Schweizerspiegel

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«Ja … er ist oft merkwürdig», antwortete sie, ohne genau zu erfassen, was in Frage stand. Mit einer Hand hielt sie noch immer den Saum des Linnens, das sie bei seinem Eintritt bis unter das Kinn hinaufgezogen hatte. Sie vermied seinen Blick, schaute zur Decke empor, von einem tiefen, dunklen Ernst erfüllt, und erkannte nur an seiner unverfänglichen Bemerkung und am Ton seiner Stimme, wie sehr er bemüht war, ihr jede Verlegenheit zu ersparen. Dankbar ging sie darauf ein.

Es wurde eine der unruhigsten und verworrensten Nächte, die sie seit langem erlebt hatte. Sie fand keinen rechten Schlaf, mußte zweimal hinaus, um die Kinder zu beruhigen, und wurde im Halbschlummer von Träumen geplagt, die sie nach dem Aufwachen noch ängstigten. Ihre Unterhaltung mit Albin vor dem Bücherschrank und das Ereignis in Sarajevo vermischten sich darin auf die unsinnigste Art, aber mit einer so heillosen Entschiedenheit, daß sie künftig das Wort Sarajevo nie mehr hören konnte, ohne an Albin zu denken. Schon beim ersten Versuch, einen Fetzen dieser Traumfolge festzuhalten, erschrak sie, weil der Mörder durchaus nicht der junge Lyzeumsschüler war, sondern Albin Pfister, der lächelnd mit einem Ordonnanzrevolver auf sie zielte und gleich darauf den Erzherzog erschoß. Der Erschossene wurde eilig weggetragen, war aber nicht mehr der Erzherzog, sondern irgendein Mann in Uniform.

Am Morgen, nachdem Hartmann weggefahren war, stand sie in den Unterkleidern mit offenem Haar und übernächtigen Augen trostlos vor dem Spiegel und kam sich so elend und verwüstet vor wie nie in ihrem Leben.

4

Die Beschäftigung mit den Kindern und die übrigen Pflichten des Tages verhalfen Gertrud immer wieder zu einem notdürftigen äußern Gleichgewicht, aber sie spürte, daß sie einem Zustand entgegentrieb, in dem sie sich nicht mehr würde beherrschen können. Dieser Gedanke erschreckte sie mehr als alles andere, und das Bedürfnis, sich auszusprechen, wuchs derart, daß sie stundenlang suchte und überlegte, wem sie sich anvertrauen könnte. Sie merkte erst jetzt, wie oberflächlich sie nach der Bekanntschaft mit Hartmann fast alle ihre Freundschaften begründet hatte. In dieser Not schrieb sie an Susi Brunner, eine Freundin aus ihrer Mädchenzeit, die seit drei Jahren mit einem Angestellten in Bern verheiratet war. Susi lebte in ihrer Erinnerung als kleine, frische Gestalt von wachem, anschmiegsamem Wesen und einer gewissen vertrauensseligen Offenheit, die zu erwidern man gern bereit war.

Schon drei Tage nach der Einladung holte Gertrud die junge Frau im Hauptbahnhof ab und fuhr mit ihr nach Hause. Ihr erster Eindruck war zwiespältig, aber sie bemühte sich, kein Urteil zu fällen, bevor sie ihr ruhig gegenübersitzen würde. Nach dem Sturm des Wiedersehens während der Heimfahrt ließ sie Susi für eine Viertelstunde allein und erwartete sie dann in der Wohnstube zum Tee. Sie hatte sich eben überzeugt, daß die Kleinen noch schliefen, und die Tür zum Kinderzimmer sorgfältig geschlossen, als Susi eintrat.

Gertrud bemerkte zuerst, daß sie das Kleid gewechselt hatte, aber in diesem formlosen grünen Umhang noch ebenso unvorteilhaft aussah wie im Reisekleid. Sie war dicker geworden und schien infolgedessen noch kleiner als sonst, auch ihr früher etwas spitzmausiges Gesicht war voller und unbestimmter, doch in ihren Bewegungen und in den fröhlich zudringlichen Augen äußerte sich ihr Wesen noch auf die alte lebhafte Art.

