Schweizerspiegel

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Hartmann hatte bei seinem Eintritt auf den ersten Blick erkannt, daß Gertruds «Verstimmung» nicht gewichen war, und infolgedessen hatte auch er die Haltung nicht geändert, die er seiner Frau gegenüber seit Monaten einnahm. Über den eigentlichen Grund dieser Verstimmung war er sich nicht klar. Nach seiner Meinung hing sie mit Gertruds gegenwärtiger Vorliebe für Dinge und Anschauungen zusammen, zu denen er kein Verhältnis gewinnen konnte, für das «Innenleben», für Musik, schöngeistige Bücher, Gedichte. In einer der selten gewordenen Aussprachen hatte sie erklärt, daß sie ihm nicht entgegen zu kommen vermöge, wenn er so gar keine Beziehung zu ihrem innern Leben finde, und daß der Weg zu ihr nicht über den Körper, sondern über die Seele führe. «Warum versuchst du nicht wenigstens, mich zu verstehen? Du hast keine Ahnung, wie es in mir drin aussieht, du lebst in deinem alten Tramp weiter, und ich kann verhungern neben dir.» Das waren ihre Worte gewesen, ziemlich dunkle und etwas prätentiöse Worte. Er hielt das für eine Laune, für eine Art von persönlicher Mode. Das einzig Rätselhafte daran schien ihm ihre dauernd und hartnäckig verstimmende Wirkung, im übrigen aber waren Launen eine allgemein weibliche Schwäche, gegen die man mit Vernunft und Logik nichts ausrichten konnte. Schließlich mußte dies alles ein Ende nehmen oder doch seine Vorherrschaft verlieren, und dann würde Gertrud wieder mit ihm ausreiten, an Pferden und Hunden Freude haben, Rennen besuchen und die forsche, frische Frau sein, für die er sie im Grunde hielt. Er war entschlossen, bis dahin auszuharren, sich keine Blöße zu geben, der Sache nicht mehr Gewicht zu verleihen als sie besaß und, die «kritischen Augenblicke» ausgenommen, Gertrud ruhig ihrer Laune zu überlassen.

Beim Nachtessen, während sie sich wie immer mit dem Kleinen beschäftigte, saß er in seiner gewohnten Haltung, die ihm auch zu Hause keine Nachlässigkeit erlaubte, an der obern Schmalseite und richtete bald ein mahnendes Wort an Albrechtli, bald ein höfliches an seine Frau.

Gertrud sah ihn, ohne besonders nach ihm hin zu blicken, sie sah, wie er sich mit der breiten Brust in der eng anliegenden Bluse leicht nach vorn neigte und sorgfältig einen Bissen zum Munde führte, sie sah sein gesundes, sicheres, im Lampenschein rötlich braun schimmerndes Gesicht, das auch jetzt mit keiner Miene die Unerträglichkeit dieser Lage zugestand, und sie blieb kalt wie immer. Heimlich wünschte sie wohl, daß er mit der Demut des Leidenden, die das heillose Zerwürfnis ihn doch gelehrt haben müßte, ihre Hand ergreifen und sagen würde, daß er es nicht länger ertrage und daß er versuchen wolle, sie zu verstehen. Aber sie wußte, daß er höchstens auf eine unverschämt mannhafte Art zärtlich werden konnte, um etwas zu erlangen, was ihm nicht zukam, aber niemals imstande war, mit jenem menschlichen Zugeständnis ihr Inneres anzurufen.

«Iß jetzt, Schatzi, gäll!» mahnte sie den Kleinen, dessen Gegenwart bei Tisch ihr die gemeinsamen Mahlzeiten allein noch erträglich machte.

Albrechtli löffelte etwas eifriger in seinem Brei, aber da er genug hatte, begann er bald wieder gruchsend hin und her zu rutschen, faßte den Löffel falsch an und schielte zum Papa hinüber.

«Männchen! Stillsitzen und ausessen!» rief Hartmann in einem scherzhaften hochdeutschen Befehlston.

Gertrud fand das lächerlich, und als er ihr gleich darauf mit der Frage «Butter?» höflich die Schale anbot, nahm sie daran Anstoß, daß er nicht das schweizerdeutsche Wort «Anke» brauchte. «Er verfälscht alles, es ist alles gemacht an ihm, seine Haltung, sein Standesbewußtsein, seine Ausdrücke, er ist nicht einmal mehr ein rechter Schweizer.» Daß eben diese Haltung ihr einst Eindruck gemacht hatte, davon wußte sie nichts mehr.

