Falk 8: Pippo di Fiumes Schatz

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Sari: Falk #8
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Das war mehr als seltsam, in der Tat.

»Er wurde krank. Er stöhnte immerfort, dass der Bauer ihn in Gestalt eines Teufels peinigte.«

Oh, dieser verfluchte Aberglaube!, dachte Falk. »Auf die Idee, dass der Bauer die Wahrheit sagte, und der Vogt diese Komödie aufführte, um eine Untersuchung wegen Veruntreuung gegen sich abzuwenden, ist wohl niemand gekommen, oder?« Falk war sich durchaus bewusst, was er dem Vogt da vorwarf. Aber das erschien ihm wesentlich wahrscheinlicher, als dass der Bauer den Vogt verhext hatte.

»Herr!«, fuhr der Hauptmann ihn an.

»Ich nehme an, der Hof mit den Ländereien ist als kleine Wiedergutmachung in den Besitz des Vogtes übergegangen«, mutmaßte er weiter.

»In der Tat! Woher wisst Ihr …?«

Falk lachte auf. »Dazu braucht man kein Hellseher zu sein!« Er hatte nur eins und eins zusammengezählt.

»Ihr … Ihr glaubt nicht an Geister und übersinnliche Erscheinungen?«

»Nein.« Das tat Falk nun wirklich nicht. Seiner Meinung nach gab es für alles eine logische Erklärung. Man musste nur lange und genau genug danach suchen.

»Dann behaltet diese Meinung besser für Euch, wenn ich Euch einen guten Rat geben darf«, warnte der Hauptman ihn. »Graf Colleverde kann sehr ungnädig werden. Er ist ein fanatischer Anhänger der Geisterkunde.«

»Oh!«, entfuhr es Falk. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt! Ihnen blieb aber auch gar nichts erspart auf dieser Reise.

Bingo schwieg, hing offenbar seinen Gedanken nach.

Irgendwann deutete der Hauptmann auf ein gewaltiges Anwesen auf einem Hügel. »Das ist das Schlösschen der Familie di Fiume. Übrigens, man munkelt, dass Lucia di Fiume eine Hexe sei!«

Falk seufzte. Auch das noch. »Großer Himmel! Bingo, wohin hast du mich geführt?«

Doch ehe der Ritter etwas erwidern konnte, fuhr der Hauptmann fort. »Oh! Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ihr Diener hat das Büchlein gestohlen und ist von ihr aus der Entfernung durch schwarze Kunst getötet worden!«

»Wie?«, fragte Bingo.

»Ah!«, entfuhr es Falk.

Plötzlich zog der Hauptmann sein Pferd herum.

»He! Wo wollt Ihr hin?«, fragte Falk, dessen Pferd scheute.

»Himmel, ein teuflischer Bann liegt auf dem Büchlein! Jeder ist in höchster Gefahr, der es bei sich trägt! Ich muss sofort den Vogt warnen. Reitet schon voraus und berichtet Graf Colleverde, was geschehen ist!«

Bingo schnaubte abfällig. »Ja sind denn die Leute hier während der letzten fünf Jahre alle übergeschnappt?«

Falk zuckte ratlos mit den Schultern. Die Loyalität des Hauptmanns in allen Ehren, aber … »Komm, wir müssen Lucia di Fiume warnen. Ich möchte verhindern, dass noch ein unschuldiger Mensch auf dem Scheiterhaufen endet.«

»Hoffentlich komme ich nicht zu spät, und der Vogt ist dem Hexenbann nicht schon erlegen!« Große Sorge und Angst standen dem Mann ins Gesicht geschrieben.

»Das ist doch Unsinn!«, versuchte Falk ihn zu beruhigen. »Mein Freund Bingo hat das Büchlein die ganze Nacht bei sich getragen, ohne dass etwas geschehen ist!«

Doch der Hauptmann hörte nicht auf ihn und preschte eilig davon, eine Staubwolke aufwirbelnd. Sein Umhang flatterte im Wind.

»So hört doch!«, rief Falk ihm hinterher.

»Lass ihn, Falk! Der Hauptmann steckt so voller Aberglauben, dass er ihm schon aus den Ohren quillt«, meinte Bingo.

»Ja, und nach den Erzählungen des Hauptmanns unterscheidet sich Graf Colleverde leider in dieser Beziehung nicht sehr von ihm.«

Bingo nickte zustimmend.