Mit einem freudig aufleuchtenden Lächeln trat sie rasch herein, ergriff mit beiden Händen Gertruds linken Oberarm, schmiegte sich an und begann sogleich im Ton eines erregten kleinen Mädchens hemmungslos zu plaudern. «Ach Trudi, ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut, daß wir uns endlich, endlich wiedersehen. Ich habe ja entsetzlich viel an dich gedacht und wäre schon lange gern gekommen, wenn du nur ein Zeichen getan hättest. Aber ich mußte ja denken, du habest mich ganz vergessen, und ich getraute mir nicht, dich zu uns einzuladen; wir hatten ja zuerst auch nur ein paar Zimmer. Aber jetzt sind wir umgezogen, du, es ist eine ganz entzückende Wohnung und wir können sehr gut ein Gastzimmer einrichten, du mußt unbedingt diesen Sommer noch kommen …»

«Wollen wir nicht zuerst Tee trinken?» fragte Gertrud lächelnd, legte den Arm um ihre Mitte und führte sie zum kleinen Tisch.

Susi folgte kichernd, drehte sich aber plötzlich wieder der Freundin zu und sagte verzweifelt: «Weißt du, ich habe furchtbar zugenommen, es ist entsetzlich, ich weiß gar nicht was machen. Nach dem Heiri ging es noch, aber nach dem Hansli bin ich einfach immer dicker geworden, da und da und da, ach überall, du siehst es ja …» Sie zupfte mit trübseliger Miene über all den betreffenden Körperstellen so drollig an ihrem Kleid, daß Gertrud laut auflachen mußte.

«Ach ja, du lachst mich nun auch noch aus», sagte sie traurig, fuhr aber Gertrud plötzlich scherzhaft heftig an: «Was machst denn auch du? Dir sieht man ja gar nichts an, du bist immer noch …»

«Ho je, Susi, das meinst du nur! Aber komm jetzt, wir wollen uns doch setzen … so … wieviel Zucker nimmst du? Zwei, gern. Nein, nein, ich bin auch schwerer geworden. Aber ich habe immer etwas Sport getrieben, weißt du. Übrigens … was hat das zu bedeuten! Etwas schwerer oder leichter … darauf kommt es doch nicht an.»

«Ja, du hast gut reden, aber wenn du so wärest wie ich … die Männer sehen ja so darauf, es ist abscheulich. Meiner behauptet zwar immer, ich sei gar nicht dick, aber ich merke doch ganz genau … ach Gott, Trudi, ich habe dir ja noch so viel zu sagen … und auf deinen bin ich furchtbar gespannt, ich kenne ihn ja noch gar nicht. Er ist Oberstleutnant, gelt? Ich habe eigentlich ein wenig Angst vor ihm. Meiner ist ja nur Angestellter, aber er verdient doch schön, und weißt du, er kann halt lieb sein, wenn er will, ja jeh! Aber es ist nicht mehr wie am Anfang … die Leidenschaft verfliegt bei den Männern. Wenn er abends ausgegangen ist und dann so heimkommt, und ich bin noch wach und hab’ ihn erwartet, und er dann … weißt du … hast du das mit deinem nicht auch schon erlebt, daß er dann …» Sie fiel jetzt in einen gedämpften, hastigen Ton, beugte sich vor und schaute vertraulich lauernd zu ihrer Freundin auf.

Gertrud blickte ernüchtert ins Leere und wußte schon jetzt, daß sie niemals imstande sein würde, sich Susi anzuvertrauen. «Und ich habe sie für eine ganze Woche eingeladen!» dachte sie bestürzt. «Wie werde ich das gute Geschöpf wieder los?»

Im weiteren Verlauf des Nachmittags stellte sie sich auf eine bestimmte, etwas gönnerhafte Haltung ein, die ihr erlaubte, Anteilnahme an Susis Geständnissen zu verraten, ohne sich zu vergeben oder sie gar erwidern zu müssen.

Abends, als sie im Begriffe war, Susi ihrem Manne vorzustellen, ertappte sie sich auf einer Regung, die sie sogleich entschlossen bekämpfte: Sie schämte sich dieser Freundin. Sie sah voraus, daß Hartmann das schlampige, schwatzhafte Weibchen kühl verachten, aber ihm dennoch zuvorkommend und freundlich begegnen werde. «Er soll sie nicht verachten, er hat kein Recht dazu, es ist lauter Dünkel und Überheblichkeit», dachte sie und behandelte dann Susi bei Tische mit Absicht besonders freundschaftlich; aber zugleich wunderte und ärgerte sie sich, wie affektiert sich dies einst so natürliche Wesen vor Hartmanns Augen benahm. Nach dem Essen fing sie einen kurzen, ironischen Seitenblick ihres Mannes auf, den sie genau verstand. «Ach was, es geht dich gar nichts an!» dachte sie trotzend und fuhr in der Folge fort, Susi gegen ihr eigenes Gefühl mit aller Herzlichkeit zu behandeln.

