, dieser Stadt, die sie allen Städten der Welt vorzog, und schließlich den Eltern würde sie wohl niemals davonlaufen wollen.

Ohne anzuhalten schaute sie erfreut den Möwen zu, von denen einige bettelnd über der Quaimauer flatterten oder sich leichtfüßig auf der Mauer niederließen, die Flügel ordneten und aufmerksam herumblickten, während andere hoch über dem Wasser in der klaren Luft mit mühelosem Schwunge kreuzten.

«Wenn ich kein Mensch sein müßte, möchte ich eine Möwe sein, nur um so herrlich fliegen zu können», dachte sie. «Der Mensch ist und bleibt ein schwerfälliges Wesen, auch wenn er das Leben noch so meistert. Was ist doch Mama für eine überlegene, selbständige Person, aber wie ist sie an alles gebunden und wie quält sie sich jetzt wieder!»

Während sie vom Seeufer abbog, begann sie über Mamas Plan nachzudenken und überlegte, ob es nicht auf eine andere Art ginge. Mama wollte vor der Übersiedlung in die Mietswohnung noch einmal die Ammannsche Verwandtschaft in den alten Räumen versammeln. Die Einladung war bedacht und ausführlich besprochen worden, aber dabei hatte sich gezeigt, daß diese Verwandtschaft kaum mehr unter ein Dach zu bringen war. Die persönlichen Anlagen und Eigenheiten ihrer Mitglieder hatten sich im Lauf der Jahre unmerklich verstärkt. Da war die Verwandtschaft im Rusgrund mit ihrem Oberhaupt Onkel Robert, einem noch halb bäuerischen Landwirt, der auch in einem städtischen Salon den Rock auszog, wenn es ihm paßte, und der mit einem vornehmen, auf Haltung so erpichten Offizier wie Hartmann nur schwer in Einklang zu bringen war. Ferner hatte der kultivierte, stille Professor Junod mit Onkel Robert gar nichts gemein, so wenig übrigens wie mit Frau Barbaras Bruder, dem Oberstdivisionär Boßhart, der sich bei geselligen Anlässen höchstens langweilte, wenn er nicht gifteln oder trinken konnte. Eine größere Anzahl guter Flaschen würde zwar die männlichen Gegensätze gegen Mitternacht vielleicht aufzutauen vermögen, aber dann blieben immer noch die Frauen, und außerdem war der Hausfrau das Mittel unsympathisch. Zudem würde Paul sich wahrscheinlich drücken, vielleicht auch Fred, der in Gesellschaften mit merkwürdig feinem Gefühl das Unechte und Gezwungene spürte. Am ehesten konnte noch Severin bestehen; mit seiner Frau hingegen ließ sich wenig anfangen. Papa und Mama selber nahmen eine gewisse humane Mitte ein und wären wohl imstande gewesen, ohne Verstellung nach allen Seiten hin anzuknüpfen, aber offenbar hatten sich nun zu ihrem Ärger die Widerstände stärker erwiesen als ihr guter Wille.

Gertrud war in dieser Beziehung unbedenklicher als die Mutter, sie hätte ohne weiteres die ganze Verwandtschaft eingeladen und mit einem gewissen Trotz den Sieg des gesellig Anständigen über alles persönlich Trennende erwartet; als sie aber im Wohnzimmer neben Mama saß und von neuen Schwierigkeiten erfuhr, verzichtete sie achselzuckend auf eigene Ratschläge.

«Es ist immer dieselbe Geschichte, geh mir weg!» rief Mama mißgelaunt. «Man bringt heute vor lauter Empfindlichkeiten und Rücksichten kein halbes Dutzend Leute mehr zusammen. Übrigens …» Sie fuhr, den Kopf schüttelnd, etwas leiser fort: «… die andern sind nicht allein schuld … mein Bruder wäre gekommen, dafür hätt’ ich gesorgt … aber Papa hat etwas gegen ihn, etwas Militärisches, denk’ ich, und jetzt … ach, ich mag gar nicht mehr davon reden. Die Männer sind in dieser Beziehung um kein Haar besser als wir.»

«Ach herrjeh, Mama!» rief Gertrud heiter zustimmend.

«Jetzt, nicht wahr», fuhr Frau Barbara lebhaft fort, «trommelt halt Paul einfach das Quartett oder Quintett zusammen, und weil es das letztemal ist, daß ihr hier spielen könnt, verbinden wir es mit einem Nachtessen, und dazu bringt jedes seine andere Hälfte mit …»

 

«So ist die Musik doch auch einmal für etwas gut!» rief Gertrud mit betonter Befriedigung und im kindlichen Tonfall, in den sie der Mutter gegenüber zum Spaß noch manchmal verfiel.