»Großer Himmel! Wohin hast du mich geführt, Bingo?«

Der Gaukler griff an seine Mütze mit der Feder. »Es tut mir leid, Falk. Die Leute hier waren vor fünf Jahren nett und vernünftig. Sie müssen in der Zwischenzeit verrückt geworden sein.«

Offensichtlich. Anders konnte Falk es sich auch nicht erklären. »Komm! Bevor wir zu Graf Colleverde reiten, warnen wir Fräulein Lucia di Fiume.«

Zum Glück war Bingo derselben Ansicht. »Ja! Diesen Narren traue ich alles zu.« Er folgte seinem Freund. »Schade, dass wir das Gedichtbändchen nicht zurückgeben können.«

»Dieses Gedichtbändchen … Damit muss es eine besondere Bewandtnis haben«, überlegte er laut. »Ist dir nicht irgendetwas daran aufgefallen, Bingo?« Schließlich hatte sein Begleiter im Gegensatz zu ihm darin gelesen. »Ich meine Anmerkungen, Unterstreichungen oder Ähnliches.«

Angestrengt dachte Bingo nach und schüttelte schließlich nach einer Weile bedauernd den Kopf. »Nein, Falk! Während ich Wache hielt, habe ich das Büchlein nur überflogen. Es stehen nur Gedichte darin.« Er verdrehte die Augen. »Schmalzige Liebesgedichte, wenn du es genau wissen willst.«

Nun, das brachte sie nicht weiter.

*

Während Bingo und Falk zum Anwesen von Lucia di Fiume ritten, war der Hauptmann unterwegs zurück zum Vogt.

Er machte sich große Sorgen um ihn. Hoffte, dass der Fluch noch nicht zugeschlagen hatte.

Fest drückte er dem Pferd die Hacken in die Flanken und trieb es zur Eile an. Er spürte die Muskeln des Tieres arbeiten. Schaum tropfte ihm vom Maul.

Weiße Schönwetterwolken standen am Himmel. Ein Schwarm Vögel zog über ihn hinweg.

Der Weg zurück erschien ihm nahezu unendlich.

Dann tauchten plötzlich Reiter in der Ferne auf. Und tatsächlich waren es seine Männer, angeführt vom Vogt.

Gott sei Dank! Unendliche Erleichterung durchfuhr ihn. Der Vogt lebt!

Kurz darauf zügelte er sein Pferd.

»Hölle, Tod und Teufel!«, stieß der Vogt aus. »Die beiden Fremden sind Euch entwischt!«, warf er ihm umgehend vor. »Es war bodenloser Leichtsinn von Euch, mit ihnen ohne einige Bewaffnete voranzureiten! Euch trifft die volle Verant…«

»Halt, halt, Vogt!«, unterbrach er ihn, wohl wissend, wie ungehalten der Vogt darauf reagieren würde. »Es ist alles ganz anders!«

»So?« Er musterte ihn skeptisch.

»Die beiden Fremden sind unschuldig!«, versicherte er. Ja, mittlerweile war er davon überzeugt. »Lucia di Fiume, die Hexe, hat den Diener umgebracht!«

»Wie?« Der Vogt schien ihm nicht zu glauben.

»Aus der Entfernung, durch schwarze Magie!«, führte er aus.

»Oh!«

»Das ist mir blitzartig aufgegangen, als wir an ihrem Anwesen vorüberritten. Deshalb bin ich umgekehrt. Ihr seid in Gefahr, in höchster Gefahr, solange Ihr das teuflische Büchlein bei Euch tragt!« Er stieg hastig aus dem Sattel. Jetzt galt es, das Schlimmste noch rechtzeitig zu verhindern. Und dafür gab es nur einen Weg! »Abgesessen und schnell ein Feuer angezündet!«, befahl er den Männern. »Wir müssen das Büchlein verbrennen.«

»Wie?« Der Vogt starrte ihn an, während die Männer ohne zu zögern dem Befehl des Hauptmanns folgten. Rasch suchten sie trockene Äste und entfachten ein Feuer.

»Jetzt, Vogt! Werft das Büchlein in die reinigenden Flammen!« Nur so würde der Fluch gebrochen werden können, dessen war er sich sicher.

»Ja!« Der Vogt stimmte ihm zu und zog das Büchlein hervor. »Du hast keine Gewalt über mich, Hexe! Da!« Er holte aus, um es ins Feuer zu werfen, doch es schien, als würde er es nicht loslassen können. Verwirrung glitt über sein Antlitz. »Was …?«

Der Hauptmann erschrak. Was ging hier vor? Warum warf der Vogt es nicht endlich ins Feuer? »Was ist mit Euch? Warum lasst Ihr das Büchlein nicht fallen?«

»Ich … ich kann nicht!« Er stöhnte gequält. »Und jetzt …« Sein rechter Arm war immer noch ausgestreckt. Er taumelte vorwärts. Ungelenk, als wäre es nicht sein Wille zu gehen. »Jetzt zieht mich das Büchlein mit unwiderstehlicher Gewalt fort!«

Voller Furcht traten die Männer zurück. Entsetzen stand in ihren Gesichtern.