Indessen trat ein häusliches Ereignis ein, das ihr sonst wenig zu schaffen machte, unter den Umständen aber, mit denen es zusammentraf, ihre Geduld auf die letzte Probe stellte. Herr und Frau Frey von Wurzach, Verwandte ihres Mannes, die ein Gut auf dem Lande bewohnten, meldeten sich zu einem kurzen Aufenthalt im Hartmannschen Hause an und wollten noch rechtzeitig zum Abendessen eintreffen. Gertrud mußte sie notgedrungen bei der Schwiegermama im oberen Stock unterbringen, aber sie kannte die damit verbundenen Schwierigkeiten zu gut, um vor der Heimkehr ihres Mannes auch nur einen Finger zu rühren. Fast gleichzeitig empfing sie die Einladung «zu einer kleinen musikalischen Soiree» auf diesen Abend bei Professor Junod. Ihr erster und einziger Gedanke dabei war, daß sie dort mit Albin Pfister zusammentreffen werde. Sie begann sogleich aufgeregt zu überlegen, ob sie der Einladung folgen solle oder nicht, sah aber voraus, daß diese Überlegung zu keinem vernünftigen Schlusse führen konnte, und stellte in nervöser Hilflosigkeit alles auf die Laune des letzten Augenblicks ab.

Hartmann, der seine Verwandten schon in der Stadt getroffen hatte, kam kurz vor dem Nachtessen mit ihnen angefahren. Gertrud führte die Gäste vorläufig ins Wohnzimmer und nahm sogleich ihren Mann beiseite. «Es ist dann noch nichts bereit!» sagte sie ziemlich heftig, als ob Hartmann daran schuld wäre. «Ich kann Susi nicht hinauswerfen, nicht wahr, und mit Mama kannst du meinetwegen selber reden.»

«Aber ich bitte dich! Willy sagte mir doch, daß er sich bei dir angemeldet hat.»

«Ach, ich mag nicht mit Mama streiten … und überhaupt, ich hab’ mich schon genug geärgert.»

«Schön, dann werden wir beide zusammen nach dem Essen die Sache bei Mama in Ordnung bringen!» erwiderte er mit unbewegter Miene in einem kalt abschließenden Ton und wandte sich ab.

«Nein, nein, jetzt, jetzt muß sie in Ordnung gebracht werden! Nach dem Essen kannst du bei Mama nichts anfangen, sie läßt dich gar nicht herein … und nachher hab’ ich auch keine Zeit mehr …»

«Wieso keine Zeit mehr?»

«Weil ich ausgehe.»

«Hm, erlaubst du … das ist kein sehr geeigneter Abend, um auszugehen … das verschiebst du doch besser!»

«Ich kann es nicht verschieben, es handelt sich nicht um mich allein …»

 

«Aha, Musik also? Hm!» Er blickte sie von der Seite her verächtlich forschend an.

Sie kehrte ihm mit einer entschiedenen Wendung schweigend den Rücken zu und lief weg. Einen Augenblick vorher hätte sie noch nicht zu sagen vermocht, wie sie den heutigen Abend verbringen werde; sie hatte ohne jede Überlegung geantwortet.

Hartmann schaute ihr einen Augenblick finster nach, wobei seine rotbraunen Kinnbacken über dem Uniformkragen in eine leise mahlende Bewegung gerieten, dann ging er rasch entschlossen zu Mama hinauf.

Die alte Frau Hartmann bewohnte mit zwei Dienstboten den oberen Stock und führte ein peinlich geregeltes, von tausend eingebildeten Plagen heimgesuchtes Dasein. Sie begann den Tag um acht Uhr mit merkwürdigen Turnübungen und einem darauf folgenden warmen Bad, dann kehrte sie ins Bett zurück und nahm das Frühstück ein, bis Fräulein Keller, eine wohlgenährte fröhliche Person mit einem goldenen Klemmer im rosigen Gesicht, zur Massage aus der Stadt eintraf. Gegen zehn Uhr erhob sie sich, und etwa eine Stunde darauf, nachdem sie von der Masseuse noch frisiert worden war, erschien sie in der häuslichen Öffentlichkeit. Von diesem Augenblick an bis zur Nachmittagsstunde, in der sie sich zur Ruhe hinlegte, erlebte sie fast nichts als Ärger und Sorgen, besonders im Hinblick auf Küche und Mittagessen. Vor dem Tee begann sie «Ordnung zu machen», eine Beschäftigung, die sich auf den hintersten Knopf erstreckte, und zum Tee selber empfing sie dann gelegentlich ihren Sohn oder die Schwiegertochter mit einem der Kinder. (Mit beiden Kindern zugleich durfte Gertrud nie erscheinen, da sich der Knabe sonst angeblich der Aufsicht entzog und fürchterliche Dinge anstellte.) Häufig fuhr sie daraufin die Stadt, um dies und jenes einzukaufen, wobei sie durch ihr umständliches Nörgeln und ihre Unentschlossenheit sich jedem Ladenmädchen unvergeßlich einprägte. Sogleich nach dem Nachtessen erschien Fräulein Keller wieder, der Massage folgten ausgedehnte Waschungen, und um zehn Uhr endlich begab die geplagte Frau sich seufzend zur Ruhe.