Als er sich vom Tische erhob, klingelte sie dem Mädchen, und als er zur Türe schritt, sagte sie gleichgültig: «Du bist dann auf übermorgen bei Mama zum Nachtessen eingeladen.»

Er hielt an und richtete einen erstaunt fragenden Seitenblick auf seine Frau.

«Wir spielen Quintett, nicht wahr», erklärte sie, um einen Ton zu heftig. «Severin und Professor Junod bringen ihre Frauen zum Nachtessen mit … und dann kommt noch ein Herr Pfister … nachher spielen wir bis mindestens um elf Uhr.»

«Hm … was habe ich dabei zu tun?» fragte er, unwillig über diese offenbar nur halbe Auskunft, und schüttelte knapp den Kopf.

«Mach ganz wie du willst, es zwingt dich niemand!» antwortete sie achselzuckend und hob den Knaben vom Stuhl.

«Ich würde mich schwerlich zwingen lassen», erwiderte er. «Aber das dürfte etwas anders gemeint sein, vermute ich. Wegen der Musik wird Mama mich nicht einladen …»

Das Mädchen kam, um das Geschirr abzuräumen.

Hartmann wartete, auf- und abgehend, bis es fertig war, dann trat er vor Gertrud hin, die Hände in den Seitentaschen der Bluse, und erklärte mit spöttischer Ruhe: «Schön, wir werden übermorgen zusammen hinfahren.»

Sie wandte sich schweigend von ihm ab und begann ein paar Dinge vom Eßtisch zu versorgen, während er gelassen hinausging.

13

Frau Barbara wollte ihre Gäste nicht, wie es üblich war, vor dem Essen im Salon einpferchen, um sie dort ohne rechten Anschluß unter gezwungenen Gesprächen auf den Ruf zu Tische wie auf eine Erlösung warten zu lassen, sondern sie hatte von Anfang an die Tür zum Eßzimmer weit geöffnet, auf dem Büffet hinter der festlich gedeckten Tafel für die Herren eine Reihe von Schnäpsen bereitgestellt und Fred mit der Bedienung beauftragt. Fred stand nun verschmitzt lächelnd vor diesen Flaschen und schien die Veranstaltung nicht besonders ernst nehmen zu wollen. Den ersten zwei Herren, die sich von ihm ein Gläschen einschenken ließen, Paul und Albin Pfister, stellte er sich als Barmaid vor und riet ihnen zu unmöglichen Cocktails, dann benutzte er eine Serviette als Schurz und begann den Ruf nachzuahmen, der in Bahnhöfen den Zügen entlang erschallt. «Büffet!» rief er mit verstellter, hoher Stimme und blickte in den Salon hinein, wo sich die kleine Gesellschaft nach den ersten Begrüßungen noch unentschieden durcheinander bewegte.

Oberstleutnant Hartmann trat dort, nachdem er seine Runde beendet hatte, lächelnd wieder zu seinem Schwiegervater. Er trug zur schwarzen Gehhose den dunklen Waffenrock mit den zwei schimmernden Knopfreihen und dem roten Kragen, der mit dem winzigen weißen Saum des darunter verborgenen Leinenkragens seinen gebräunten Hals hoch und eng umschloß. Mit einem leisen, freundlich ironischen Lächeln trat er auf Ammann zu.

Ammann, seit Neujahr sein Vorgesetzter, blickte ihm mit einem ähnlichen Lächeln entgegen, dessen Ironie freilich an Spott grenzte, da ihn sein höherer Grad der Rücksicht enthob, die Hartmann dem Brigadier immerhin schuldete. «Du bist ein eleganter Kerl», sagte dies Lächeln, «ein Berufssoldat, ein schneidiger Offizier, während ich in deinen Augen nur ein militärischer Laie und heraufgekommener Bürger bin, aber bilde dir ja nicht ein, mein Lieber, daß die militärische Tätigkeit und das Führertalent mit der Eleganz, dem Schneid und dem Beruf zusammenhängen; indessen fühle ich mich durch deinen Hochmut nicht betupft, er läßt mich im Gegenteil völlig kalt, und außerdem bin ich überlegen genug, deine wirklichen guten Eigenschaften anzuerkennen.»

Hartmann las dies alles im Gesicht seines Vorgesetzten, und seine eigene Miene enthielt schon die Antwort darauf. «Ich weiß, daß du so über mich denkst», sagte diese Miene, «und es tut mir leid, daß du ein so dicker, schwerfälliger Kerl bist, daß ich dir den Beruf und manches andere voraushabe, und daß du dich deshalb ein wenig verteidigen mußt, aber ich kann mich nicht ändern, lieber Schwiegerpapa, und im übrigen bin ja auch ich bereit, dich anzuerkennen.»