Mit einem Sprung war der Vogt im Sattel, das Büchlein fest umklammernd. »Hilfe! Haltet mich! Haltet mein Pferd fest!«

Aber die Männer wichen vom Grauen gepackt noch weiter zurück; niemand wagte etwas zu unternehmen. Nur der treue Hauptmann versuchte in die Zügel zu greifen.

Vergebens!

Es war bereits zu spät.

Der Hauptmann fiel zu Boden. »Ah!«

Das Pferd preschte davon.

»Hilfe! – So helft mir doch!«

Hilflos mussten seine Gefolgsleute mit ansehen, wie der Vogt offenbar von Lucia di Fiume verhext worden war und nun unter ihrem Bann stand.

»Entsetzlich!«, raunte einer der Männer.

Der Hauptmann rappelte sich auf. »Aufgesessen!«, befahl er. »Ihm nach!«

Doch die Männer zögerten, indes er selbst sich schon auf sein Pferd geschwungen hatte. »Mit höllischen Mächten soll man sich nicht einlassen, Herr!«

Der Hauptmann war sprachlos. Noch nie hatten sie einen seiner Befehle in Frage gestellt oder sich gar geweigert, ihn auszuführen.

»Betet lieber mit uns, Hauptmann!«

Er schnaubte. »Wir können auch im Sattel beten! Wir dürfen den Vogt nicht im Stich lassen! Na los!«

Endlich lösten sich die Männer aus ihrer Starre und saßen auf. An der Spitze des Trupps nahm der Hauptmann die Verfolgung auf.

Kurz darauf entdeckten sie ein herrenloses Pferd, das mit hängendem Kopf dastand. Vom Vogt jedoch war weit und breit nichts zu sehen.

»Da ist sein Pferd!«

»Ja. Vogt! Um Himmels willen, wo seid Ihr?«

Er sah sich um. Nichts.

Nur Stille.

Angst überkam den Hauptmann. Hatte die Hexe am Ende doch noch gesiegt?

»Hört Ihr mich nicht?«, rief er. »Antwortet! Hallo!«

Sein Blick glitt über Felsen und Büsche.

Dann, endlich …

»Hilfe!«

Das war eindeutig die Stimme des Vogts!

Mit Entsetzen sah er in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war.

 

»Großer Gott!« Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Der Vogt war offenbar den Abhang hinuntergestürzt und klammerte sich nunmehr mit letzter Kraft an einem Busch fest. Unter ihm scharfkantige Felsen und das tosende Meer. Würde er den Halt verlieren, würde er wohl unweigerlich in den Tod stürzen. »Wie kommt Ihr dort hin, Vogt? Seid Ihr noch in der Gewalt der Hexe?«

»Nein, dem Himmel sei Dank! Mit äußerster Willensanstrengung gelang es mir, das Büchlein von mir zu schleudern. Dabei wurde ich von der Hexenkraft aus dem Sattel gerissen. Ich konnte mich an diesem Busch festhalten. Das Teufelsbuch ist ins Meer gefallen.«

»Gott sei Dank!« Nun mussten sie nur noch einen Weg finden, um den Vogt aus seiner misslichen Lage zu befreien. Der Hauptmann verlangte nach einem Seil und bekam kurz darauf das Gewünschte in die Hand gedrückt. Dann ließ er das eine Ende in die Tiefe hinab. »Bindet Euch das Seil um die Brust, Vogt! Wir ziehen Euch hoch!«

»Danke!«

»Wenn wir noch einen Beweis brauchten, dass diese Hexe schuld am Tode ihres Dieners ist, dann haben wir ihn vorhin bekommen!«

»Ja!«, stimmte der Vogt ihm zu, der endlich wieder festen Boden unter seinen Füßen hatte.

»Die beiden Fremden sind unschuldig! Jetzt seid Ihr doch auch davon überzeugt, nicht wahr, Vogt?«

»Ja! Diese Hexe! In ihrer abgrundtiefen Bosheit hätte sie uns beinahe dazu gebracht, zwei Ritter wie gemeine Straßenräuber aufzuknüpfen.« Er wirkte betroffen, fast beschämt. »Stellt Euch das nur vor, Hauptmann! Das wäre ein Skandal geworden!«

Der Hauptmann schloss kurz die Augen und presste die rechte Hand an die Schläfe. »Ich mag gar nicht daran denken, Vogt!«

Der Vogt nickte.

»Kommt! Wir treffen Ritter Falk und Ritter Bingo bei Graf Colleverde. Sie werden uns verstehen, wenn sie erfahren …« Er wandte sich zum Gehen.