Als ihr Sohn eintrat, kam sie aus der Küche gelaufen, eine weißhaarige, noch immer sehr stattliche Erscheinung mit großen, anklagenden Augen in einem abgenutzten, leichenblaß gepuderten Gesichte. «Albrecht!?» rief sie mit erhobenen Händen, flehend und fragend zugleich, erschrocken über seinen Eintritt zu dieser ungewohnten Stunde.

«Guten Abend, Mama!» grüßte Hartmann. «Wie geht’s dir?»

«Ach, Albrecht, quäl mich nicht lange!» rief sie. «Sag mir lieber, was dich herführt!»

«Nichts von Bedeutung! Willy und Mathild sind da und lassen dich grüßen.»

«Albrecht, ich kann sie nicht empfangen, mein Gott … es ist ja viel zu spät, das weißt du doch … du machst ihnen das begreiflich, gelt, sei so gut! Und ich kann auch nicht hinunterkommen …»

Hartmann, der Mama jederzeit mit Geduld und Höflichkeit behandelte, nickte beruhigend. «Das sollst du auch gar nicht», sagte er. «Ich wollte dich nur bitten, uns das Gastzimmer zur Verfügung zu stellen …»

«Albrecht!!»

«Du wirst nicht das geringste damit zu tun haben, Mama, das kann ich dir versichern …»

«Nichts damit zu tun haben! Mein Gott, Albrecht, du hast ja keine Ahnung, was ein Haushalt ist. Und ich habe doch nur zwei Mädchen …!»

«Was soll ich machen, Mama? Unser Gastzimmer ist besetzt, Gertrud hat eine Freundin eingeladen. Soll ich Willy und Mathild wieder fortschicken?»

«Warum muß denn Gertrud eine Freundin einladen! Sie weiß doch …»

Hartmann entgegnete nun nichts mehr, er blickte Mama nur mit betrübter Miene an und wartete geduldig aufihre Zusage. Als die Frau dies merkte, rang sie die Hände, bat ihn, einen Augenblick zu warten, und kehrte hastig in die Küche zurück. Hartmann hörte sie verzweifelt klagen, weil in ihrer Abwesenheit die Köchin den Salat angerichtet hatte. «Ich habe Ihnen doch deutlich gesagt, Sie sollen warten!» rief sie. «Jetzt haben Sie’s verpfuscht …»

Als sie wieder herauskam, mit der Absicht, den Sohn in die Wohnstube zu führen, um ihm dort die Schwierigkeiten klarzumachen, trat Hartmann den Rückzug an. «Also danke, Mama!» sagte er rasch. «Ich werde es so anordnen, und du wirst gar nichts davon merken. Auf Wiedersehen!» Er nickte mit freundlicher Miene und zog schnell die Korridortüre hinter sich zu.

«Albrecht! Ihr richtet mich zugrunde!» rief sie ihm nach.

Er traf die neuen Gäste im Eßzimmer und wurde von seinem Vetter Willy sogleich in ein Gespräch über militärische Dinge verwickelt, im Augenblick, als von der andern Seite her Gertrud und Susi eintraten.

Gertrud stellte zuerst die Frauen einander vor. Susi streckte mit freudig bereitem, etwas schwärmerischem Lächeln rasch und ahnungslos die Hand aus, erlebte aber zu ihrem unaussprechlichen Ärger, daß die junge Frau auf diese herzhafte Art nicht einging.

Frau Mathilde war eine sehr aufrechte, schlanke Gestalt mit einem regelmäßigen Gesicht von strenger, offenbar bewußter Schönheit und mit prachtvollen, mild leuchtenden Schultern im flaumigen Rahmen einer weit zurückgeschobenen Boa. Ohne Susi mehr als die schlaffen Finger und ein kühles Nicken zu gönnen, wandte sie sich mit einer Bemerkung über den Reitunfall eines bekannten Offiziers an Gertrud, wobei sie mit der erhobenen, leicht aus dem Handgelenk fallenden Rechten lässig das eine Ende der Boa liebkoste. «Ich finde es bedauerlich», sagte sie. «Aber er hätte dieses Pferd niemals reiten dürfen, und man hat ihn ja auch vorher gewarnt.»