Frau Barbara, die ihrer Tochter schon mehr als einmal geraten hatte, wieder zu reiten und Tennis zu spielen wie früher, statt immer am Klavier zu sitzen und Bücher zu lesen, überhörte die Anspielung geflissentlich. «Vielleicht kann ich dann die Rusgrund-Verwandten am andern oder übernächsten Tag noch einladen», fuhr sie fort. «Schuldig wären wir’s ihnen, Fred fährt ja fast jeden freien Tag hinauf … aber ich weiß es noch nicht, es wird zuletzt wohl eine Hetzerei geben … vorläufig bleibt’s beim andern. Und dann bringt Paul auch seinen Freund zum Nachtessen mit, den Herrn Pfister …»

«So? Ja, das scheint ein netter Kerl zu sein, nicht? Ich habe seine Gedichte gelesen und möchte ihn ganz gern näher kennenlernen …»

«Was macht die Madame? Ist ihr das neue Mädchen noch nicht davongelaufen?» ‹Madame› nannte Frau Barbara ironischerweise die alte Frau Hartmann, Gertruds Schwiegermutter, die mit schwer erträglichen Eigenheiten im Hartmannschen Hause den zweiten Stock bewohnte.

«Ach, was macht sie! Kürzlich hat sie einen Nachmittag lang gejammert, weil die Putzfrau statt am Samstag erst am Montag kommen konnte … und dabei gab es ja natürlich in der ganzen Wohnung kein Stäubchen, das sie nicht schon selber entdeckt und durch das Zimmermädchen hatte wegputzen lassen. Ich geh’ lieber gar nicht mehr hinauf, wenn ich nicht muß.»

Sie plauderten noch eine Weile um den Punkt herum, der Gertrud hergeführt hatte. Seit jenem Auftritt im Hartmannschen Hause, wo die Mutter am unrichtigen Ort auf ein Bett gestoßen war, hatten sie über das eheliche Mißverhältnis nicht mehr ernstlich gesprochen. Frau Barbara hatte sich mit Andeutungen begnügen müssen und daraus entnommen, daß zwischen Gertrud und ihrem Mann zwar kein offener Krieg, aber auch kein Frieden herrsche, sondern eine Art von Waffenstillstand. Dies war nach ihrer Meinung «gar nichts» und konnte höchstens zu gegenseitiger Gleichgültigkeit führen, was noch weniger war, während doch nur eine endgültige Versöhnung in Frage kam. Diese Versöhnung wünschte sie leidenschaftlich herbei, sie glaubte fest an ihre Möglichkeit und war entschlossen, die Vermittlung zu übernehmen, wenn die beiden es nicht selber fertig brachten. Der gesellige Abend nun konnte ihr eine Gelegenheit dazu bieten, jedenfalls würde sie die Entzweiten wieder einmal nebeneinander vor sich haben.

Gertrud war sich über diese Absicht Mamas völlig klar, und sie merkte auch, daß Mama aus eigenem Antrieb jetzt nichts mehr davon antönen würde, weil sie es ja überhaupt nicht in Frage gestellt zu haben wünschte. So mußte sie denn selber den heiklen Punkt noch einmal berühren, doch tat sie es erst beim Aufbruch und auch dann nur vorsichtig aus dem Hinterhalt: «Ich komme dann etwas früher, Mama, dann kann ich dir noch ein wenig helfen, gelt!»

«Was, früher! Ich habe Hilfe genug. Ihr kommt beide miteinander auf sieben Uhr!»

«Mama … höre, ich weiß wirklich nicht, was mein Mann dabei …»

«Ich will nichts mehr davon hören, fertig jetzt, adieu!» Frau Barbara schob ihre Tochter kurzerhand auf die Treppe, verhielt sich mit beiden Händen die Ohren und kehrte in die Stube zurück.

Gertrud blieb verdrossen auf der Treppe stehen, dann ging sie zögernd hinab, durchwandelte den Garten, in dem sie jedes Winkelchen kannte und liebte, gab sich dem vertrauten Anblick des Hauses hin, in dem sie aufgewachsen war, und spürte, daß sie noch immer mit ganzer Seele daran hing. Es war ein Stück ihres «Reiches», ihres ganz persönlichen innern Reiches, zu dem ihr Mann keinen Zutritt fand; bald, wenn das Haus in Schutt und Staub zusammenbrach, würde sie trauern wie um den Verlust eines geliebten Wesens. Was hatte ihr Mann hier zu tun, da es galt, im Kreise der Angehörigen davon Abschied zu nehmen!