Doch der Vogt legte ihm seine Rechte auf die Schulter und hielt ihn zurück. »Später, später, Hauptmann! Müssen wir nicht im Interesse der allgemeinen Sicherheit erst die Hexengefahr bannen? Wer weiß, was diese Braut des Teufels ausheckt, wenn sie merkt, dass sie ihr Büchlein trotz ihrer Künste verloren hat?«

Das war zugegebenermaßen ein gutes Argument. Und die beiden Ritter würden ihnen schon nicht weglaufen. »Ihr habt recht, Vogt! Wir müssen sofort zuschlagen. Was meint ihr?«, wandte er sich nunmehr an die wartenden Männer.

»Auf den Scheiterhaufen mit der Hexe!«

»Sie muss brennen, bevor sie uns etwas tun kann!«

»Ja!«

Nun, das war eindeutig.

»Einen Augenblick! Graf Colleverde wird sehr ungehalten sein, wenn wir ihn übergehen!« Das Argument des Vogts war nicht von der Hand zu weisen.

»Er kennt die Gefahr nicht!«, erwiderte einer der Männer. »Diese Hexe ist zu mächtig für einen Prozess.«

»So ist es!«, stimmte ein anderer zu.

»Das Anwesen liegt einsam. Wenn wir von der Waldseite kommen, sieht uns kein Mensch. Später wird jeder annehmen, es wäre ein himmlisches Strafgericht gewesen.« Der Vorschlag des Altgedienten fand allgemeine Zustimmung.

»Mir scheint, das ist eine gute Lösung, die Hexe unschädlich zu machen«, stimmte der Hauptmann zu. »Was meint Ihr, Vogt?«

»Ich bin einverstanden. Nur … niemand darf später etwas verraten!«, raunte er verschwörerisch.

»Natürlich, Vogt!«

DREI

Zur gleichen Zeit trafen Falk und Bingo am Anwesen von Lucia di Fiume ein und stiegen von ihren Pferden. Man schien sie bereits gesehen zu haben, denn ein Mann erwartete sie am Tor. Er trug eine abgetragene Kutte mit einem Strick als Gürtel. Sein Haar war weiß, und ein langer Bart in derselben Farbe dominierte sein von Furchen und Falten gezeichnetes Gesicht. Er lächelte, als die beiden auf ihn zukamen.

Falk übernahm das Wort und bat höflich darum, mit Lucia sprechen zu dürfen.

»Ich bin Ottavio di Fiume, Ihr Herren. Meine Enkelin Lucia sammelt gerade Heilkräuter.« Er deutete auf ein kleines Wäldchen. »Tja, außer unserem guten alten Namen, diesem Anwesen und einer schmalen Leibrente, die Graf Colleverde Lucia für die Verdienste meines Sohnes bezahlt, besitzen wir nichts.«

Falk hörte interessiert zu.

»Lucia hat von einer alten Zigeunerin gelernt, welche Kräuter Krankheiten heilen können. Sie braut Medizin daraus, die schon so manchem Leidenden geholfen hat.«

Bingo nickte.

»Tja, damit bessert sie die Rente etwas auf. Entschuldigt, Ihr Herren, ich bin ein schwatzhafter alter Mann. Ihr seid noch gar nicht zu Wort gekommen.« Er lächelte verlegen. »Warum wolltet Ihr meine Enkelin sprechen?«

Mit knappen Worten erzählten die Freunde, während sie zusammen auf das Haus zugingen, dem alten Mann, was sich zugetragen hatte. »Pietro ist tot? Oh Gott, das tut mir leid. Aber ich begreife nicht, was er dort in dem Gehöft wollte. Noch weniger begreife ich, warum er Lucias Lieblingsgedichte bei sich hatte. Und das andere ist völlig aus der Luft gegriffen.« Er klang entrüstet.

»Ihr meint den Pferdekauf?«, hakte Falk nach.

»Ja! Es ist mir ein Rätsel, wie der Vogt behaupten konnte, Pietro wäre von mir beauftragt worden, zwanzig Pferde zu kaufen.«

»Wegen Eurer … finanziellen Situation?«

»Zwanzig Pferde! Du lieber Himmel, dabei können wir uns nur einen Esel leisten.« Er lachte bitter auf.

»Hm.« Das war eine interessante Wendung. Warum hatte der Vogt offenbar gelogen? »Immerhin war Pietro Euer Diener!«

»Ja, aber nur, weil er ohne Lohn bei uns arbeitete.«

»Ohne Lohn?« Bingo glaubte sich verhört zu haben. Wer arbeitete denn ohne Lohn?

Da stimmt doch etwas nicht, fuhr es Falk durch den Kopf. »Wie lange war er bei Euch?«

»Knapp eine Woche!«

»Oh!«, entfuhr es Bingo.