Gertrud empfand das Verhalten Mathildes als eine Beleidigung ihrer Freundin und war empört, aber zugleich ärgerte sie sich über Susis plebejische Zudringlichkeit. «Ach, das kann schließlich jedem passieren», erwiderte sie gereizt und wandte sich ab, um etwas zu flüchtig auch Susi und Herrn Frey einander vorzustellen.

Hauptmann Frey von Wurzach, ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann mit hohem, schmalem Schädel, spärlichem, in der Mitte gescheiteltem Haar und einer langen, steil abfallenden Nase gebärdete sich auch im Zivil durchaus als Offizier. Sein Rock war eng in die Taille geschnitten; er trug ihn zugeknöpft, hatte die Hände flach in die Seitentaschen geschoben und hielt sich äußerst gerade. Der hohe, steife Kragen erlaubte ihm nicht, den Hals frei hin und her zu drehen; wenn er sich im Gespräch nach rechts oder links zu wenden hatte, drehte er zugleich mit dem Kopf auch den Oberkörper herum. Vor Susi nahm er die Hände aus den Taschen, führte mit zusammengerückten Absätzen eine sehr knappe Verbeugung aus und sagte mit einem Lächeln, das Gertrud arrogant fand, völlig unbeteiligt: «Sehr angenehm!»

«Du kannst Willy gratulieren, Gertrud, er kommt zum Generalstab», bemerkte Hartmann mit der unentschiedenen, leicht ironischen Miene, die seine wahre Meinung weder recht verbarg noch preisgab.

«Na ja, dem entgeht man nicht», sagte Willy auf Gertruds kühl anerkennende Kopfbewegung überlegen lächelnd. Er hatte eine hohe, etwas näselnde Stimme, einen gemacht schneidigen Tonfall und die Gewohnheit, seine Mundart, die ihm nicht genügte, fortwährend mit hochdeutschen Brocken zu vermengen.

Nachdem die kleine Gesellschaft sich zum Essen hingesetzt hatte, nahm das Gespräch bald die unvermeidliche Wendung zum österreichisch-serbischen Konflikt, der als Folge des Attentats von Sarajevo alle Welt beschäftigte. «Serbien soll ja mobilisieren», sagte Frey. «Lächerlich!»

«Nicht ganz lächerlich!» wandte Hartmann ein. «Ein Volk, das derart provoziert wird wie jetzt die Serben … ob verdient oder nicht, ist eine andere Frage … hat sich vorzusehen. Man liest ja täglich von österreichischen Ausschreitungen gegen Serben; kein Wunder, wenn ihnen die Galle überläuft.»

«Na ja, aber die Serben sind doch eine Schweinebande! Ich bin fest überzeugt, daß sie alle mit den Attentätern unter einer Decke stecken. Und diese Mordbengel hatten ja eingestandenermaßen beschlossen, daß sie als Serben für ihr Land sterben wollten. Ausgezeichneter Heldentod, wenn solche Kanaillen für ihr dreckiges Wanzenparadies am Galgen baumeln!»

Hartmann lachte laut, fing zugleich einen erbitterten Blick Gertruds auf und beeilte sich, seinem Vetter zu antworten. Gertrud konnte ihre gereizte Stimmung schon nicht mehr verbergen, und die Gäste merkten es.

Das Essen war kaum zu Ende, als Frau Hartmann Gertrud dringend zu sich bitten ließ. Gertrud schickte das Kindermädchen hinauf und ging in ihr Zimmer, wo sie hastig eine unnötige, in diesem Augenblick sinnlose Beschäftigung mit den verschiedensten Dingen begann. Sie ordnete die Kinderkleidchen, die schon geordnet waren, legte für Albrechtli ein frisches Hemd bereit und rückte die Gegenstände auf dem Toilettentisch zurecht, bis jemand anklopfte.

Susi trat ein und kam mit erschrocken fragendem Blick rasch auf sie zu. «Gertrud, was ist mit dir? Mein Gott, du warst beim Essen so … Was hast du? Red doch, du bist ja ganz …»

Gertrud lief hinaus, ohne zu antworten. Im Eßzimmer, das Hartmann mit den Gästen bereits verlassen hatte, wurde sie vom Kindermädchen eingeholt. Frau Hartmann, meldete das Mädchen, habe oben im Gastzimmer die Bettwäsche auswechseln wollen, inzwischen sei aber Fräulein Keller gekommen, und das Zimmermädchen wisse nicht, wo sich der Schlüssel zum Wäscheschrank befinde, jetzt seien die Betten noch nicht angezogen …

«Nehmen Sie von unserer Wäsche!» sagte Gertrud, ergriff eine Schale mit kleinem Gebäck und trug sie hastig ins Wohnzimmer hinüber.