Während dieser stummen Auseinandersetzung wechselten sie ein paar scherzhafte Worte, und erst als sie auf eine städtische Angelegenheit zu sprechen kamen, begannen sie ernstlich und unbefangen miteinander zu reden.

In ihrer Nähe standen Severin und Professor Junod vor ihren Frauen, die sich nebeneinander auf das Sofa gesetzt hatten. Severin sprach in seinem belehrenden Tonfall auf Junod ein, der mit schief gesenktem Kopf und emporgezogenen Brauen ungläubig lächelnd Severins breite Füße betrachtete. Die Frauen hörten einen Augenblick zu, dann setzten sie, noch eh er zu Ende war, ihr eigenes Gespräch über irgendeinen häuslichen Gegenstand fort.

Indessen führte Albin Pfister seinen Freund am Arm von den Schnäpsen weg zur nächsten Fensternische. «Wenn ich das vorausgesehen hätte, würdest du mich nicht erwischt haben», sagte er mißmutig.

«Was, erwischt!» widersprach Paul. «Ich habe dir gesagt, du sollest bitte auch gleich zum Nachtessen kommen …»

«Das ist eine ausgewachsene Soiree, die Damen sind in Toilette, die Herren im Smoking. Ich bin der einzige, der keinen Smoking trägt, und du hättest wissen können, daß ich keinen habe.»

«Du mein Gott, das ist doch alles so furchtbar gleichgültig!» erwiderte Paul gequält, mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Albin schwieg trübe lächelnd, er fühlte sich nicht verstanden und fand es daher sinnlos, länger zu streiten; als aber Paul fortfuhr, sich zu verteidigen und diese ganze Veranstaltung als Komödie zu bezeichnen, versuchte er noch einmal, sich begreiflich zu machen. «Gewiß, es ist an und für sich ganz gleichgültig», sagte er ruhig. «Ein Smoking imponiert mir vielleicht noch weniger als dir. Aber ich bin gewohnt …»

«Gertrud, komm, hilf mir!» rief Paul seiner Schwester zu, die durch das Eßzimmer ging. Er nahm mit einer versöhnlichen Gebärde Albins Arm und erklärte, als Gertrud vor ihm stand: «Albin ist unglücklich, daß er keinen Smoking trägt, und läßt’s mich entgelten, weil ich daran schuld bin. Bitte beurteile das Verbrechen!»

Albin empfing von Gertrud sofort wieder den Eindruck, den er bei der Begrüßung empfangen hatte und den fast alle Menschen kannten, die mit ihr in Berührung kamen, den Eindruck einer frischen, offenen und warmherzigen jungen Frau, der man schon nach dem ersten kräftigen Händedruck Vertrauen und Sympathie unmöglich versagen kann. «Ich bin nicht unglücklich», erklärte er lächelnd und blickte in ihre freundlich teilnehmende Miene, «aber man soll sich den Formen einer Gesellschaft, in der man verkehren will, anpassen, sonst bleibt man besser zu Hause …»

 

«Aber», warf Paul ein, «es wird dir hier doch kein Mensch übelnehmen, daß du …»

«Ja, gewiß, man wird Rücksicht nehmen, aber das ist es ja eben! Daß man gerade auf den Gast Rücksicht nehmen muß, der nicht zur Familie gehört, das ist für diesen Gast doch einigermaßen peinlich, oder er müßte in gesellschaftlicher Beziehung eine dicke Haut haben; ich habe aber eine dünne, leider, sonst käme ich vermutlich über die Nichtigkeit hinweg. Du hättest es mir beizeiten mitteilen müssen.»

«Das finde ich auch», sagte Gertrud ernsthaft. «Herr Pfister hat ganz recht.»

Paul, der überzeugt gewesen war, daß Gertrud seinen Freund lachend beruhigen werde, blickte sie mit betontem Erstaunen an, dann verbeugte er sich plötzlich mit einem müde ergebenen Lächeln und schlenderte weg.

«Übrigens», fuhr Gertrud fort, «in diesem Fall, glaube ich … Sie sind doch hier kein Fremder. Papa, Mama und meine Brüder kennen Sie so gut …»

«Ja … aber wir wollen nicht mehr davon reden, ich bin schon beruhigt, daß mich wenigstens jemand begreift …»

«Paul ist manchmal etwas unberechenbar», sagte sie heiter verurteilend und wollte noch etwas hinzufügen, als beim Büffet eine laute Bewegung entstand. Fred schlug dort knallend die Absätze zusammen und meldete sich dem Oberstleutnant, der neben Ammann aus dem Salon herüberkam, mit gespannter Miene als Schnapswache an. Gertrud betrachtete ihn lachend.