»Hm.« Falk dachte nach. Eine Woche. Das war nun wirklich nicht lange.

»Nun, Ritter, sagt mir bitte …«

»Eure Enkelin ist in Gefahr!«, unterbrach Falk ihn. »Der Stadthauptmann hält sie für eine Hexe!«

Bis ins Mark erschrocken erbleichte der alte Mann. »Ah! Dann sind wir verloren!«, keuchte er.

»Wird Graf Colleverde Eure Enkelin nicht schützen?«

»Graf Colleverde? Nein! Seit der Vogt bei ihm ist, sieht er überall nur noch Hexen und Hexenmeister! Lucia muss fliehen! Beschützt sie! Ich bitte Euch!« Flehend legte er Falk seine faltigen und von Altersflecken übersäten Hände gegen die Brust. »Bringt sie außer Landes. Ich …«

»Hilfe!«

Ein Schrei drang an ihre Ohren.

»Hilfe!«

»Lucia! Das ist Lucia!« Der Alte setzte sich in Bewegung.

Falk folgte ihm auf dem Fuße. »Schnell, Bingo!«

»Lucia!«, rief der Alte. »Ich komme!«

»Bingo!« Falk drängte erneut zur Eile.

Doch statt ihm zu folgen, rannte Bingo zu seinem Pferd.

»Wo bleibst du denn?«

Mit Falks Pferd im Schlepptau holte er ihn kurz darauf ein. »Ich komme schon! Spring auf, Falk!«

»Oh! Sieh an, du hast ja manchmal sogar einen guten Einfall!« Behände zog Falk sich in den Sattel.

»Das sogar will ich überhört haben!«

»Hilfe!« Ein erneuter Schrei. Sie mussten sich sputen.

»Der Ruf kam von dort drüben!« Bingo deutete in die entsprechende Richtung.

»Galopp, Donner!«

»Hilfe! Ah!«

»Wir kommen, Fräulein Lucia!«

Sie folgten den Rufen in den Wald hinein. Hohe Bäume ragten zu ihrer Linken und Rechten auf. Verschluckten das Sonnenlicht. Der bemooste Boden dämpfte die Klänge des Hufschlags.

»Sie haben mir den Weg abgeschnitten. Ich bin verloren!« Ihre Stimme wurde leiser, verzweifelter.

»Bleibt stehen!«, wies Falk sie an. »Wir sind Freunde.«

Er sah eine junge Frau mit langen blonden Haaren in einem einfachen Kleid davonlaufen.

»So hört doch!«, beschwor er sie. »Wir wollen Euch helfen!«

Endlich blieb sie stehen, lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum, als brauche sie den Halt. Furchtsam und eingeschüchtert sah sie ihn mit großen Augen an. »Ist … ist das wahr? Ich kenne Euch nicht!«

»Dies ist Ritter Bingo della Rocca«, stellte Falk seinen Freund und treuen Begleiter vor. »Und ich bin Ritter Falk von Steinfeld.« Er versuchte beruhigend zu lächeln, um ihr die Angst zu nehmen. »Wer bedroht Euch? Warum habt Ihr um Hilfe gerufen?«

»D… Da! Der Vogt und seine Männer! Sie wollen mich umbringen!«

Und tatsächlich, da waren sie auch schon!

»Ritter Falk und Ritter Bingo! Ihr solltet umgehend zu Graf Colleverde reiten und Euch dort zur Verfügung stellen!« Der Hauptmann klang halb überrascht, halb vorwurfsvoll. »Was habt Ihr hier zu suchen?«

»Das fragt Ihr noch, Hauptmann?« Der Vogt schien verärgert. »Das ist doch offensichtlich! Sie wollten die Hexe warnen.«

»Was?«, murmelte Bingo. Das war ein ungeheuerlicher Vorwurf.

»Wir sind ihnen nur zuvorgekommen, weil wir uns dem Anwesen von der Waldseite genähert haben. Der Zufall wollte es, dass die Hexe im Wald war, um Beeren und Kräuter für ihre Teufelstränke zu sammeln.«

»Unsinn!«, widersprach Falk ungehalten. »Fräulein Lucia bereitet Heiltränke aus den Beeren und Kräutern zu. Ihr Großvater hat uns unterrichtet.«

»Ha, ha, ha, Ihr Narren!«, spottete der Vogt abfällig. »Der Alte steckt doch mit der Hexe unter einer Decke!«, behauptete er.

»Wenn Ihr mich umbringen wollt, damit Graf Colleverde die Rente spart, die er mir bezahlen muss, dann tut es! Aber verschont meinen Großvater! Bitte!« Flehentlich faltete sie ihre zierlichen Hände.