In diesem Augenblick öffnete Hartmann vom Gang her die Tür, ärgerlich, flüchtig, auf der Suche nach seiner Frau, während ihm Willy vom obern Stock herab mit schnarrender Stimme etwas zurief. «Du bekümmerst dich also um nichts mehr?» fragte Hartmann leise, im kalt drohenden Ton einer letzten Frage.

«Macht was ihr wollt, macht was ihr wollt!» schrie Gertrud.

«Schrei nicht!» zischte Hartmann und schloß eintretend rasch die Tür.

Gertrud zitterte, ihr Gesicht nahm den Ausdruck krampfhaften Weinens an. Sie fühlte, daß sie die Herrschaft über sich verloren hatte und nahe daran war, sinnlos loszuschreien. Hochatmend lief sie ins Kinderzimmer.

Hartmann folgte ihr sofort.

«Was willst du?» fuhr sie ihn an, wobei sie der schlafenden Kinder wegen die Stimme unwillkürlich dämpfte, und blickte ihm mit einem Haß in die Augen, der ihm über alle Worte und Vermutungen hinaus zum erstenmal etwas von ihrem wirklichen Zustande verriet.

«Ich habe mit dir zu reden, bitte setz dich!» antwortete er, und im nächsten Augenblick, als sie weglaufen wollte, packte er ihr Handgelenk.

«Laß mich!» fauchte sie und versuchte ihm die Hand zu entreißen, das Gesicht entstellt vor Wut.

Beherrscht, entschlossen, mit steinharter Miene stieß er sie vor sich her zum Diwan und ließ sie erst los, als sie den Widerstand aufgab und sich hinwarf. Er riegelte beide Türen ab, sah nach den Kindern, die im Schatten des abgedunkelten Lichtes lagen, und begann, während er sich ihr langsam näherte, in unterdrücktem Ton, aber zuerst noch jeden Satz heftig ausstoßend: «Jetzt wird Schluß gemacht. Mehr lasse ich mir nicht gefallen. Ich habe dir monatelang zugesehen, ohne ein Wort zu sagen, du hättest Zeit gehabt, Vernunft anzunehmen. Ich war auf Launen gefaßt und ich hätte noch länger gewartet. Aber daß du schließlich Skandal machen würdest, das habe ich nicht erwartet. Es ist abscheulich, wie du dich bei Tische benommen hast, und es war vorhin im höchsten Grade rücksichtslos, mich so anzuschreien, daß Willy und die Mädchen es hören konnten. Ich will keinen Skandal, verstehst du! Was zwischen uns vorfällt, bleibt unter uns. Das ist das Wenigste, was ich von dir verlangen kann, aber das verlange ich. Über Willy und Mathild magst du denken wie du willst, aber wenn sie unsere Gäste sind, hast du sie als Gäste zu behandeln. Eine Schande, wie du uns bloßgestellt hast! So etwas ist mir vollkommen unbegreiflich …»

Gertrud verbarg das Gesicht im Arm und schluchzte vor Mitleid mit sich selber. Hartmann war nie ein sanfter Gatte gewesen, aber daß er ihr auch auf diese lieblose Art Gewalt antun könnte, hatte sie nicht erwartet. Sie fühlte sich grenzenlos entwürdigt und hörte nicht auf seine Vorwürfe. Plötzlich aber begann er von «diesem Herrn Pfister» zu sprechen. Ihre erste Regung war, aufzufahren und ihm jedes weitere Wort zu verbieten. In diese zarteste Beziehung einzudringen hatte er kein Recht, es war ein roher Übergriff in das Reich ihrer Seele, ihrer einzigen Heimat in der Fremde dieser Ehe. Aber sie war kaum imstande, sich auch nur zu regen, und begann unter seinen erbarmungslosen Worten den Atem anzuhalten wie unter Stockhieben auf ausgesucht empfindsame Stellen.