«Unser neuer Regimentskommandant!» sagte Albin leise und blickte mit einem schwankenden Lächeln auf Hartmann.

«Sind Sie denn auch beim Militär?» fragte Gertrud.

Albin nickte bedauernd. «Übrigens nur als gewöhnlicher Füsilier», sagte er. «Paul und ich gehören zur selben Kompagnie.»

«Merkwürdig! Ich kann Sie mir nicht bewaffnet vorstellen.»

«Soo …?» sagte er scherzhaft beleidigt.

«Ich meine …» erklärte sie heiter und ein wenig verlegen, «trotzdem Sie …»

Er kam ihr rasch zu Hilfe. «Ja, ich bin gesund und besitze den nötigen Brustumfang. Aber … es ist wirklich kein Vergnügen für mich.»

«Das kann ich mir denken!»

In diesem Augenblick bat Frau Barbara die Gesellschaft zu Tische, nicht allzu freundlich, eher mit der leicht besorgten Miene einer Hausfrau, die bis zuletzt an den Vorbereitungen zum Essen teilgenommen und gewiß noch etwas Ärgerliches erlebt hat. Sie trug ein unauffälliges dunkles Kleid und als einzigen Schmuck eine alte silberne Filigrankette im Halsausschnitt, aber das vornehm Würdige ihrer Erscheinung kam dabei vollkommen zum Ausdruck. Während sie mit kaum merklichen Hinweisen jedem der Gäste seinen Platz andeutete, bat Fred feierlich um seine Entlassung als Schnapswache und machte, nachdem er sich abgemeldet hatte, militärisch rechtsumkehrt. «Mach keine Faxen, Fred!» sagte sie halb unwillig, halb belustigt, und schob ihn zu seinem Stuhl.

«Man muß sich üben», antwortete Fred, immer mit einer Spitze gegen Hartmann, der als scharfer Drillmeister bekannt war. «Es gibt ja nächstens Krieg, nicht wahr, und wenn wir die Drehungen nicht können, sind wir verloren.»

Diese Bemerkung entfachte sofort ein allgemeines, lebhaftes Gespräch, wie es zu dieser Zeit überall entstand, wo das Wort Krieg fiel. Man lebte im Frühling 1914, die Öffentlichkeit in ganz Europa wurde von der wachsenden Spannung offen oder heimlich ergriffen, und die Presse war voll von Gewitterzeichen. Dabei kam den meisten Menschen der Gedanke an die Möglichkeit eines «großen Weltkrieges» ungeheuerlich, ja verrückt vor. Die bürgerlichen Realpolitiker, die das Unheil fast mit offenen Augen kommen sahen, glaubten an keine Gefahr, sie waren trotz den wirtschaftlichen Nöten noch immer blind vor Stolz auf den Fortschritt und die Sicherheit ihrer Welt. Niemand freilich wäre imstande gewesen, die Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß vorherzusagen oder auch nur zu ahnen. Die Vorstellungen der Menschen vom «Krieg» waren noch durch die Erinnerung an 1870, an den Russisch-Japanischen und den jüngsten Krieg auf dem Balkan beherrscht.

«Ach, jedes zweite oder dritte Jahr einmal, solang ich mich erinnere, redet man davon, daß es Krieg geben werde», sagte Klara, die Frau des Professors, nachdem schon die verschiedensten Ansichten geäußert worden waren. «Die Männer sind immer gleich Feuer und Flamme, aber … ich sehe nicht ein, warum es ausgerechnet dieses oder nächstes Jahr Krieg geben soll.» Sie war mit der lockeren Fülle ihres angegrauten Haares, den lebhaften Augen und ausgeglichenen Zügen eine noch immer schöne, an Gestalt ebenso stattliche Frau wie ihre Schwägerin, doch weniger herb, lässiger in der Haltung und im ganzen liebenswürdiger.

Ihrer friedlichen Meinung widersprachen sofort drei oder vier Stimmen, wobei Severins laute und klare Belehrung den Sieg davontrug. «Tatsache ist», sagte Severin, «daß Rußland mit der Mobilisation begonnen hat. Ein Staat wie Rußland aber mobilisiert nicht zu seinem Vergnügen oder nur so probeweise, wie es allerdings behauptet wird, eine Riesenarmee. Und daß Deutschland zuschaut, bis es angegriffen wird, ist auch nicht denkbar.»