Was für eine ungewöhnlich tapfere Frau, dachte Falk und zollte ihr insgeheim Respekt.

»He, he, die Hexe bittet!« Triumphierend lachte der Vogt. Er schien sich des Sieges ziemlich sicher und sah abschätzend auf sie herab.

»Genug mit dem widerwärtigen Unsinn!« Falk reichte es. Entschlossen ging er dazwischen. »Ich dulde es nicht, dass Fräulein Lucia als Hexe bezeichnet wird! Sie steht unter meinem Schutz!« Und nichts und niemand würde daran etwas ändern.

»Oho!« Der Vogt starrte ihn mit vor Wut verzerrtem Gesicht an.

»Nun hört gut zu, Ritter Falk und Ritter Bingo!«, intervenierte der Hauptmann. »Es ist erwiesen, dass Lucia di Fiume eine Hexe ist!«

Da war Falk anderer Meinung, schwieg aber vorerst und ließ den Hauptmann weiterreden.

»Wir wollten das Büchlein verbrennen. Da geschah etwas Entsetzliches!«

»Und was?« Skeptisch zog Falk die Augenbrauen hoch.

»Der Vogt war außerstande, das Büchlein ins Feuer zu werfen. Es klebte sozusagen an seinen Fingern! Und plötzlich wurde der Vogt von dem Büchlein davongerissen.«

»Wie?« Falk verstand nicht, und auch Bingo sah ratlos aus. Wovon sprach der Hauptmann da gerade?

»Er sträubte sich und schrie um Hilfe, aber es half alles nichts. Er musste auf sein Pferd springen und davongaloppieren. Wenig später fanden wir den Vogt. Er hing an einem Busch in der Steilwand über dem Meer. Es war ihm gelungen, das Büchlein hinabzuwerfen, aber es hatte ihn aus dem Sattel gerissen! Was sagt Ihr nun?«

Falk musste sich zurückhalten. Was sollte er dazu sagen? Glaubte der Hauptmann tatsächlich an seine eigenen Worte, die so unglaublich klangen, dass Falk gelacht hätte, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre? Er hatte ihn eigentlich für einen vernünftigen Menschen gehalten. »Ich habe nie in meinem Leben einen größeren Unsinn gehört!«

»Das kann man wohl sagen!«, stimmte Bingo zu. »Wenn Dummheit schlecht röche, wären wir vor Gestank schon ohnmächtig aus dem Sattel gesunken!«

Falk beharrte auf seinem Standpunkt. »Dem Vogt scheint sehr viel an dem Büchlein zu liegen. Er wollte es unter allen Umständen vor den Flammen retten. Er hat Eure bodenlose Dummheit ausgenutzt und Euch etwas vorgespielt!«, warf er dem Hauptmann vor. Dann wandte er sich an den Vogt. »Mein Kompliment, Vogt, Ihr seid nicht auf den Kopf gefallen.«

»Ich gehe auf Euer Gewäsch nicht ein! Bleibt Ihr dabei, dass Ihr die Hexe in Schutz nehmt? Antwortet!«, forderte er barsch.

»Selbstverständlich!« Falk reckte sein Kinn empor.

Der Hauptmann sah zwischen den beiden hin und her. »Hm …«

»Der Hauptmann und ich beraten uns einen Augenblick! Haltet sie in Schach, Männer!«

»Zu Befehl, Vogt!«

*

Während die Bewaffneten die beiden Ritter im Auge behielten, ritten der Hauptmann und der Vogt ein Stück zur Seite, um sich in Ruhe zu unterhalten.

»Was nun, Vogt? Wir müssen unseren ursprünglichen Plan aufgeben! Vielleicht wäre es besser, die Hexe in Ruhe zu lassen.«

 

»Wie?« Der Vogt schien da anderer Ansicht zu sein. »Seid Ihr von Sinnen, Hauptmann? Diese gefährliche Höllenbrut muss unschädlich gemacht werden, sonst Gnade uns allen Gott!«

»Ja, aber sie ist doch jetzt gewarnt! Wir können es nicht mit ihr aufnehmen! Sie wird all ihre höllischen Künste gegen uns aufbieten. Wir …«

»Noch ist sie schwach, Hauptmann! Das müssen wir ausnutzen! Der Zauberbann, in den sie das teuflische Büchlein gehüllt hatte, das Gott sei Dank nun auf dem Meeresgrund ruht, ist ein schweres Zauberwerk gewesen. Es wird eine Weile dauern, bis die Hexe wieder über die Kraft verfügt, um mit der Hölle in Verbindung zu treten.«

»Ihr glaubt …«

»Aber sicher!«, unterbrach er ihn. »Überlegt doch selbst! Wäre die Hexe jetzt im Vollbesitz ihrer satanischen Kräfte, wären wir nicht mehr am Leben.«

Er dachte nach, krauste die Stirn. »Großer Himmel!« Erst jetzt schien dem Hauptmann das tatsächliche Ausmaß klar zu werden. »Ihr habt recht! Wir müssen schnell handeln! Aber die beiden fremden Ritter …«

»Da sie eine Hexe in Schutz nehmen, stellen sie sich außerhalb des Gesetzes. Sie werden mit ihr in den Flammen umkommen!« Ein diabolisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.