 

«Ich wollte noch nicht darüber reden, aber einmal muß es heraus», fuhr er fort. Er sprach noch immer in gedämpftem Ton, aber ruhiger, bestimmter, vom Bestreben erfüllt, ihr jetzt ein für allemal knapp und klar seine Meinung zu sagen. «Du hast Beziehungen zu diesem jungen Mann … wenn man ihm Mann sagen darf. Wie weit diese Beziehungen gehen, kann ich nicht wissen, ich habe keine Beweise. Aber so etwas sieht und spürt man. Man kann’s euch von den Augen ablesen. Merke dir nun bitte folgendes: Wenn dieser Herr sich hier noch einmal zeigen sollte, werde ich ihn hinausohrfeigen. Diese Beziehungen haben aufzuhören. Ich werde sie unter keinen Umständen länger dulden. Und es wird auch nicht weitergemogelt. Ich will eine vollständig klare Situation haben. Bist du dazu nicht bereit, so bleibt dir logischerweise nur übrig, die Scheidung zu verlangen. Dann kommt es zu einem Skandal, über den ganz Zürich reden wird. Die Schuld daran wirst du allein zu tragen haben, denn mir kannst du nicht das geringste vorwerfen, was dich vor Gericht rechtfertigen würde. Du wirst dich auf jeden Fall im Unrecht befinden, auch vor der Öffentlichkeit. Alle anständigen Leute werden auf meiner Seite stehen, deine Eltern mit eingeschlossen. Auf deiner Seite wird nur dieser blasse Jüngling stehen, ein Dichterling, soviel ich weiß, ein armer Schlucker. Ich bin überzeugt, daß auf die Dauer für dich dabei nichts herauskommen würde als eine Blamage. Damit bin ich fertig. Ich werde nicht mehr davon anfangen, außer wenn du selber es wünschest.» Mit einem letzten erzürnten Blick wandte er sich von ihr ab und ging ruhig hinaus.

Gertrud richtete sich mit geröteten Augen und verwirrtem Ausdruck langsam auf, horchte eine Weile und erhob sich plötzlich, um die Tür, durch die er das Zimmer verlassen hatte, abzuriegeln. An der Tür blieb sie, rasch und aufgeregt atmend, einen Augenblick stehen, um abermals zu horchen, dann überzeugte sie sich, daß auch an der andern Tür der Riegel vorgeschoben war. «Ich bin fertig mit diesem Mann», dachte sie. «Ich werde nie, nie mehr etwas mit ihm zu tun haben. Daß er derart roh und rücksichtslos sein könnte, hätte ich nicht erwartet … oder doch, ich habe es geahnt, ich habe gewußt, daß es so enden werde … Und jetzt wälzt er alle Schuld auf mich. Das ist unerhört, sogar wenn er einen Grund dazu hätte … aber er hat keinen Grund, er ist grauenhaft ungerecht, er unterschiebt mir irgendetwas und stößt mich weg, ohne auch nur danach zu fragen … Beziehungen zu Albin? Aber was habe ich denn getan? Ich habe nichts getan … Und selbst wenn Albin mich lieben würde … aber was weiß ich denn, was weiß ich? Er hat nie ein Wort gesagt, er hat nur …» Ohne genau zu bedenken, was er denn eigentlich getan habe, erinnerte sie sich jetzt an die paar Augenblicke, in denen sie seine reine, scheu zurückgehaltene Liebe gespürt hatte; aber es widerstrebte ihr sofort, mit dem Verstand daran zu rühren wie an etwas Meßbarem. «Nein, das soll er mir nicht beschmutzen! Das steht turmhoch über alldem, was hier geschehen ist, und Albin selber steht turmhoch über ihm. Ein Dichterling, ein armer Schlucker! Wie brutal er mir das hingeworfen hat! Ja, er ist brutal, er hat mich behandelt, wie man kein Dienstmädchen behandeln würde. Und dazu spricht er noch von Scheidung!»

Bei diesem Gedanken wurde ihr schwach und kalt. Weder vor noch während ihrer Bekanntschaft mit Albin hatte sie jemals an diese Möglichkeit gedacht, wie sie denn überhaupt nichts mehr auf irgendwelche Folgen hin bedacht, sondern aus lauter Angst vor der Zukunft nur noch von einem Tag in den andern hinübergelebt hatte.