«Denkt über den Krieg, wie ihr wollt», erklärte Frau Barbara, «aber mir will es nicht in den Kopf, daß in unserm Zeitalter noch zivilisierte Völker übereinander herfallen könnten.»

«Aber Mama», widersprach Severin, «was meinst du denn, warum diese Völker Millionen um Millionen für Kriegsrüstungen ausgeben, und …»

«Die Völker? Ich denke die Regierungen!» warf Paul ein.

«… und warum zum Beispiel Frankreich jetzt die dreijährige Dienstzeit einführt, das zivilisierte Frankreich?» fuhr Severin fort, ohne Pauls Einwurf zu beachten.

In diesem Augenblick begann Professor Junod zu reden, der sich an der einen Schmalseite des Tisches bisher schweigend über seine Suppe gebeugt und sorgfältig Löffel um Löffel zwischen Spitzbart und Schnurrbart hineinbefördert hatte. «Frankreich kann nicht ruhig zusehen, wie man es in Berlin treibt, das ist ganz klar», sagte er mit seiner trockenen Stimme so ungewohnt laut, daß alle hinsahen. «Frankreich befindet sich in der Verteidigung. Das französische Volk aber wird von sich aus niemals Krieg anfangen.»

«Jaa, Gaston …» rief Ammann von der anderen Schmalseite her zweifelnd und durch Junods Eifer belustigt, «ich weiß nicht … das Volk möchte für 1870 im Grunde doch Revanche haben …»

«Und nachher müssen die Deutschen wieder Revanche haben», sagte Frau Barbara, ehe Junod antworten konnte, und bewegte entschieden den Kopf hin und her. «Ich finde es einfach unwürdig, daß man sich nicht friedlich verständigen kann.»

«Die Deutschen werden nach einem Kriege kaum in den Fall kommen, Revanche zu verlangen», bemerkte Hartmann lächelnd.

«Ah voilà!» rief Junod mit einer knappen Handbewegung gegen den Oberstleutnant und schien nun fortan auf jede weitere Bemerkung verzichten zu wollen. Aber im nächsten Augenblick behauptete er, daß die angebliche russische Mobilisation von den Deutschen erfunden worden sei, die einen Vorwand für ihre eigenen militärischen Machenschaften brauchten.

«Aber Gaston!» rief Ammann ernsthaft. «Man gibt es ja in Rußland offen zu, daß mobilisiert wird. Die Verstärkungen der russischen Armee an den Westgrenzen haben nichts mehr mit Manöver zu tun; man baut die rückwärtigen Verbindungen aus, Eisenbahnen werden angelegt und so weiter … nein, nein, Erfindungen sind das nicht.»

«Es läßt sich in der Presse genau verfolgen», sagte Severin mit einem Achselzucken. «Die ‹Germania› hat vorgestern wieder klipp und klar erklärt, was jetzt in Rußland geschieht; die Meldung ist auch von unserer Agentur gebracht worden.»

«Übrigens», fuhr Ammann fort, «was man von diesem Herrn Suchomlinow hört, dem russischen Kriegsminister, klingt deutlich genug. ‹Wir sind bereit!› erklärt der Kriegsminister, und das russische Heer ist nach seiner Überzeugung ganz einfach unüberwindlich …»