»Gut!«

*

Falk und Bingo warteten währenddessen ungeduldig auf die Rückkehr der beiden. Ihnen war bewusst, wie ernst die Lage war. Dass erneut ihre Leben in Gefahr waren. Und auch das von Lucia.

Endlich sah Falk die beiden Männer zurückkommen. Doch ihre Mienen verhießen nichts Gutes.

Falk spannte sich an und warf Bingo einen vielsagenden Blick zu.

Bingo nickte verstehend; Worte waren zwischen ihnen nicht nötig. Sie kannten sich inzwischen gut genug.

»Nun, Vogt?« Erwartungsvoll sah Falk ihn an.

»Überwältigt sie, Männer!«, befahl dieser.

Damit hatte Falk gerechnet. »So haben wir nicht gewettet! Da!«

Er schlug dem Kerl vor ihm die Faust ins Gesicht.

»Ah!«

Bingo folgte seinem Beispiel, nahm sich denjenigen vor, der ihm am nächsten war und gerade auf ihn losgehen wollte. »Zurück, Kerl!«

Ehe die Männer ihrer habhaft werden konnten, hob Falk Lucia vor sich in den Sattel. »Kommt! Wir verschanzen uns im Haus!« Mit der jungen Frau vor sich preschte er los.

Bingo folgte ihm. »Macht Platz da, Kerle! Lasst uns durch!«

Doch kaum hatten sie sich ein Stück von den Angreifern entfernt, zog Bingo sein Pferd herum und schlug eine andere Richtung ein. »Halte aus, Falk! Ich reite zu Graf Colleverde! Er wird für Gerechtigkeit sorgen!«

Zuerst war Falk überrascht, dann nickte er schließlich. »Einverstanden!«

»Ihnen nach!« Der Befehl des Vogts hallte durch den Wald. »Gianni, Berto, benutzt eure Schleudern!«

»Aber … er ist ein Ritter!«

»Kein Aber! Wollt ihr, dass die Hexe Zeit gewinnt, um höllische Kräfte zu sammeln? Wollt ihr, dass sie uns alle in Molche oder Schlimmeres verwandelt?« Ja, er nutzte ihre Angst, um ihre Loyalität wiederzubekommen.

»N… nein!«

»Dann schleudert eure Bleikugeln!«

Augenblicke später spürte Falk einen scharfen Schmerz an seinem Kopf. Eine der Kugeln musste ihn getroffen haben! Er kämpfte gegen die aufkommende Dunkelheit – doch vergebens. Das Aufschlagen seines Körpers auf den Boden spürte er schon nicht mehr.

Lucia schrie erschrocken auf, als sie mit Falk aus dem Sattel stürzte.

»Der Fettwanst darf auch nicht entkommen! Ihr vier reitet ihm nach!« Der Vogt deutete in die Richtung, in die Bingo geritten war. Dann stieg er neben dem bewusstlosen Falk und der neben diesem liegenden Lucia ab. »Schnell, Männer, fesselt die Hexe und Ritter Falk, bevor sie wieder zu sich kommen!«

»Lucia!« Aufgeregt kam Ottavio di Fiume angelaufen. Er hatte das Geschehen aus nächster Nähe beobachtet und wollte natürlich zu ihr.

Doch einer der Männer schlug ihn so hart, dass er hinfiel. »Hände weg, alter Hexenmeister!«

Stöhnend blieb er liegen und hielt sich die Hand vor das Gesicht. »Ich … ich werde mich bei Graf Colleverde beschweren!«, murmelte er.

»Du kannst dich beim Teufel beschweren!«, erwiderte der Kerl ungerührt.

*

Inzwischen hatte Bingo sich dem Meer genähert. Tiefblau lag es ruhig vor ihm. Es wirkte nahezu idyllisch.

Falks Vorsprung war groß genug. Bestimmt ist es ihm gelungen, sich mit Lucia und ihrem Großvater im Haus zu verbarrikadieren, dachte er. Hoffte er.

Bei einem Blick über die Schulter musste er feststellen, dass man ihn verfolgte.

»Oh!« Das war gar nicht gut.

Der kleine Trupp kam rasch näher und holte bedrohlich auf. Die Kerle waren wirklich hartnäckig, das musste er ihnen lassen.