Sie setzte sich auf den Diwan, aber im nächsten Augenblick erhob sie sich aufgeregt wieder. «Ich kann nicht hier bleiben, sonst werde ich verrückt … es muß etwas geschehen … Ach, was soll ich tun, was soll ich tun?» Ihr nächster Gedanke war, Mama aufzusuchen und ihr alles zu bekennen, aber sie sagte sich sogleich, daß Mama für das Verzweifelte ihrer Lage kein Verständnis hätte. «Sie würde mir nur Vorwürfe machen und gar nicht begreifen, wie furchtbar es für mich ist … und wenn ich sagte, daß Albin … sie würde es niemals begreifen … sie kennt Albin nicht, und wenn sie ihn dann mit diesem Menschen vergliche, den sie ja für einen Edelmann hält … nein! Albin ist ja tausendmal mehr wert als dieser Mensch, der mir den Umgang mit ihm verbieten will … Verbieten! Als ob ich seine Leibeigene wäre! Niemals! Überhaupt … ich wollte zu Junods fahren, und er soll mich nicht daran hindern … er weiß, daß ich Albin treffen will, und wenn ich jetzt hierbleibe … diese Genugtuung soll er nicht haben … ja, ich muß Albin treffen, das ist das einzige, was ich jetzt tun kann …»

Zu welchem besondern Zweck sie ihn jetzt treffen und was sie ihm sagen wollte, war ihr durchaus unklar, aber sie klammerte sich zuletzt an diesen Gedanken wie der Ertrinkende an den nächsten festen Gegenstand, der die Flut überragt, gleichgültig, ob er dadurch gerettet werde oder nicht.

5

Hastig begann sie Kleid und Haare in Ordnung zu bringen, wusch sich die Augen, klingelte dem Mädchen und ließ einen Taxi bestellen. Sie benutzte die erste Gelegenheit, das Haus unbemerkt zu verlassen, und wartete in der Dämmerung des Gartens auf den Wagen. Auf der ganzen Fahrt wurde sie alsdann von der dunklen Vorstellung begleitet, daß ihr eine entscheidende Stunde bevorstehe, die all das Gemeine, Erniedrigende tilgen werde; erst vor dem ihr wohlbekannten Hauseingang erwachte sie zum nüchternen Bewußtsein, daß sie sich vorläufig nicht zu Albin, sondern in Gesellschaft begab, wo sie Haltung bewahren und eine unbefangene Miene zeigen mußte.

Sie wurde von Tante Klara, der Frau des Professors, im Hausgang empfangen und leise in die Wohnstube geführt. Aus dem Salon herüber drang der etwas rauh gespielte letzte Satz eines Streichquartetts. «Wie nett, daß du doch noch gekommen bist!» sagte Frau Klara langsam und blickte sie freundlich an.

«Ja, es ging wirklich nicht früher», erwiderte Gertrud. «Willy und Mathild Frey übernachten bei uns, und dabei war das Gastzimmer schon besetzt … es ist noch eine Freundin bei mir … ich hatte entsetzliche Scherereien, ich bin noch ganz konfus …»

«Ach, du Armes … ja, das kann man sich denken … komm sitz erst ein wenig ab!»

Gertrud war nahe daran, dieser gütig heitern, in menschlichen Dingen erfahrenen und verständnisvollen Frau unvermittelt alles zu gestehen. Aber in diesem Augenblick fragte Frau Klara neugierig nach dem Ehepaar Frey von Wurzach; sie mußte antworten, und der Augenblick kam nicht wieder.

Sie gingen in den Salon hinüber, wo Gertrud bei den Pulten rasch die vier Streicher begrüßte, den Professor, Albin, ihre Brüder Severin und Paul. Ohne sich in ein Gespräch einzulassen, trat sie zurück und stand plötzlich vor Fred, der sich mit der Hilfe eines Stockes schmunzelnd vom Sofa erhob. «Was, du bist auch da?» fragte sie erstaunt. «Wie geht’s mit dem Fuß?»

«Oh, ganz ordentlich … ich muß auf höheren Befehl noch die Krücke da brauchen, aber … es geht auch ohne.»

Gertrud setzte sich in das andere Ende des Sofas, zur Rechten der Hausfrau, die auf einem Stuhle Platz nahm, und erkundigte sich bei Fred nach den Eltern.

Als die Streicher unmittelbar vor dem Beginn eines neuen Quartetts noch einmal leise die Stimmung der Saiten prüften, bemerkte sie, daß Albin, mit dem Kinn die Geige haltend, sie von unten her kurz und forschend anblickte. Sie spürte sogleich, daß sie errötete, wandte den Blick ab und schaute nicht mehr hin. Während des Spieles saß sie mit geschlossenen Augen da, in einer Beklommenheit des Herzens, die sie vorerst nur undeutlich zur Besinnung kommen ließ, was und wie gespielt wurde. Die gewohnte Umgebung aber, die wechselnden Sätze einer bekannten und geliebten Musik, der Zwang, in den Pausen zu plaudern, und alle diese vertrauten Gesichter entrückten sie doch ihrem wirren Zustand ein wenig.