Auf diese Art ging es noch eine Weile fort, aber schließlich kamen zwischen einzelnen Tischnachbarn wieder friedlichere Gegenstände zur Sprache. Ammann gab sich, strahlend vor Zufriedenheit, bei aller Teilnahme an der Unterhaltung doch in behaglicher Breite dem Genuß der guten Dinge hin, und gelegentlich, während er verständnisvoll kauend die mächtigen Kinnladen bewegte, nickte er seiner Frau anerkennend zu. Frau Barbara saß zur Rechten ihres Mannes, oder vielmehr thronte sie dort, aufrecht, wachsam und immer bereit, das Gespräch zu lenken, dem Aufwartmädchen einen Wink zu geben, einen Gast zu ermuntern. Nichts entging ihr, und was sie besonders zu sehen wünschte, zeigte ihr der hohe, in einen schmalen Goldrahmen gefaßte Wandspiegel, dem sie schräg gegenüber saß. Gertrud, fand sie, brachte ihre Gestalt in dem einfachen blauen Abendkleid mit dem breiten, nicht sehr tiefen Ausschnitt anständig zur Geltung; dieser Ausschnitt entsprach ihren geraden, breiten Schultern, die zum kräftig schlanken, bestimmt ansetzenden Hals beinahe im rechten Winkel standen. So etwas durfte man zeigen. Das Haar trug sie wie immer in mäßig hohen, lockern Wellen, die beide Schläfen frei ließen. Sie sah hübsch aus neben ihrem Mann, der seinerseits jeden Vergleich aushielt, und zwar nicht nur hier. Mama war überzeugt, daß es in der ganzen Stadt Zürich ein so vornehmes, stattliches Paar nicht zum zweitenmal gab, und sie wäre zuversichtlich, ja glücklich gewesen, wenn sie die sichern Anzeichen des Unheils jetzt nicht mit eigenen Augen wahrgenommen hätte. Hartmann benahm sich hier seiner Frau gegenüber so liebenswürdig, wie man es nur wünschen konnte, aber Gertrud schien das kalt zu lassen, sie sprach mit ihm offenbar kein Wort mehr als nötig war. Auf ihrem sympathischen, nicht ganz vollkommenen Gesichte lag, durch ihre angeregte Lebhaftigkeit und das vielfach gespiegelte Licht hervorgerufen, ein lebendiger Glanz, der es schön machte, aber wenn sie ihrem Mann antworten mußte, wich dieser Glanz für Augenblicke einer kühlen Gleichgültigkeit. Sobald sie sich dann wieder mit Albin Pfister unterhielt, ihrem Nachbarn zur Rechten, strahlte sie vor liebenswürdiger Anteilnahme, ja vor Herzlichkeit.

Dies war immerhin kaum auffallend in einer Gesellschaft, die den Mangel an Liebenswürdigkeit zwischen Ehegatten mit der abstumpfenden Gewohnheit des täglichen Umganges aus eigener Erfahrung zu entschuldigen vermochte. Für die Mutter aber war es von schmerzender Deutlichkeit; sie fand Gertruds Benehmen unpassend und grollte beinahe auch diesem jungen Pfister noch, den sie als klugen, bescheidenen, durchaus ehrenhaften Mann kennengelernt hatte.

Der Abschluß befriedigte sie nicht, sie hatte mehr erwartet. Aber der eigentliche Grund ihrer Unzufriedenheit bestand in der Tatsache dieses Abschlusses selber. Sie hatte gehofft, der gesellige Abend werde ihr darüber hinweghelfen, wie eine Leichenfeier dem Trauernden vom blinden Schmerz zur Einsicht in das allgemein Gesetzmäßige seines Verlustes hinüberhilft; doch das Gegenteil war der Fall. Niemand erwähnte den Anlaß der Veranstaltung, obwohl jedermann wußte, daß in vierzehn Tagen das Haus erbarmungslos niedergerissen wurde. «Es ist ihnen gleichgültig, sie wissen, was wir dafür gelöst haben», dachte sie. «Was aber in Wirklichkeit niedergerissen wird und was wir alles verlieren, das wissen sie nicht.»

Sie täuschte sich, es war ihnen nicht gleichgültig; das Bewußtsein, daß man hier in einem dem Untergang geweihten Hause zum Abschied um die gemeinsame Tafel versammelt war, lagerte vielmehr über der ganzen Runde, und am Ende, als Champagner eingeschenkt wurde, kam es denn auch zur Sprache. Professor Junod setzte zu einem kleinen Toast an, in dem er Frau Barbara als die Spenderin des festlichen Mahles ehrte und sie hochleben ließ als die Seele dieses Hauses, das nun wie eine überreife Schale von ihr abfallen werde. «Die Form zerfällt, wie alle Form», schloß er, «aber der gute Geist, der sie beseelt hat, lebt unverändert weiter in der Herrin, die auch in Zukunft die Hausherrin sein wird.»

Bald nach ihm sagte Hartmann ein paar Worte; im Gegensatz zu Junod, der mit schüchtern verbindlichem Lächeln unter wiederholten leichten Verbeugungen sich während der ganzen Rede an Frau Barbara gewandt hatte, schaute er, ohne seine Haltung zu ändern, mit sachlich ernster Miene ungezwungen vor sich hin. «Das Haus Ammann», fuhr er nach einer knappen Einleitung fort, «ist mir immer als eine Verkörperung des guten schweizerischen Bürgertums erschienen, zu dem wir schließlich alle gehören. Seine Tugenden haben sich in diesem Hause bewährt, und bewähren sich immer noch. Das Kleinbürgerliche, das ihm gelegentlich anhaftet, ist hier überwunden. Dieses Bürgertum ist heute der sichtbarste Ausdruck der Nation. Manche schweizerische Tradition ist im Absterben. Die Tradition unseres Bürgertums ist im Wachsen begriffen, sie hat die Zukunft für sich. Mehr kann man nicht haben wollen. In diesem Sinne trinke ich auf die Zukunft des Hauses Ammann.»