Zu Hause verbrachte Gertrud den Rest des Nachmittags mit den Kindern im Freien, beförderte nach Sonnenuntergang die Kleine ins Bett und wechselte im Wohnzimmer dem Knaben die weiße Wolljacke. «Aber Schatz, was bisch du für es Drecksöili, lueg au da!» sagte sie liebevoll scheltend und zeigte ihm die Ärmel, die er sich draußen beschmutzt hatte.

In diesem Augenblick, kurz vor dem Nachtessen, hörte sie die Haustür zufallen und ihren Mann im Erdgeschoß den Gang durchschreiten. Sie würde ihn an seinem lässig taktmäßigen, fest auftretenden Schritte unter Hunderten erkannt haben. Auf der Treppe ließ er, wie sie es erwartete, die Spitze der Säbelscheide zwei-, dreimal gegen die Stufen klopfen, dann schritt er etwas gemächlicher, doch immer noch genau so fest auftretend, zum Garderobenständer; jetzt hing er den Säbel auf und stülpte mit einem leichten Schlag die Mütze darüber, jetzt stand er vor der Tür, zog sich auf beiden Seiten die Bluse herunter und drehte im engen Kragen kurz den Hals hin und her. Sie sah ihn vor sich, noch eh er eintrat, sie kannte die geringste seiner Bewegungen und wußte voraus, wie er sich nun beim Eintritt verhalten würde.

Er trat ein, ein großer, kräftig schlanker Mann von dreiundvierzig Jahren, in dunkler Reithose, tadellos sitzenden Stiefeln und eng anliegender blauer Uniformbluse, mit einem gesunden, von Luft und Sonne gebräunten Gesicht, dessen Ausdruck in seiner Mischung von sportlicher Derbheit, herrischer Kühle und männlicher Intelligenz nicht nur von guter Abkunft, sondern von wirklicher Rasse zeugte. Mit einem leisen, überlegenen, ironisch forschenden Lächeln näherte er sich gelassen seiner Frau, nickte leicht, als er ihre gleichgültige Miene gewahrte, und lachte dem Albrechtli zu, der ihm entgegenlief.

«Pape, i ha schon en Sumervogel gseh», plauderte der Kleine lebhaft und schloß sein Fäustchen fest um den Karabiner des Säbeltragriemens, der von Papas linker Hüfte herabhing.

«Soo?» machte Papa teilnehmend und strich ihm über das dunkelblonde Haar, dann fragte er schon etwas gleichgültiger, während er beiseiteblickend die eingegangenen Briefe und Zeitungen musterte: «Ja und dänn? Häsch en gfange?» Ohne sich um die Antwort zu kümmern, nahm er am Tische Platz, ließ den Knaben, der den Tragriemen nicht freigab, auf seinem Knie reiten und entfaltete eine Zeitung.

Gertrud ging schweigend hinaus. Sie suchte immer von neuem, ihren Widerwillen gegen diesen Mann zu unterdrücken und hoffte jedesmal irgendeine freundliche Änderung an ihm wahrzunehmen, aber bei seinem Anblick fühlte sie sich unweigerlich immer wieder abgestoßen. Sie gab sich Mühe, ihn nur von seiner besten Seite zu sehen, weil sie friedlich mit ihm auskommen wollte, aber sie bemerkte mit einer Schärfe, die ihr selber nicht geheuer vorkam, seinen hintersten Fehler, ja sie wurde gegen ihren guten Willen schon durch Nichtigkeiten gereizt, an denen er, wie sie genau wußte, unschuldig war. Das ironischüberlegene Lächeln, das seine schmalen, kühlen Augen besonders dann umspielte, wenn sie ihre Abneigung nicht zu verbergen wußte, und die beständige unerschütterliche Sicherheit seines Auftretens empörten sie. Nach den peinlichsten Vorfällen benahm er sich so, als ob alles in Ordnung wäre, und nie zeigte er vor ihr die geringste Verlegenheit, auch wenn er unmittelbar Grund dazu hatte. Oft wünschte sie, ihn richtig böse zu sehen, ihn schimpfen und fluchen zu hören, aber er beherrschte sich, und dieser Beherrschung gegenüber war sie machtlos.