Er drückte seinem Pferd die Hacken in die Flanke, sah sich erneut kurz um.

Verdammt! Der eine hat eine Schleuder!

Er duckte sich gerade noch rechtzeitig; hörte das Sirren der Kugel nah an ihm vorbei. Sie verfehlte ihn um Haaresbreite, traf dafür sein Pferd am Kopf.

Das Tier wieherte schmerzvoll, kam ins Straucheln und stürzte. Obwohl Bingo sich krampfhaft festhielt, konnte er nicht verhindern, dass er aus dem Sattel geschleudert wurde.

»Schnell, Leute!«, hörte er einen der Verfolger. »Er rollt über die Kante!«

Die Kante? Welche Kante?, dachte er und spürte auch schon, wie er fiel.

»Junge, Junge, um den brauchen wir uns nicht mehr zu kümmern!«, war das Letzte, was er hörte, ehe er im kalten Wasser untertauchte. Für einen Moment raubte es ihm den Atem, und er glaubte, dass sein Herz stehen blieb. Doch dann kam er wieder an die Oberfläche, hustete und spuckte einen Schwall Wasser aus.

Zu seinem Bedauern waren die Kerle immer noch da. Offenbar hatten sie sichergehen wollen, dass er tot war.

»Oh!«

»Er taucht wieder auf!«

»Ja. Schnell, werft mit Felsblöcken nach ihm!«

Ehe Bingo reagieren konnte, fielen auch schon die ersten Steine ins Wasser und verfehlten ihn nur knapp. »Allmächtiger!«, entfuhr es ihm. Dann holte er tief Luft und tauchte unter.

»Werft noch mehr Felsblöcke!«

»Na schön! Aber der dicke Ritter taucht bestimmt nicht wieder auf!«

Ein regelrechter Regen ging auf Bingo nieder, und er hatte alle Mühe, den Steinen auszuweichen.

»Na, jetzt reicht es aber!«

»Seht! Da treibt sein Barett, das ist alles, was von ihm übrig geblieben ist!«

»He, he, he!«

Die Männer wandten sich von der Steilwand ab.

»Was ist mit seinem Pferd?«

»Es hat nur eine Beule, sonst fehlt ihm nichts. Es ist ein schönes Tier.« Er streichelte ihm über den Hals. »Ich schätze, der Vogt wird es für sich behalten.«

»Soll er«, meinte ein Dritter. »Wir teilen uns das Geld aus der Satteltasche, bevor wir zurückgehen!«

»He, he!« Der vierte Kerl lachte verschlagen. »Wir sagen einfach, die Satteltasche sei mit dem dicken Ritter ins Meer gefallen!«

Gierig teilten sie auf dem Boden sitzend die Beute unter sich auf. »So, das wär‘s! Wirf die Satteltasche des dicken Ritters ins Wasser. Wir reiten zurück!«

»Das hat sich gelohnt!« Der Beutel in seiner Hand wog schwer. Was er sich davon alles würde leisten können!

»Ja.« Er warf die nunmehr leere Tasche über die Klippe in die Tiefe.

*

Irgendetwas klatschte neben Bingo auf die Wasseroberfläche. Als er den Kopf wandte, sah er, dass es die Satteltasche war. Und so, wie sie aussah, war sie leer.

Diese Teufel!, dachte Bingo, der sich unter einem Felsvorsprung versteckt hatte. Wenn ich nicht rechtzeitig weggetaucht wäre, hätten sie mich mit ihren Felsbrocken erschlagen! Nicht genug damit, dass ich, der herrliche, einmalige, großartige Bingo della Rocca, mich wie eine Wasserratte vor einer Meute von Hunden verstecken muss, nein, ich werde auch noch ausgeplündert!

Er wartete noch eine Weile. Lauschte. Doch außer dem Schlagen der Wellen ans Ufer und fernem Vogelschrei vernahm er nichts.

Hm, sie scheinen fortgeritten zu sein. Hoffentlich irre ich mich nicht!

An einem weniger steilen Abschnitt kletterte er hoch, nachdem er sein Barett aus dem Wasser gefischt hatte. Als er wenig später über die Kante spähte, erblickte er – nichts.

Mein Pferd haben sie natürlich mitgenommen! Diese Bastarde!

Er setzte sich und dachte nach, während seine Kleider langsam begannen zu trocken.

Junge, Junge, bis ich zu Fuß auf der Burg des Grafen angelangt bin und mit Hilfe zurückkehren kann … Nein, das hat keinen Sinn!

Er sprang auf und gestikulierte wild.

Mit mir rechnet niemand! He, he, aber der herrliche Bingo della Rocca ist ein gewaltiger Held, besonders, wenn er überraschend zuschlägt.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?