 

Frau Barbara spürte eine flüchtige Regung von Stolz, aber im Tiefern blieb sie unberührt. Sie dachte nicht daran, etwas zu verkörpern, sie hielt sich an die unmittelbare Wirklichkeit, in der sie lebte, und schaute diese Wirklichkeit viel nüchterner an als die fabelnden Männer. Das Gerede von zerfallender Form, von Zukunft und wachsender Tradition lenkte ihren Blick nicht vorwärts, sondern zurück, und statt von heiterer Zuversicht war sie von der trüben Ahnung erfüllt, daß hier eher etwas ende, eine Ammannsche Epoche sozusagen, eine glänzende Epoche, deren Fortsetzung auf jeden Fall problematisch geworden war. «Redet ihr nur, aber verkauft sind wir halt doch!» dachte sie.

Dagegen geriet Ammann selber in eine sehr gehobene Stimmung. Er konnte in diesem Augenblick seine Hochachtung vor Hartmann nicht verbergen. «Albrecht!» rief er schallend, mit strahlender Miene, schwenkte ihm weit ausladend das schäumend volle Glas entgegen und trank es auf einen Zug aus. Gleich darauf begann er zu reden, während ihm der Schwiegersohn das Glas wieder füllte. «Wir wollen in dieser Stunde nicht nur an uns denken, meine Lieben», rief er mit heiterer Überzeugung, «sondern an die Gesamtheit des Vaterlandes. Wir dürfen mit uns zufrieden sein, es ist wahr, und wir sind stolz darauf, aber wir wollen nicht vergessen, wem wir alle unser Wohlergehen und unsere Sicherheit zu verdanken haben. Von der Zukunft des Vaterlandes, die ihrerseits in der allgemeinen Zukunft beschlossen liegt, hängt auch die unsere ab. Die allgemeine Zukunft aber würde uns wohl ebenso staunenswert vorkommen wie unsern Vätern oder Großvätern die Gegenwart. Die Entwicklung geht weiter, und mag es auch gelegentlich zu vorübergehendem Stillstand kommen, ein Rückfall ist nicht mehr denkbar, der Fortschritt ist unaufhaltsam, der Weg liegt vor allen Völkern offen. Im Glauben und Vertrauen auf diese Zukunft wollen wir unsere Gläser leeren!»

Die Gesellschaft griff zu den Champagnerkelchen. Nur Frau Barbara regte sich nicht; mit niedergeschlagenen Augen saß sie aufrecht da und zögerte. Die meisten bemerkten es und stutzten. Sie zögerte einen Augenblick, dann, während fast alle schon tranken, erhob sie das Glas langsam, mit verschlossener Miene, und nippte daran.

Nach dem Ende des Mahles regte sich ein gewisser Widerstand gegen die Teilung der Gesellschaft. «Ach, ihr braucht jetzt nicht gleich wegzulaufen, ihr werdet noch genug musizieren können!» sagte Frau Barbara. Da auch Severin dieser Meinung war, mußten sich die Spieler noch ein wenig gedulden. Fred aber fand es sinnlos, hier die Zeit zu verplaudern, da doch das Quintett beisammen und die Instrumente zur Stelle waren, er begann Gertrud heimliche Winke zu geben, stieß Paul in die Seite und entfernte sich schließlich zuerst. Mit einiger List gelang es dann auch Paul, Gertrud und Albin, unauffällig in den Musiksalon zu entweichen.

Gertrud begann in einer Anwandlung von Übermut auf dem glänzenden, glatten Parkett zu tanzen.

«Hast du schon so etwas gehört?» fragte Paul grinsend und faßte Albin am Arm. «Der Fortschritt ist unaufhaltsam … ein Rückfall ist nicht mehr denkbar … und dann die Zukunft, die Zukunft! Unglaublich! Überhaupt … ich achte ja Mama sehr hoch, nicht wahr, aber … ein solcher Abend ist doch eine üble Geschichte.»

«Ich weiß nicht … ich habe es ganz hübsch gefunden», antwortete Albin, während er mit lächelnden Augen den spielerisch leichten Bewegungen Gertruds folgte.

Paul blickte ihn spöttisch erstaunt an, dann schlenderte er achselzuckend von ihm weg, um seinen Geigenkasten zu öffnen.

Gertrud tanzte zum Flügel hin, setzte sich und schlug ein paar Akkorde an, dann drehte sie sich auf dem Stuhl herum, legte die Hände in den Schoß und fragte betrübt: «Aber was machen wir jetzt, wenn die andern nicht kommen?»

«Ich lotse sie schon noch herauf, nur keine Angst!» erklärte Fred, der diensteifrig die Pulte gestellt hatte.

«Wir könnten ja inzwischen das Largo aus dem Bach-Konzert da spielen», sagte Paul. Er hatte das Konzert in d-moll für zwei Violinen und Klavier hervorgeholt und legte die Stimmen auf. «Albin und ich kennen den Satz, und du spielst ihn vom Blatt, wenn du ihn nicht kennst.»

Gertrud blätterte ihre Stimme durch und war einverstanden, die Geiger stimmten ihre Instrumente, dann spielten sie das Largo, sorgfältig, andächtig, mit aller Ehrfurcht vor dem erlauchten Namen. Als sie es beendet hatten, allargando und mit großem Ton, drehte Gertrud sich langsam herum und blickte die zwei Geiger an. «Das ist wundervoll!» sagte sie leise.

Paul nickte ironisch zustimmend.

«Und wie das hier klingt!» sagte Albin. «Wir haben es ohne Begleitung auf meiner Bude gespielt, erinnerst du dich? Das ist ein Unterschied!»

«Ja … in vierzehn Tagen werden hier andere Töne erklingen», antwortete er bitter. «Es wird prasseln, splittern, krachen …»

«Ach Gott!» unterbrach ihn Gertrud unwillig.

«Und in einem Jahr», fuhr Paul mit grimmiger Genugtuung fort, «werden an dieser Stelle vielleicht ein paar Engroskrämer einander übers Ohr hauen … vielleicht wird man auch Strohhüte fabrizieren, oder es werden hier Maschinen kreischen, es wird nach Schweiß und Öl stinken … kurz, es lebe der Fortschritt! Abbasso la musica!»

«Ach was, ihr zieht nicht in die Wüste!»

«Zum Stockmeier! Dort wird es anders tönen, wenn wir überhaupt noch spielen sollten, was ich bezweifle …»

«Dann wird bei mir gespielt!» rief Gertrud aufwallend. «Überhaupt …» Sie zögerte einen Augenblick, ein zartes Rot glühte auf ihren Wangen, dann erklärte sie entschlossen: «Nächstesmal spielen wir bei mir. Und zwar kommst du zuerst einmal mit Herrn Pfister, dann wollen wir doch dies ganze Konzert probieren, ihr könnt es ein wenig üben! Sind Sie einverstanden, Herr Pfister?»

«Sehr gern!» antwortete Albin. «Wenn Sie nicht zu große Hoffnungen auf mich setzen. Ich bin ein Pfuscher.»

Sie hielt den Kopf schief und schielte ihn von der Seite her ungläubig an. «Ich habe Sie soeben gehört», sagte sie leise. «Das war nicht gepfuscht.»

In diesem Augenblick stieß Fred die Tür auf und verkündete triumphierend: «Sie kommen!»

Severin und Professor Junod traten ein, holten sogleich ihre Instrumente und setzten sich vor die Pulte, auf denen die Stimmen zum Klavier-Quintett von Schumann bereit lagen. Alle kannten das Werk, jeder hatte seine Stimme geübt, und die ersten zwei Sätze gelangen denn auch. Severin, der sich eben noch über politische Fragen ereifert hatte, war zum Glück nicht recht dabei und verzichtete auf Kritik. Fred war zufrieden. In den letzten zwei Sätzen begann es zu hapern, da und dort wurden Mißklänge laut, doch brachten sie alles zu einem guten Ende. Es war Mitternacht.

Severin erhob sich und entspannte den Bogen, Professor Junod stand auch auf. In diesem Augenblick kam Fred vom Notenschrank her und legte eine aufgeschlagene Stimme vor jeden der vier Streicher hin. «Spielt das da noch!» bat er. Es war ein Streichquartett von Mozart, das «Jagdquartett», das er sich gemerkt hatte. «Ach, es ist zu spät, Fred!» sagte Severin unwillig. «Wir können sie da unten nicht so lange warten lassen.» Fred widersprach und wurde sogleich von Gertrud unterstützt, die über die wartende Gesellschaft nicht im geringsten beunruhigt schien. Professor Junod zog bedauernd die Brauen hoch und sah nach der Uhr. Schließlich einigten sie sich auf Pauls Vorschlag, wenigstens den langsamen Satz noch zu spielen.